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Klassifizierung der somatoformen Störungen: Vergangenheit und Zukunft
Nach der neuen «psychosomatischen» Diagnose «Somatische Belastungsstörung» bekommt die körperliche Beschwerde mehr Gewicht. Dieser Artikel lädt dazu ein, den Patienten und den Menschen ganzheitlich mit Seele und Körper zu betrachten. In der heutigen Leistungsgesellschaft ist dieses Verständnis essenziell, da es unmittelbar den Zusammenhang zwischen Stress, Überforderung und den körperlichen Auswirkungen und Beschwerden zeigt.
Beatrice Geml
von Beatrice Geml
Einleitung
E rlebt ein Patient anhaltende oder häufig wiederkehrende Körperbeschwerden, die er subjektiv als beeinträchtigend erlebt und für welche keine ausreichende kausal organpathologische Erklärung gefunden werden kann, sprechen wir von sogenannten somatoformen Störungen. Für das Gesundheitssystem sind die Betroffenen eine grosse Herausforderung, da Diagnostik und Behandlung meist sehr kostenintensiv sind. Einerseits sind die Patienten oft unbeirrbar von einer körperlichen Ursache ihrer Beschwerden überzeugt, sodass sie sich zahlreicher somatischer Untersuchungen und Therapien unterziehen. Andererseits sind sie erfahrungsgemäss nicht zugänglich für eine integrierte psychosomatische Betrachtungsweise, was den Aufbau einer tragfähigen Arzt-Patienten-Beziehung erschwert und oft zu Therapieabbrüchen, Arztwechseln und dem Phänomen des «doctor hoppings» führt, da sie sich nicht ernst genommen und verstanden fühlen und ein Gefühl der Stigmatisierung bei diesen Patienten mitschwingt. Dies führt zu langwierigen Verläufen und durch wiederholt erlebte Enttäuschung zu Hoffnungslosigkeit, welche wiederum zur Erhaltung respektive Persistenz oder Verschlechterung der Beschwerden beiträgt.
Klassifizierung Aufgrund häufiger Kritik an der Klassifikation somatoformer Störungen und der Somatisierungsstörung nach ICD-10 (5) und DSM-IV (6), wurde diese Kategorie im DSM-5 grundlegend revidiert (Kasten 1). Während den Diagnosekategorien somatoformer Störungen im DSM-IV ein eigenes Hauptkapitel zukam, bilden sie im
ICD-10 ein Unterkapitel (F45) im Hauptkapitel F4 der «Neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen».
Beispielhaft wird die Somatisierungsstörung ICD-10 F45.0 vorgestellt: Mindestens zwei Jahre anhaltende multiple körperliche Beschwerden in unterschiedlichen Organbereichen, für die kein ausreichendes organisches Korrelat gefunden wurde. Die Betroffenen weigern sich, den mehrfach geäusserten Rat, dass keine organische Ursache zugrunde liege, anzunehmen. Es müssen mindestens 6 aus einer Liste von 14 verschiedenen Symptomen vorliegen, die mindestens 2 unterschiedlichen Symptomgruppen untergeordnet werden können: gastrointestinale, kardiovaskuläre und urogenitale Beschwerden, Haut- und Schmerzsymptome. Frauen sind häufiger betroffen. Der Beginn liegt meist vor dem 30. Lebensjahr (26).
Funktionelle Syndrome Im weitesten Sinne zählen auch die funktionellen Syndrome zu den somatoformen Störungen. Sie finden heute nicht mehr explizit Erwähnung im ICD-10, können jedoch einer der Diagnosen der somatoformen Störung zugeordnet werden. Als Beispiel kann das Fibromyalgiesyndrom der anhaltenden Schmerzstörung (aus der Kategorie der somatoformen Störungen) oder aber den Krankheiten des Weichteilgewebes (Kapitel der Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems, ICD-10 M79.70) zugeordnet werden (23). Weitere funktionelle Syndrome sind das chronische Erschöpfungssyndrom, das Reizdarmsyndrom, die multiple chemische Sensitivität, die Non-Ulcer-Dyspepsie, das prämenstruelle Syndrom, der Spannungskopfschmerz, das Hyperventilationssyndrom, Schwindel, Tinnitus und Insomnie.
