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FORTBILDUNG
Somatische Folgeerkrankungen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
Die Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) entsprechen komplexen psychosomatischen Krankheitsbildern, bei denen die somatischen Aspekte zentral für die Diagnose, die Therapie und den Krankheitsverlauf sind. Die somatische Erstevaluation muss bereits zu Beginn umfassend erfolgen, damit die Diagnose gesichert und allfällig bereits bestehende Frühkomplikationen entsprechend erkannt und therapeutisch angegangen werden können. Zentral ist zudem, dass die somatischen Aspekte auch während des Therapieverlaufs genau zu überprüfen sind. Denn eine Osteoporose oder die Folgen der sekundären Amenorrhö beschäftigen die Somatik auch nach einer erfolgten Restitution der Erkrankung noch über viele Jahre.
Josef Laimbacher
von Josef Laimbacher
Einleitung
D ie Behandlung und Betreuung von Patienten mit Anorexia und Bulimia nervosa, die in der Regel erstmals im Jugend- oder zu Beginn des Erwachsenenalters daran erkranken, ist höchst anspruchsvoll und herausfordernd. Der Verlauf ist häufig geprägt durch eine Chronifizierung, die weit bis ins Erwachsenenalter oder gar lebenslang persistieren kann und durch die Mortalitätsrate, die zum Beispiel bei der AN mit 5 Prozent weiterhin besorgniserregend hoch ist (1, 2). Als psychosomatische Krankheitsbilder mit psychogener Genese weisen die AN und BN erhebliche psychiatrische Komorbiditäten auf. Sie sind zudem mit erheblichen somatischen, akuten und chronischen Folgeerkrankungen belastet. Ebenfalls ist mit einschneidenden sozialen Belastungen im familiären System und im weiteren Umfeld zu rechnen. Daraus ergibt sich zwingend die Notwendigkeit einer multiprofessionellen Behandlungsstrategie unter Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells. Der folgende Beitrag fokussiert primär auf die somatischen Aspekte der AN. Hingegen ist es notwendig, auch somatische Aspekte der Bulimia nervosa ergänzend zu behandeln, da bekannt ist, dass nicht selten bulimische Verhaltensweisen auch bei der AN vorkommen oder sich deren Symptomatik in das klinische Vollbild einer BN verschiebt respektive diese als eigenständiges Krankheitsbild präsentiert. Die internationale Klassifikation gemäss der DSM-5 ([3], Kasten1 und 2) bildet die somatischen Aspekte der Anorexia nervosa nicht mehr ab, nachdem auch die Amenorrhö nicht mehr als Kriterium gelistet wird. Dies mit der Begründung, dass
1. der Verlauf mit/ohne Amenorrhö sich nicht wesentlich unterscheidet,
2. die Erstmanifestation in der Prä-/Frühadoleszenz liegt und noch keine Menarche aufgetreten ist,
3. viele Patientinnen mit Hormonersatz oder hormoneller Kontrazeption substituiert werden,
4. auch das männliche Geschlecht von Anorexie betroffen ist,
5. auch ältere Betroffene über 40 Jahre betroffen sind, die bereits perimenopausal sind.
Auch für die BN ist in der DSM-5-Klassifikation aus somatischer Sicht lediglich der Hinweis auf die wiederholte Anwendung von unangemessenen kompensatorischen Massnahmen, um einer Gewichtszunahme entgegenzusteuern (z. B. Fasten, Erbrechen, Missbrauch von Abführ- oder Entwässerungsmitteln, exzessive Bewegung), aufgeführt.
