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FORTBILDUNG
Edaravone – neue Hoffnung für ALS-Patienten?
Die US Food and Drug Administration (FDA) hat im Mai 2017 Edaravone (Radicava®) als zweites Medikament zur Ursachenbehandlung der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) zugelassen. Edaravone (MCI-184, 3-Methyl-1-Phenyl-2-pyrazolin-5-on) ist ein sogenannter «Freier-Radikalen-Fänger» und wird in Japan bei der Schlaganfallbehandlung als Antioxidans eingesetzt, um reaktive Sauerstoffradikale und Nitroxid zu eliminieren. Die Studienresultate sind jedoch nicht eindeutig.
Bertold Schrank
von Bertold Schrank
D as in Japan entwickelte und dort unter dem Namen Radicut bereits seit 2015 erhältliche Medikament wurde in drei ausschliesslich in Japan durchgeführten Studien getestet. Edaravone (Radicava®) ist das zweite zugelassene Medikament zur Ursachenbehandlung der ALS – neben dem bereits seit 1996 zugelassenen Riluzol (Rilutek®). Allerdings ergab nur die letzte Studie ein statistisch signifikant positives Ergebnis, sodass die Entscheidungsgrundlage der FDA auf einer einzigen kontrollierten Studie bei einer Subgruppe von ALS-Patienten beruht (1). Die positive Studie umfasste 134 ausgewertete Patienten (68 Patienten mit Edaravone, 66 Patienten mit Plazebo behandelt) mit einer Behandlungsdauer von 24 Wochen. Die Studie zeigte eine statistisch signifikante Reduktion der Progression der Erkrankung, gemessen an der Änderung des ALS-FRS-R Score, der den Verlust von Alltagsfunktionen (Sprechen, Schlucken, Eigenpflege, Mobilität, Atmung) abfragt. Dabei wurde ein mittlerer Funktionsverlust von 5,1/48 Punkten in der Edaravone-Gruppe gegenüber 7,5/48 Punkten in der Plazebogruppe ermittelt. Das Ergebnis ist statistisch signifikant, bleibt aber aus verschiedenen Gründen fragwürdig: 1. Die Definition einer möglichen «Respondergruppe»
erfolgte in einer Post-hoc-Analyse einer grösseren, aber im Ergebnis negativen vorausgehenden kontrollierten Studie mit einem weniger stark selektionierten Patientengut (2). Die Selektion führte nach der Publikation der Autoren dazu, dass in der Edaravone-Gruppe von den 17 Patienten mit den stärksten Funktionsverlusten (> 10 Score-Punkte/24 Wochen) in der post hoc definierten Gruppe der erwarteten Responder nur noch 2 vertreten waren (12%),
während in der Plazebogruppe von den 22 Patienten noch 9 übrig blieben (41%) (3). Das ist ein Widerspruch zur erklärten Absicht der Autoren, Patienten mit einer eher ausgeprägteren Progression einschliessen zu wollen (3). 2. Für die letzte und zulassungsrelevante Studie wurden also Patienten ausgewählt, die früh die Kriterien einer klinisch sicheren ALS erfüllten, also mit Befall von 3 oder mehr Körperregionen, ohne dass eine Region stärker betroffen sein durfte (jeder ALS-FRS-R-Subscore musste mindestens 2 oder mehr betragen [normale Funktion 4, kompletter Funktionsverlust 0]) – das wird eher für die Minderzahl der ALS-Patienten zutreffen und auch nur während eines sehr begrenzten Zeitraums im gesamten Krankheitsverlauf. Schliesslich ist die ALS eine fokal beginnende Erkrankung, die häufig in einer Körperregion beginnt und sich allmählich auf weitere Regionen ausbreitet. Gleichzeitig wurden nur solche Patienten eingeschlossen, die noch nicht sehr behindert sein durften, die also keine sehr rasche Progredienz in der vorausgehenden Erkrankungsphase zeigten. Die lange Rekrutierungsphase von beinahe 3 Jahren trotz einer grossen Zahl teilnehmender Studienzentren (31) in Japan zeigt, dass der Anteil der infrage kommenden Patientengruppe an der Gesamtpopulation von ALS-Patienten nicht gross sein wird. In einer europäischen Stellungnahme der ENCALSStudy Group werden zirka 7 Prozent der ALS-Patienten einer grösseren ALS-Ambulanz genannt, die für die Behandlung gemäss den Studienkriterien infrage kommen (4). 3. Die Behandlungsdauer war mit 24 Wochen in beiden kontrollierten Studien so kurz, dass Endpunkte wie Mortalität oder die Zeit bis zur Beatmungspflicht nicht zu erwarten waren, um die Wirksamkeit des
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Medikaments beurteilen zu können. Die grosse Mehrzahl der bisherigen kontrollierten Medikamentenstudien bei der ALS wurde mit einer Behandlungsdauer von 18 Monaten durchgeführt, in denen die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen eines solchen Endpunkts sehr viel höher war, sodass eine Beurteilung des Einflusses auf beatmungsfreies Überleben möglich wurde. Daher ist bei der einzigen zulassungsrelevanten Studie auch eine Verlaufsbeurteilung über den Gesamtverlauf der ALS-Erkrankung anhand der Studiendaten nicht möglich. 4. Die Behandlung muss an 14 beziehungsweise 10 Tagen pro Monat intravenös erfolgen. Das ist ein hoher Zeitaufwand für die häufig mobilitätsbehinderten Patienten. Die Dauer der Behandlung bleibt aufgrund der schütteren Datenlage unklar, es gibt aktuell noch keine publizierten Daten, die eine Anwendung über den beobachteten Zeitraum von 24 Wochen hinaus nahelegen würden.