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Kasten 1:
Kriterien für die somatische Belastungsstörung nach DSM-5
Somatische Belastungsstörung (Definition) «Somatic Symptom Disorder, SSD» (24) DSM-5 («Diagnostisches und Statistisches Manual für Psychische Störungen», 5. Auflage) Für die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 müssen die Kriterien A, B (mindestens 1von 3 psychologischen Dimensionen) und C erfüllt sein:
Kriterium A: Somatische(s) Symptom(e) ● Es bestehen eines oder mehrere somatische Symptome, die belastend sind oder
zu erheblichen Einschränkungen des Alltagslebens führen.
Kriterium B: Psychologische Merkmale, bezogen auf körperliche(s) Symptom(e) ● Es zeigen sich exzessive Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen, die sich auf
die somatischen Symptome oder damit einhergehende Gesundheitssorgen beziehen. Eines der folgenden Merkmale ist erfüllt: a. Übertriebene und anhaltende Gedanken über die Ernsthaftigkeit der vor-
liegenden Symptome (kognitive Dimension). b. Anhaltende stark ausgeprägte Ängste, bezogen auf die Gesundheit oder
die Symptome (emotionale Dimension). c. Exzessiver Aufwand an Zeit und Energie, die für die Symptome oder Ge-
sundheitssorgen aufgebracht werden (Verhaltensdimension).
Kriterium C: Symptombelastung ist persistierend (länger als 6 Monate)
Nach Definition von Uexküll (23) hat der Begriff «funktionell» zwei Bedeutungen: Er besagt, dass das Leiden nicht zu organisch diagnostizierbaren Veränderungen geführt hat, sondern Ausdruck einer Funktionsstörung ist. Zudem beinhaltet «funktionell», dass das Leiden für den Patienten eine Funktion hat, im Sinne eines (unzureichenden) Lösungsversuches.
Änderungen von DSM-IV zu DSM-5 und Ausblick auf ICD-11 Ehemals somatoforme und vorgetäuschte Störungen und psychologische Faktoren, die einen medizinischen Krankheitsfaktor beeinflussen (in DSM-IV «Andere Klinisch Relevante Probleme»), sind innerhalb des DSM-5 vorwiegend im Kapitel «Somatic Symptom and Related Disorders» zu finden. Die undifferenzierte somatoforme Störung und die Schmerzstörung wurden als eigenständige Diagnose gestrichen. Zudem sind die Somatisierungsstörung und die Hypochondrie in der alten Form nicht mehr bestehend. Die körperdysmorphe Störung reiht sich in das Kapitel der Zwangsstörungen und verwandten Störungen ein. Anstelle der Somatisierungsstörung führt das DSM-5 eine «Somatic Symptom Disorder» auf (bis anhin «Somatoforme Störung») mit deutscher Übersetzung «Somatische Belastungsstörung». Hierfür genügt das Vorhandensein eines oder mehrerer belastender oder beeinträchtigender körperlicher Symptome. Es entfallen: die Vorgabe mehrerer Symptome aus unterschiedlichen Bereichen und die Vorgabe der mehrjährigen Vorgeschichte körperlicher Beschwerden mit Beginn vor dem 30. Lebensjahr sowie die Einschränkung, dass die Symptome nicht medizinisch begründbar und nicht vorgetäuscht sind. Es gibt ein ergänzendes Kriterium zu übertriebenen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen, die mit Symptomen oder Gesundheitssorgen verbunden sind. Es kann eine Einschätzung des Schweregrades durch Zusatzkodie-
rung vorgenommen werden, als Basis dienen psychologische und körperliche Beschwerden. Bei einer Krankheitsdauer über sechs Monate kann der Zusatz «persistierend» gegeben werden (1). Die Hypochondrie ist unter der Krankheitsangststörung zu finden und setzt die Abwesenheit somatischer Symptome voraus. Bei körperlichen Symptomen ist nach DSM-5 eine «Somatic Symptom Disorder» (bis anhin «Somatoforme Störung») gegeben (1). Im ICD-11 wird die Diagnose «Bodily Distress Syndrome» genannt, in Anlehnung an DSM-5 wird sie ähnliche Kriterien beinhalten (1). Bei der neuen Diagnose ist die oft stigmatisierende Unterscheidung zwischen somatoform und organisch hinfällig (11). Studien haben gezeigt, dass Einschätzungen, ob körperliche Symptome somatisch erklärbar sind oder nicht, unzuverlässig sind. Das Leid respektive der Stress durch die körperlichen Symptome verursachen hohe Gesundheitskosten, dies