Umfassende Evaluation bei der Erstbeurteilung Allgemeine Hinweise: Unsere langjährige Erfahrung zeigt, dass trotz klaren Vorgaben die somatische Abklärung bei einer AN zu Beginn der Erkrankung, respektive in der Evaluationsphase, zum Teil nur lückenhaft durchgeführt wird. Eine umfassende somatische Untersuchung ist jedoch eine unabdingbare Voraussetzung im Rahmen der umfassenden Erstdiagnostik, gleichbedeutend mit der psychiatrischen Evaluation und der Erfassung der sozialen Komponenten. Der somatische Untersuchungsgang soll nicht fragmentiert, sondern zeitgleich umfassend erfolgen. Eine somatische Primärevaluation bei der BN ist vielfach dadurch erschwert, dass dieses Krankheitsbild meist über einen langen Zeitraum unbemerkt und kaschiert verlaufen kann. Entsprechend hoch ist die Dunkelziffer bei der BN. Somatische Diagnostik: Eine umfassende Diagnostik
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Abbildung: BMI-Referenzperzentilenkurve für Mädchen und Jungen (4) Beispiel: Bei einem Mädchen von 14½ Jahren mit einem BMI von 15 kg/m2 liegt – gemessen am BMI P50 – entsprechend 19,9 kg/m2 ein relatives Untergewicht von minus 24,6 Prozent vor.
der AN ist unerlässlich, um wichtige somatische Erkrankungen auszuschliessen, die ursächlich ebenfalls zu einem schweren Untergewicht führen können. Gefürchtet sind unter anderem die zerebrale Raumforderung mit intrakranieller Hirndruckerhöhung, aber auch andere konsumierende onkologische Erkrankungen oder gastrointestinale Erkrankungen, wie die Zöliakie, die Helicobactergastritis , eine chronisch entzündliche Darmerkrankung oder eine Hyperthyreose.
Ganzkörperstatus/anthropometrische Untersuchungen Anlässlich der umfassenden Erstevaluation sind zwingend die anthropometrischen Daten (Länge, Gewicht, Body-Mass-Index, Hautfaltendicke am Trizeps und subskapulär), die Körperzusammensetzung (z.B. gemessen mittels der Bioimpedanzmethode) und die Pubertätsentwicklungsstadien nach Tanner präzise zu erfassen. Der Schwergrad der Untergewichtigkeit wird durch den BMI bestimmt. Für Kinder und Jugendliche sind für die Definition die BMI-Referenzkurven der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie anzuwenden. Das relative Untergewicht bei Kindern und Jugendlichen wird mit dem altersentsprechenden BMI P50 referenziert und daraus berechnet (Abbildung [4]). Dieser Wert ist auch sehr hilfreich für die Objektivierung des Therapieverlaufs. Ebenfalls hilfreich sind die Veränderungen der Körperzusammensetzung (Fett-, Muskel- und Wasseranteile). Beispiel: Bei einem Mädchen von 14½ Jahren mit einem BMI von 15 kg/m2 liegt, gemessen am BMI P50 (entspricht BMI 19,9 kg/m2), ein relatives Untergewicht von minus 24,6 Prozent vor. Ein umfassender Gesamtkörperstatus ist unerlässlich und insbesondere sind die krankheitsspezifischen klinischen Befunde präzise zu erfassen. Kasten 3 (5–7) gibt
Kasten 1:
Diagnostische Kriterien DSM-5 (3): Anorexia nervosa
A) Zum Bedarf eine eingeschränkte Energieaufnahme, welche unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Entwicklungsverlauf und körperlicher Gesundheit zu einem signifikant niedrigen Körpergewicht führt. Signifikant niedriges Gewicht ist definiert als ein Gewicht, das unterhalb des Minimums des normalen Gewichtes oder bei Kindern und Jugendlichen unterhalb des minimal zu erwartenden Gewichtes liegt.
B) Ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, oder dauerhaftes Verhalten, das einer Gewichtszunahme entgegenwirkt, trotz des signifikant niedrigen Gewichts.
C) Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur oder des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder anhaltende fehlende Einsicht in Bezug auf den Schweregrad des gegenwärtig geringen Körpergewichts.
Codierhinweis: F 50.01 Restriktiver Typ F 50.02 Binge-Eating/Purging-Typ
Schweregrad: Leicht: BMI ≥ 17 kg/m2 BMI 16–16,99 kg/m2
Schwer: BMI 15–15,99 kg/m2 Extrem: BMI < 15 kg/m2
dazu einen umfassenden Überblick über das Krankheitsbild der AN als auch der BN.