Da bisher keine Zulassung der EMA (European Medicines Agency, europäische Zulassungsbehörde) erfolgt ist, kann das Medikament nur über internationale Apotheken bezogen werden. Eine Behandlung mit dem Medikament erfordert daher eine vorherige Kostenzusage durch die Krankenkasse. Da es sich bei der ALS um eine schwere und lebensbedrohliche Erkrankung handelt, ist nach deutschem Recht eine Off-label-Behandlung grundsätzlich gerechtfertigt. Vor einer allgemeinen Zulassung wäre aber wichtig zu klären, ob die beobachteten positiven Effekte auch bei längerer Behandlung zu beobachten sind oder ob es sich um einen vorübergehenden Effekt in der frühen Krankheitsphase bei ganz umschriebenen Krankheitsverläufen handelt. Patienten, die laut Studie infrage kommen, sind seit weniger als 2 Jahren erkrankt, müssen in 3 Körperregionen klinisch betroffen sein, dürfen aber in keiner Region schwer behindert sein (ALS-FRS-R Subscores ≥ 2), zudem müssen sie selbstständig in der Ausübung häuslicher Alltagstätigkeiten sein und dürfen auch keine Einschränkung der Vitalkapazität zeigen (FVC ≥ 80%). Eine allgemein positive Wirkung bei der ALS lässt sich anhand der publizierten Daten zum jetzigen Zeitpunkt nicht ablesen. In einer inzwischen von der gleichen Autorengruppe publizierten kleineren Studie von 25 schwerer betroffenen Patienten, die Assistenz bei der Nahrungszufuhr, bei Miktion oder Stuhlgang oder beim Gehen benötigten (japanischer ALS-Schweregrad 3 [2]), ergab sich kein signifikanter Unterschied zwischen den 13 mit Edaravone behandelten und den 12 mit Plazebo behandelten Pa-
tienten (5). Erste Daten zum Langzeitverlauf bei Nachbeobachtung der Studiengruppe ergaben ein höheres Risiko unerwünschter Nebenwirkungen (Serious Adverse Events) bei seit über einem Jahr behandelten Patienten im Vergleich zu Patienten, die nur über ein halbes Jahr behandelt wurden (6). Bisher liegen keine belastbaren anderen Langzeitverlaufsdaten vor.
Bevor die Behandlung begonnen wird, sollte mit dem
Patienten ausführlich besprochen werden, dass die Be-
handlung ausschliesslich intravenös erfolgt und ein an-
haltendes zeitliches Commitment erfordert – an 14
beziehungsweise 10 von 30 Tagen jedes Monats eine
zirka einstündige Infusion. Eine weitere kontrollierte
klinische Studie über einen Standardzeitraum von 18
Monaten mit Erfassung von beatmungsfreien Überle-
bensdaten wäre wichtig, um die Wirksamkeit sicher
nachweisen zu können (4) – hierfür würde sich zum Bei-
spiel eine europäische Studie mit Beteiligung des
BMBF-geförderten MND-Net deutscher neuromuskulä-
rer Zentren anbieten (7).
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Bertold Schrank
Fachbereich Neurologie
DKD Helios Klinik Wiesbaden
Aukammallee 33
D-65191 Wiesbaden
Mail: Bertold.Schrank@helios-gesundheit.de
Literatur:
1. Writing Group; Edaravone (MCI-186) ALS 19 Study Group: Safety and efficacy of edaravone in well defined patients with amyotrophic lateral sclerosis: a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2017; 16 (7): 505–512.
2. Abe K et al.: Confirmatory double-blind, parallel-group, placebocontrolled study of efficacy and safety of edaravone (MCI-186) in amyotrophic lateral sclerosis patients. Amyotroph Lateral Scler Frontotemporal Degener, 2014; 15 (7-8): 610–617.
3. Edaravone (MCI-186) ALS 16 Study Group: A post-hoc subgroup analysis or outcomes in the first phase III clinical study of edaravone (MCI-186) in amyotrophic lateral sclerosis. Amyotroph Lateral Scler Frontotemporal Degener, 2017, 18 (sup1): 11–19.
4. Al-Chalabi A et al.: July 2017 ENCALS statement on edaravone. Amyotroph Lateral Scler Frontotemporal Degener, 2017,18 (7-8): 471–474.
5. Writing Group on behalf of the edaravone (MCI-186) ALS 18 study group: Exploratory double-blind, parallel-group, placebo-controlled study of edaravone (MCI-186) in amyotrophic lateral sclerosis (Japanese ALS severity classification: Grade 3, requiring assistance for eating, excretion or ambulation). Amyotroph Lateral Scler Frontotemporal Degener, 2017, 18 (sup1): 40–48.
6. Writing Group on behalf of the edaravone (MCI-186) ALS 17 study group: Exploratory double-blind, parallel-group, placebo-controlled extension study of edaravone (MCI-186) in amyotrophic lateral sclerosis. Amyotroph Lateral Scler Frontotemporal Degener, 2017, 18 (sup1): 20–31.
7. Ludolph A & Meyer T (2017): Edaravone: eine neue Substanz für die Behandlung der ALS. https://www.dgn.org/neuronews/54-neuronews-2017/3436-edaravone-eine-neue-substanz-fuer-die-behandlung-der-als (letzter Zugriff am 16.1.2019).
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