unabhängig von der Ursache. Deshalb wird die neue Diagnose unabhängig von der Ursache gestellt (10). Im DSM-IV war die Abwesenheit von medizinischen Ursachen für körperliche Symptome hingegen ein zentraler Aspekt in der Diagnostik der somatoformen Störung. Im DSM-5 wurde dieser Aspekt kritisch hinterfragt, da es problematisch erschien, eine Diagnose auf die Abwesenheit einer Erklärung zu stützen, und damit ein Körper-SeeleDualismus impliziert war (23). Das DSM-5 soll die Komplexität des Zusammenspiels von psychischen Erkrankungen und Medizin besser berücksichtigen als die alten Klassifikationssysteme. Die Beziehung von somatischen Beschwerden und Psychopathologie wird hier eher kontinuierlich verstanden. Daher ist die Anzahl von körperlichen Symptomen für die Klassifikation der Störung auch unwichtig. Für die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung ist entscheidend, ob die Patienten dysfunktionale Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zeigen oder davon berichten. Die Diagnose «Somatische Belastungsstörung» wird dann gegeben, wenn zusätzlich zu den körperlichen Symptomen die Positivkriterien wie dysfunktionale Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen bestehen. Sie kann aber auch dann gegeben werden, wenn diagnostizierte medizinische Störungen bestehen (23).
Prävalenz Es finden sich unterschiedliche Prävalenzen für somatoforme Störungen und medizinisch nicht erklärbare Symptome. Die Angaben schwanken enorm, je nachdem, ob sich die Prävalenz auf die Allgemeinbevölkerung, auf die Primärversorgung oder stationäre Einrichtungen bezieht oder welches Klassifikationssystem zur Diagnose herangezogen wird. Zudem schwankt die Prävalenz in Abhängigkeit von der Spezialisierung der behandelnden Einrichtung (2, 4). In der westlichen Welt leiden bis zu 95 Prozent der Allgemeinbevölkerung unter zumindest einer Körperbeschwerde pro Woche, die meist milder Ausprägung und von kurzer Dauer ist (12). Nicht all diese Beschwerden lassen sich klar einer organischen Genese zuordnen und sind somit als somatoform anzusehen (7). Schmerzbeschwerden stellen den grössten Symptomcluster unter den Körperbeschwerden dar, die nicht ausreichend erklärbar sind. Bei einer repräsentativen Stichprobe in Deutschland fanden sich somatoforme Schmerzen bei 19,5 Prozent der Bevölke-
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rung im Kopf oder Gesicht und bei 30,2 Prozent im Rücken (13). Es scheint auch eine hohe Komorbidität der somatoformen Beschwerden mit anderen psychischen Störungen zu geben (14–17). Zahlreiche Studien zeigen eine hohe Komorbidität zwischen depressiven und Angststörungen und somatoformen Beschwerden (18–20). Der Anteil der Patienten mit somatoformen Symptomen, welche auch an einer Depression oder Angststörung leiden, liegt zwischen 30 und 70 Prozent (3).
Ätiologie Ein einheitliches ätiologisches Konzept fehlt. Viele Autoren sehen die somatoforme Störung vor dem Hintergrund eines biopsychosozialen Modells. Genetische Faktoren, erlernte Verhaltensweisen bezüglich Krankheit in der Familie, eine veränderte zentrale Stressverarbeitung, aktuell belastende Lebensereignisse, primärer und sekundärer Krankheitsgewinn, Persönlichkeitsfaktoren und verschiedene Bindungsstile (8) sowie Dysbalance zwischen Schutz- und Risikofaktoren in der Kindheit (21) sind die häufigsten Auslöser.
Eine Reihe spezifischer ätiologischer Faktoren liegt vor, die empirisch aber nicht gut belegt sind. Dabei lassen sich individuelle, interaktionelle und soziokulturelle Faktoren unterscheiden. Individuelle Faktoren G Traumatisierung in Form von körperlichen Miss-
handlungen oder sexuellen Übergriffen G Somatoforme Beschwerden in der Familie und in der
eigenen Kindheit G Alexithymie (Unfähigkeit, Gefühle zu erkennen und
zu benennen) G Bindungsstörungen oder Grundkonflikte. Interpersonelle Faktoren G Übertherapie und Überdiagnostik von Ärzten, wel-
che psychische Beschwerden nicht erkennen. Soziokulturelle Faktoren G Kampf um Legitimität nicht legitimer Beschwerden
(26).