Umfassende Labordiagnostik Die umfassende Erstevaluation schliesst eine klinikspezifische Labordiagnostik mit ein. Kasten 4 (5–7) gibt einen umfassenden Überblick über die notwendigen Untersuchungen.
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Kasten 2:
Diagnostische Kriterien DSM-5 (3): Bulimia nervosa
A) Wiederholte Episoden von Essanfällen. Ein Essanfall ist durch die folgenden beiden Merkmale gekennzeichnet: 1. Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z.B. innerhalb eines Zeitraumes von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich grösser ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden. 2. Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z.B. das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder keine Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).
B) Wiederholte Anwendung von unangemessenen kompensatorischen Massnahmen, um einer Gewichtszunahme entgegenzusteuern, wie zum Beispiel selbstindiziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder anderen Medikamenten, Fasten oder übermässige körperliche Bewegung.
C) Die Essanfälle und die unangemessenen kompensatorischen Massnahmen treten im Durchschnitt mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von 3 Monaten auf.
D) Figur und Körpergewicht haben übermässigen Einfluss auf die Selbstbewertung. E) Die Störung tritt nicht ausschliesslich im Verlauf von Episoden einer Anorexia
nervosa auf. Schweregrad: Leicht: Durchschnittlich 1 bis 3 Episoden unangemessener
kompensatorischer Massnahmen pro Woche Mittel: Durchschnittlich 4 bis 7 Episoden unangemessener
kompensatorischer Massnahmen pro Woche Schwer: Durchschnittlich 8 bis 13 Episoden unangemessener
kompensatorischer Massnahmen pro Woche Extrem: Durchschnittlich 14 oder mehr Episoden unange-
messener kompensatorischer Massnahmen proWoche
Bildgebende Diagnostik Die Abdomensonografie mit besonderer Berücksichtigung der parenchymatösen Organe, der Beurteilung der Darmwandstrukturen und der inneren Genitalien gehört zur Standarduntersuchung anlässlich der Erstevaluation. Ebenso führen wir bei einem länger dauernden Untergewicht mit sekundärer Amenorrhö routinemässig eine Knochendichtemessung durch, um das Ausmass einer allfälligen Osteopenie respektive Osteoporose frühzeitig erfassen zu können. Weiterführende bildgebende Untersuchungen, wie eine zerebrale Magnetresonanztomografie, sollen nur bei entsprechender Klinik und Indikation durchgeführt werden.
Die akuten Komplikationen Die Bestimmung der Elektrolyte im Verlauf ist wichtig, um potenziell lebensbedrohliche Konstellationen frühzeitig erkennen zu können. Natriumhaushalt: Die Bestimmung des Serumnatriums ist besonders im Verlauf sehr wichtig, um erste Anzeichen einer drohenden Wasserintoxikation infolge Gewichtsmanipulation frühzeitig zu erkennen. Eine gefürchtete Komplikation einer schweren Hyponatriämie ist das Hirnödem mit allen Folgeproblemen. Auch das Gegenteil einer hypertonen Dehydration (Hypernatriämie), zum Beispiel bei einem vorsätzlich hohen Salzkonsum, muss erkannt werden. Die Behandlung dieser Elektrolytentgleisung bedarf grosser klinischer Erfah-
rung, da bei unsachgemässer Natriumkorrektur mit schweren zerebralen Komplikationen zu rechnen ist. Kalium-, Chlorid- und Säure-Basen-Haushalt: Eine potenziell schwerwiegende Hypokaliämie und Hypochlorämie mit konsekutiver metabolischer Alkalose beobachten wir bei profusem Erbrechen. Ein Früherkennungsparameter bei verschwiegener profuser Bulimiesymptomatik ist das tiefe Urinchlorid, das meist vor einer Hypochlorämie nachgewiesen werden kann. Gefürchtet sind die kardialen Rhythmusstörungen in Zusammenhang mit einer Hypokaliämie. Eine Hypokaliämie kann auch die Folge eines häufig zusätzlich vorliegenden Laxanzienabusus sein. Die vorsätzliche Einnahme von Diuretika ist gemäss unserer Beobachtung seltener, kann aber auch erhebliche Folgeerscheinungen in Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt mit sich ziehen. Glukosestoffwechsel: Bei ausgeprägt restriktiven Anorexieformen werden zum Teil erhebliche Hypoglykämien von unter 3 mmol/l registriert. Dank Kompensationsmechanismen, unter anderem durch die energetische Nutzung der Ketonkörper, sehen wir zerebrale Energieversorgungsdefizite mit dem klinischen Korrelat eines hypoglykämischen Komas mit Krampfanfall nicht. Letztere Symptomatik ist hingegen bei Patientinnen mit Diabetes mellitus Typ 1 beschrieben, die sich in suizidaler Absicht Überdosen von Insulin gespritzt haben. Nicht selten leiden Patientinnen mit Diabetes mellitus Typ 1 unter einer bulimischen Essstörung (Diabulimie oder der Problematik eines Insulin-Purging.) Phosphathaushalt: Der akute Phosphatmangel kann lebensgefährlich sein. Er ist gefürchtet im Rahmen des Refeeding-Syndroms, insbesondere bei einer unsachgemäss durchgeführten peroralen Zwangsernährung mittels Sonde oder bei einer parenteralen Ernährung.