Diagnostik und Therapie Am Anfang steht eine vollständige Anamneseerhebung unter Einbezug der bereits durchgeführten Untersuchungen sowie eine sorgfältige körperlich-neurologische Untersuchung. In dieser Phase sind psychologisierende Erklärungsversuche zu vermeiden, da sie zu verstärkter Abwehr führen (9). Die vorgetragenen Symptome sind ernst zu nehmen, auch wenn die Untersuchungen kein somatisches Korrelat hervorbringen. Gleichzeitig ist darauf aufmerksam zu machen, dass körperliche Beschwerden auch Ausdruck von Stress und Überforderung bedeuten können und es daher wichtig ist, neben dem Ausschluss einer organischen Erkrankung auch psychische Belastungen in die Diagnostik miteinzubeziehen. Eine weiterführende Diagnostik sollte in Abhängigkeit und Abwägung der Symptome erfolgen. Das oft ausschliesslich auf somatische Ursachen ausgerichtete Krankheitsverständnis der Patienten erschwert oftmals die rechtzeitige Überweisung zu psychiatrischen/psychosomatischen Kollegen. Die negativen Untersuchungen führen häufig zu Einbussen bei Glaubwürdigkeit und Qualität, sodass Zweitmeinungen, Behandlungsabbrüche, Arztwechsel und belastende
Kasten 2:
Behandlung somatoformer Störungen
(schul- und komplementärmedizinisch, inhaltlich teilweise aus [9, 26, 27])
● Psychoedukation: vor allem Reduktion des Fokus auf körperliche Symptome und Schmerzen, Zuwendung hin zu einem funktionalen, positiven, psychosomatischen Erklärungsmodell.
● Kognitive Verhaltenstherapie und psychodynamische Interventionen oder andere Psychotherapieverfahren.
● Entspannungsverfahren und meditative Verfahren: progressive Muskelentspannung (PMR), Achtsamkeit, Hypnose, autogenes Training.
● Funktionelle und körpertherapeutische wie komplementärmedizinische Behandlung: Bewegungs- und Körpertherapie, Feldenkrais, Shiatsu, Kraniosakraltherapie, Massage, Physiotherapie, TCM.
● Reduktion von Stress und Überforderung. ● Soziales Kompetenz- und Emotionstraining. ● Pharmakotherapie, vor allem bei hohem Leidensdruck und Komorbiditäten wie
zum Beispiel Angst und Depression. ● Einbezug des Sozialdienstes. ● Integration des gesamten Systems, das heisst Partner, Familie, Arbeitgeber usw.
Bei leichten Verläufen: Erarbeiten eines biopsychosozialen Erklärungsmodells, körperliche/soziale Aktivierung.
Bei schweren Verläufen: Kooperatives/koordiniertes Vorgehen mit regelmässigen/ beschwerdeunabhängigen Terminen, gestufter Aktivierung und Psychotherapie (v.a. kognitiv-behaviorale, psychodynamisch-interpersonelle und hypnotherapeutische/imaginative Ansätze).
Innerhalb des Gesamtbehandlungsplans bis zu multimodaler Therapie können körperorientierte/nonverbale und Entspannungsverfahren sowie befristete Medikation sinnvoll sein, ebenso wie die Überprüfung der Indikation eines stationären Aufenthalts bei mangelnden oder ausgeschöpften ambulanten Behandlungsoptionen.
Wiederholungsuntersuchungen und nicht zuletzt auch invasivere Untersuchungen und Methoden erfolgen, welche gesamthaft im Gesundheitssystem unnötige Kosten erzeugen (27) (Kasten 2).