Weitere Akutkomplikationen Renal: Eine prärenale Niereninsuffizienz findet sich häufig bei drastischer Gewichtsabnahme und eingeschränkter Flüssigkeitszufuhr. Hepatisch: Eine Störung der Leberfunktion zeichnet sich durch erhöhte Transaminasen und allenfalls verminderte Gerinnungsfaktoren aus. Zusätzliche Lebertoxizität ist zu befürchten bei gleichzeitigem Medikamentenabusus oder profusem Alkoholkonsum. Kardiovaskulär: Am häufigsten anzutreffen ist bei der AN die arterielle Hypotonie und die Sinusbradykardie. Daraus resultieren häufig orthostatische Symptome bis zur Synkope. Eine plötzlich auftretende Sinustachykardie bei einer ausgeprägten AN ist häufig Vorbote für eine bevorstehende kardiale Dekompensation. Zu beachten sind auch kardiale Rhythmusprobleme, insbesondere in Zusammenhang mit Elektrolytentgleisungen, wie sie insbesondere bei der BN vorkommen. Eine allfällige QT-Streckenverlängerung muss elektrokardiografisch eruiert werden, wenn der Einsatz von Psychopharmaka in Erwägung gezogen wird. Gastrointestinal: Die Verdauungsfunktionen sind sehr häufig gestört und vielfach auch Ausgangspunkt einer sich etablierenden Essstörung. Vielfach werden diverse Nahrungsmittelallergien respektive Intoleranzen angenommen, die meist nicht auf einer fundierten schulmedizinischen Diagnostik basieren, sondern häufig bei alternativen Erfahrungsmedizinverfahren als Ursache
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postuliert werden. Selbstverständlich muss bei einer entsprechenden Anamnese und klinischer Symptomatik das Problem einer gastrointestinalen Störung sehr ernst genommen und entsprechend sorgfältig abgeklärt werden. Eine Obstipationsproblematik ist häufig Ursache für eine unkontrollierte Einnahme von Laxanzien. Beim Vollbild einer Anorexieproblematik ist die Magenentleerung immer verlangsamt, und infolge einer Atonie ist der Magen meist dilatiert und sehr voluminös. Besonderer Beachtung bedarf das Refeeding-Syndrom (u.a. Elektrolytentgleisungen, akuter Phosphatmangel und Überbelastung der hepatischen Funktionen), vor allem wenn in der Akutphase ein unangemessener Ernährungsaufbau erfolgt. Dieser Zustand kann lebensbedrohlich sein. Aus diesem Grund wird der perorale Nahrungsaufbau einer parenteralen Ernährung vorgezogen. Eine weitere gefürchtete Akutkomplikation ist die Hämatemesis, im schlimmsten Fall eine profuse Blutung im Rahmen eines Mallory-Weiss-Syndroms bei profusem Erbrechen. Hämatologisch: Generell ist die Hämatopoese bei der AN gedrosselt. Eine schwere Anämie findet sich meist in Zusammenhang mit einem vorbestehenden Eisenmangel oder bei akuter Blutung. Ebenfalls muss ein Vitamin-B12-Mangel gesucht werden, wie wir ihn bei einer rein veganen Ernährungsweise sehen. Diese Ernährungsform wird bei essgestörten Patientinnen zunehmend praktiziert. Augenfällig ist häufig auch eine Leukopenie im Blutbild. Diese bedeutet aus unserer Erfahrung nicht, dass generell eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Denn die Leukozyten lokalisieren sich bei der AN vermehrt im marginalen Pool der Gefässwand und bilden sich so quantitativ nicht direkt im Blutbild ab. Sie können bei einer Infektion allerdings meist immediat für die Abwehr mobilisiert werden. Neurologisch/psychiatrisch: Die neurologischen Ausfallserscheinungen bei der AN betreffen insbesondere die kognitiven Störungen im Rahmen der Hirnatrophie. Psychiatrisch imponiert klinisch häufig ein zum Teil ausgeprägtes depressives Zustandsbild. Auch Angststörungen bis hin zu Panikattacken sind nicht selten. Ebenfalls muss eine latente Suizidalität, auch vom Somatiker, exploriert und frühzeitig erkannt werden, um entsprechende suizidale Krisen verhindern zu können. In diesem Zusammenhang ist das Erkennen von problematischen sozialen Konstellationen wichtig, wie das Fehlen von zwischenmenschlichen Beziehungen oder die soziale Isolation.
Die somatischen Langzeitfolgen Endokrinologische Störungen (Kasten 5 [8]): Die Anorexia nervosa ist gekennzeichnet durch endokrinologische Veränderungen, die alle Achsen der glandotropen Hormonsysteme betreffen. Davon betroffen sind die Wachstums-, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-, die Schilddrüsen- und die HypothalamusHypophysen-Gonaden-Achse. Zusätzlich sind Hormone betroffen, die den Appetit, den Hunger und die Nahrungsaufnahme regulieren. Diese endokrinologischen Anpassungen dienen einerseits zur Aufrechterhaltung einer Eugklykämie und Glukoseverfügbarkeit für vitale Körperfunktionen, andererseits führen sie aber auch zu einer Störung des Knochenstoffwechsels. Osteopenie/Osteoporose: Augenfällig ist bei einer län-
Kasten 3:
Krankheitsspezifische, klinische Befunde bei Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) adaptiert an (5–7)
Haut
Mund/Rachen Kardiovaskuläre Störungen
Gastrointestinale Störungen Muskuloskelettale Störungen Neurologische Störungen
Endokrinologische/ gynäkologische Störungen Renale Störungen
Trockene, schuppige Haut, glanzloses Haar, brüchige Nägel, Haarausfall, Lanugobehaarung vor allem im Gesicht und an den Armen, Hyperthermie (kann eine Infektion verschleiern), Cutis marmorata, Akrozyanose, periunguale Erytheme, Cheilitis, entzündliche Rhagaden an den Lippen, trockene Lippen, Zahnfleischveränderungen (BN), Hyperkeratose an den Fingergrundgelenken und/oder Handrücken (BN), gelbliches Hautkolorit, Gelbverfärbung von Handinnenflächen und Fusssohle (Aurantiasis cutis), Ödeme Karies (BN), Perimolyse (BN), Sialadenitis (BN), Parotisschwellung (BN), Heiserkeit (BN) Kardiovaskuläre Hypertonie, Sinusbradykardie, Sinustachykardie (häufig Vorbote für eine bevorstehende Dekompensation), QT Streckenverlängerung, laterale und ventrikuläre Arrhythmien, Mitralklappenprolaps, linksventrikuläre Atrophie, Herzinsuffizienz, Akrozyanose Magenentleerungsstörung, verminderte Darmmotilität, Obstipation, Ösophagitis, Hämatemesis, Hepatitis, Fettleber, Cholelithiasis Osteopenie, Osteoporose, Frakturen, Kleinwuchs, Wachstumsstillstand Kortikale Atrophie und Ventrikelsystem erweitert (reversibel), Polyneuropathie, Epilepsie, Myopathie, Tetanie (BN), Achillessehnenreflex verzögert in der Relaxation, kognitive Störungen Oligo-Amenorrhö, Unfruchtbarkeit, verspätete Pubertät, Hyperthyreose
Lithiasis, Niereninsuffizienz
Kasten 4:
Mögliche Laborbefunde bei Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) adaptiert an (5–7)
Hämatologie Blutchemie
Urinchemie Spezielle Laboruntersuchungen