Konsequenzen für die Praxis Die Anerkennung der beschriebenen Beschwerden – unabhängig von der Genese – ist zentral (Beitrag zur Entstigmatisierung). Das Krankheitskonzept des Patienten ist zu akzeptieren. Behandlungsziele sollten miteinander vereinbart werden, wobei nicht die Symptomfreiheit, sondern die Reduktion der Beschwerden durch einen neu erlernten Umgang ein Ziel darstellen sollte. Dem Patienten ist glaubhaft zu versichern, dass keine lebensbedrohliche akute Erkrankung vorliegt. Ein Emotionstraining kann empfohlen werden, beispielsweise um der Alexithymie entgegenzuwirken. Der Patient soll trotz Beschwerden seine Alltagsaufgaben wahrnehmen und aktiv sein. Die Suche nach somatischen Ursachen ist zu beenden, und beschämende Interventionen sind zu vermeiden. Die frühzeitige Information über Zusammenhänge zwischen Symptomen, Emotionen und der psychosozialen Ebene ist ein weiteres zentrales Element (27). Der Patient soll lernen, mit dem Symptom/Schmerz umzugehen und sich nicht vom Schmerz überwältigen
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zu lassen. Ganz im Sinne von «Nicht ich bin der Schmerz». Dadurch steht das Symptom weniger im Fokus und es besteht die Chance, dass es geringer respektive weniger wahrgenommen wird. Wichtig ist auch die Ausarbeitung von Ressourcen und die Förderung von Resilienz. Psychiatrische Komorbiditäten sind zu behandeln, da diese mit einem erhöhten Risiko hinsichtlich einer Chronifizierung der körperlichen Beschwerden verbunden sind (22). Da Jugendliche mit somatoformen Störungen wesentlich häufiger an psychiatrischen Erkrankungen, insbesondere Angst und Depression, leiden, gilt es, nochmals die grosse Bedeutung der frühzeitigen Erkennung bereits im Kindes- und Jugendalter zu unterstreichen. Somit kann der Chronifizierung und der Entwicklung weiterer psychiatrischer Erkrankungen entgegengewirkt werden. Zudem wird ein präventiver Beitrag geleistet (9). Nach der neuen «psychosomatischen» Diagnose «Somatische Belastungsstörung» erhält die körperliche Beschwerde mehr Gewicht. Diese grundlegend neue Nosologie bietet dem Grundversorger die Möglichkeit, Patienten mit psychosomatischen Bedürfnissen rechtzeitig zu erkennen und eine spezifische Behandlung anzubieten (10). Kritisch ist anzumerken, dass durch die neue Diagnose leider auch sehr heterogene Störungsbilder in nur einer Diagnose zusammengefasst werden. Auch der Genese, dem Ursächlichen, wird der Fokus genommen. Dies trägt zur Entstigmatisierung der Betroffenen bei (25), allerdings wird ausgeblendet, wie Körper und Seele bei der Entstehung von Krankheiten zusammenwirken.
Eigener Umgang in der Praxis Die psychotherapeutische Erfahrung zeigt, dass das Leid weniger im Mittelpunkt steht und belastend ist, wenn man Patienten in ihrem Leid ernst nimmt und in ihrem gesamten Lebenskontext erfasst. Dabei bietet
das ganzheitlich erweiterte biopsychosozial-spirituelle
Modell eine grosse Hilfe.
Unterstützend sind eine achtsamkeitsbasierte Haltung
und ein Arbeiten mit den Beschwerden, statt diese zu
bekämpfen. Von Bedeutung ist ebenfalls, wie der The-
rapeut selbst mit eigenem Leid und Beschwerden um-
geht. Denn die Qualität der Hilfe hängt immer auch
vom eigenen Bewusstseinsprozess ab.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Beatrice Natalie Geml
FMH Psychiatrie und Psychotherapie
und Allgemeine Innere Medizin
FA SAPPM
Leitende Ärztin Psychosomatik, Stv. Chefärztin
Seeklinik Brunnen
Gersauerstrasse 8
6440 Brunnen
E-Mail: beatricenatalie.geml@seeklinik-brunnen.ch
Merkpunkte:
● Die Patienten stellen die Primärversorger vor grosse Herausforderungen.
● Somatoforme Störungen haben eine hohe Prävalenz.
● Mit dem DSM-5 werden Körpersymptome ernst genommen, so wird unbefriedigenden Behandlungsverläufen und einer Chronifizierung vorgebeugt.
● Dem ursächlichen und ganzheitlichen Aspekt wird weniger Rechnung getragen.
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