Leukopenie, Neutropenie, Anämie, Thrombozythämie Hypoglykämie, Hypokaliämie (BN), Hyponatriämie, Hypomagnesiämie, Hypophosphatämie (bei Refeedingsyndrom), Hypoalbuminämie, Erhöhung Leberenzyme und Amylase, Harnstoff tief, Kreatininerhöhung, Hypercholesterinämie, Hypochlorämie (BN), hypochlorämische, hypokaliämische metabolische Alkalose (BN) Chlorid tief (BN), erhöhte Kalziumausscheidung, Proteinurie, spezifisches Gewicht tief Vitamin-B12-Mangel, Folsäuremangel, tiefes Luteinisierendes Hormon (LH) und Follikelstimulierendes Hormon (FSH), Östrogenmangel bei Frauen, Testosteronmangel bei Männern, Cortisol hoch, T3 tief (Low T3 Syndrom) bei normalem TSH und FT4, Ausschluss Zöliakie (t-Transglutaminase-IgA, Gesamt-IgA), osteologische Parameter bei Osteopenie (25-OH-Vitamin D, Osteocalcin, Ostase, Parathormon)
geren Persistenz der Untergewichtigkeit und einer zusätzlichen sekundären Amenorrhö eine schon erhebliche Osteopenie respektive Osteoporose. Diese Proble-
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Kasten 5: Endokrinologische Veränderungen bei Anorexie [8] (adaptiert und übersetzt) Abkürzungen: GH = Growth Hormone. IGF-1 = Insulin-like Growth Factor 1. GHBP = Growth-Hormone Binding Protein. PYY = Peptide YY. HPA = Hypothalamic-Pituitary-Adrenal. CRH = Corticotrophin-Releasing Hormone. ACTH = Adrenocorticotropic Hormone. HPT = Hypothalamic-Pituitary-Thyroid. TSH = Thyroid-Stimulating Hormone. T3 = Tri-Iodothyronine. T4 = Tetra-Iodothyronine. HPG = Hypothalamic-Pituitary-Gonadal. LH = Luteinising Hormone. GLP-1 = Glucagon-like Peptide-1. GIP = Glucose-dependent Insulinotropic Peptide. * Hormonal changes implicated in altered LH pusatility. + Hormonal changes implicated in impaired bone metabolism.
matik hat schwerwiegende Implikationen für den weiteren Lebensverlauf, der mit einem erhöhten Frakturrisiko bereits im früheren Erwachsenenalter belastet sein kann. Ermutigend ist die Tatsache, dass auch nach längerem Krankheitsverlauf sich die Werte einer Osteopenie respektive einer Osteoporose verbessern lassen, sofern eine adäquate Gewichtszunahme mit Normalisierung der Körperzusammensetzung erreicht werden kann und wenn zusätzlich über diese vulnerable Phase Vitamin D und Kalzium als Supplemente verabreicht werden. Weiterhin kontrovers diskutiert wird die Wirkung von substituierten weiblichen Geschlechtshormonen. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass vor allem das transdermal verabreichte Östrogen zusammen mit einem zyklischen Progesteron bei jungen Patientinnen zu einer Verbesserung der Knochendichte führen kann (9). Gemäss unseren Erfahrungen wird diese Therapieform besser akzeptiert als die herkömmlichen Zykluspräparate. Ein allfälliger Einsatz zum Beispiel von Bisphosphonat zur Therapie der Osteoporose bedarf der Mitbetreuung einer osteologischen Fachperson, da mit erheblichen Therapiekomplikationen zu rechnen ist. Amenorrhö/Unfruchtbarkeit: Eine Amenorrhö auf der Basis eines hypogonadotropen Hypogonadismus hat, wie oben beschrieben, negative Langzeitfolgen auf den Knochenstoffwechsel. Sehr häufig persistiert die Amenorrhö auch nach erfolgter Gewichtsrestitution, sodass häufig eine weiterführende gynäkoendokrinologische Abklärung mit entsprechender Behandlung notwendig wird. Ein weiterer einschneidender Gesichtspunkt der
persistierenden Amenorrhö oder eines unregelmässigen Zyklus bildet im Erwachsenenalter die Unfruchtbarkeit mit entsprechend unerfülltem Kinderwunsch. Weitere Probleme sind Schwangerschaftskomplikationen oder erhöhte Abortraten. Diese Themen sollten übrigens bereits in einem sehr frühen Therapieprozess angesprochen werden. Dies kann zusätzlich motivierend für eine positive Krankheitsbewältigung sein. Gastrointestinale Störungen: Sehr häufig persistieren Verdauungsstörungen. Dabei imponiert vor allem die chronische Obstipation. Ein besonderes Augenmerk bedarf diesbezüglich des Abusus von frei erhältlichen Laxanzien, der ein groteskes Ausmass erreichen kann. Aber auch Unverträglichkeiten müssen berücksichtigt und entsprechend diagnostiziert und behandelt werden. Dies betrifft zum Beispiel die Laktose- oder Fruktoseintoleranz. Zerebrale Störungen: Die kognitiven Defizite während der Erkrankung sind meist im Verlauf reversibel. Trotzdem können anhaltende Störungen persistieren, insbesondere wenn Zusatzkomplikationen auftreten, zum Beispiel im Rahmen einer Wasserintoxikation mit Hirnödem und epileptischen Anfällen. Eine periphere Neuropathie kann ebenfalls persistieren, wenn periphere Nerven durch Druck beschädigt wurden. Ein Beispiel dafür ist eine persistierende Peronäuslähmung. Renale Störungen: Die Nierenfunktionen erholen sich meistens gut. Dies betrifft vor allem die prärenale Niereninsuffizienz. Hingegen können zusätzlich eingenommene nephrotoxische Substanzen zu einer persistierenden Schädigung der Nierenfunktionen beitra-
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gen. Ebenfalls besteht die Gefahr einer irreversiblen Nie-
renschädigung bei persistierender Elektrolytentgleisung
und Störung im Säuren-Basen-Haushalt, vor allem als
Folge von profusem Erbrechen und dem Abusus von
Diuretika und Laxanzien.
Wachstumsstörungen: Wachstumsstörungen treten auf,
wenn sich die Essstörung bereits präpubertär und wäh-
rend des Wachstumsschubs in der Pubertät manifes-
tiert. Insbesondere bei vorbestehendem Wachstum
unter der 10. Perzentile und bei einer zusätzlichen fami-
liären Konstellation kann eine restriktive Essstörung mit
einem konsekutiven persistierenden Kleinwuchs ver-
bunden sein, der psychisch häufig als sehr belastend er-
lebt wird.
Kardiale Erkrankungen: Der Herzmuskel wird generell
nur nach lang anhaltender Schädigung, im Sinne einer
marantischen Kardiomyopathie, zu entsprechenden
Langzeitfolgen führen.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Josef Laimbacher
Chefarzt Jugendmedizin
Ostschweizer Kinderspital
Claudiusstrasse 6
9006 St. Gallen
E-Mail: Josef.Laimbacher@kispisg.ch
Merksätze:
G Die Behandlung der Anorexia und Bulimia nervosa ist komplex und bedarf einer
multiprofessionellen Zusammenarbeit. Dabei ist auch die Erfassung der soma-
tischen Aspekte von zentraler Bedeutung.
G Eine umfassende somatische Diagnostik ist vor Beginn der Therapie zwingend.
G Akutkomplikationen – auch im Verlauf – müssen permanent gesucht und über-
prüft werden.
G Es ist damit zu rechnen, dass somatische Folgeerkrankungen, auch nach erfolg-
ter Restitution, über Jahre behandelt werden müssen.
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