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FORTBILDUNG
Der systemisch lösungsorientierte Ansatz in der Ernährungsberatung/-therapie bei Orthorexia nervosa: ein Erfahrungsbericht
Die Orthorexia nervosa (ON) ist ein kontrovers diskutiertes Störungsbild mit bis heute fehlender Klassifizierung nach ICD-10 und DSM-5. Evidenzbasierte Angaben zur Prävalenz variieren, sodass nur wenige Aussagen über die Behandlung gemacht werden können. Explizite Zuweisungen einer ON wie auch Selbstzuweisungen sind aufgrund fehlender Krankheitseinsicht und Veränderungsbereitschaft eher selten. Erfahrungswerte zeigen, dass die soziokulturellen Aspekte für die Behandlung der ON von grosser Bedeutung sind.
Shima Wyss
von Shima Wyss
D as DSM-5 und der ICD-10 betrachten Orthorexia nervosa bis heute nicht als eigenständige Störung. Vor allem Überlappungen mit Essstörungen, Zwangsstörungen und Angsterkrankungen erschweren eine Abgrenzung des Phänomens. Koven und Abry (2015) halten Orthorexia nervosa aufgrund der einzigartigen und differenzierenden Merkmale in Abgrenzung zu Anorexia nervosa und Zwangsstörung für eine eigenständige Störungsidentität, während andere Autoren ON als Vorstufe beziehungsweise Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung oder aber einer Zwangsstörung ansehen. Auch Überlappungen zwischen orthorektischem Verhalten und Merkmalen von Verhaltenssüchten wie der pathologischen Spielsucht, Sexsucht oder Sportsucht werden erwogen. Gleichzeitig ist aber auch die Annahme verbreitet, ON lediglich als sozialen Trend zu betrachten und dieser Art des gesunden Essens keinen Störungscharakter zuzuschreiben (1). So wird man in diversen Internetdiskussionsforen und in den sozialen Medien zu diesem Thema fündig. Dort findet man Rezeptideen, Foodblogs und Tipps zu gesunder Ernährung, die von vielen Usern offenbar nach eigenen Regeln eingehalten werden. In einer im Jahr 2010 im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG, [2]) durchgeführten repräsentativen Schweizer Umfrage gab fast ein Drittel aller Befragten an, sich übermässig mit gesundheitsfördernder Ernährung zu beschäftigen. Als Risikopopulation sehen wir in der Praxis vor allem Sportler und Patienten mit rigiden Diäterfahrungen.
Eingeführt wurde der Begriff «Orthorexie» vom amerikanischen Arzt Steven Bratman im Jahr 1997. Bratman
stellte den nachfolgenden Fragekatalog zur Überprüfung einer möglichen Orthorexie auf (3): G Denken Sie mehr als 3 Stunden am Tag über Ihre Er-
nährung nach? G Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus? G Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer
Mahlzeit wichtiger als ihr Genuss? G Haben Sie das Gefühl, je gesünder Sie sich ernähren,
desto besser sei Ihre Lebensqualität? G Sind Sie in letzter Zeit mit sich strenger geworden? G Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Er-
nährung? G Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher ge-
nossen haben, um nun «richtige» Lebensmittel zu essen? G Haben Sie durch Ihre Essensgewohnheiten Probleme auszugehen, und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie? G Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrer Diät abweichen? G Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle, wenn Sie sich gesund ernähren?
Typische Charakteristika der Orthorexia nervosa (4) G Der gesundheitliche Wert der Speisen ist wichtiger
als das Essvergnügen. G Bestimmte Lieblingsspeisen sind nicht mehr erlaubt,
weil andere Nahrungsmittel besser, «gesünder» sind. G Die Anzahl der Nahrungsmittel, die gegessen wer-
den, sinkt laufend und begrenzt sich schliesslich auf ganz wenige Nahrungsmittelgruppen wie Obst und Gemüse. G Die Betroffenen verbringen längere Zeit am Tag damit, über gesunde Nahrungsmittel nachzudenken.
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G Ernährungspläne werden im Voraus für die nächsten Tage zusammengestellt.
G Die Betroffenen berichten von einem vordergründigen Gefühl der Freiheit und Selbstkontrolle, weil sie nun gesünder essen.
G Das Essverhalten führt zu gesellschaftlicher Isolation.
Behandlung der Orthorexie in der Ernährungsberatung/-therapie Aufgrund der unklaren Diagnosekriterien und fehlender validierter Diagnosetools fehlt die Grundlage zur Erforschung therapeutischer und beraterischer Interventionen bei ON (5). Folglich gibt es auch in der Ernährungsberatung noch keine evidenzbasierten Empfehlungen. Die Behandlung von ON sollte jedoch in einem interdisziplinären Team angesiedelt sein (5), das ernährungstherapeutische und psychotherapeutische Ansätze verknüpft. Am Kompetenzzentrum für Essverhalten, Adipositas und Psyche (KEA) am Spital Zofingen AG werden diese beiden Disziplinen mit der Körperwahrnehmungstherapie ergänzt. Eine fundierte und wissenschaftlich basierte Ernährungsedukation hat sich als einer der vorherrschenden Pfeiler der Ernährungsberatung erwiesen, um falsche Vorstellungen und Missverständnisse zu korrigieren und damit in Zusammenhang stehende dysfunktionale Kognitionen zu verändern. In Analogie zu anderen Essverhaltensstörungen ist der systemisch lösungsorientierte Ansatz eine sinnvolle Interventionsmöglichkeit bei ON, der in spezialisierten Zentren wie dem KEA zur Anwendung kommt. Der erste Kontakt kann durch den Wunsch nach detaillierten, ernährungsbezogenen Informationen zur Ernährungsberatung erfolgen. Eine Lebensmittelampel eignet sich als eine weitere mögliche Intervention in der Ernährungsberatung. Das Gewicht der Betroffenen liegt meistens im Normalbereich und ist daher selten von zentraler Bedeutung.
Prozessbegleitung in der Ernährungsberatung/-therapie Im systemisch lösungsorientierten Ansatz wird der Einbezug der Angehörigen und engeren Bezugspersonen (Partner, Eltern, Kinder etc.) empfohlen. Systemische Berater gehen in ihrer Arbeit davon aus, dass kein Verhalten ohne das System, den sozialen Kontext (Familie, Arbeitsteam, Sportvereine, Schulklasse etc.) zu verstehen und zu ändern ist. Laut Schlippe und Schweitzer werden Probleme nicht als Ausdruck einer «Dysfunktionalität», einer Pathologie, eines psychischen und sozialen Systems gesehen, sondern als Verkettung von Umständen (5).
Zu den Grundprinzipien der systemischen Beratung zählen daher: G der Einbezug des sozialen Umfeldes G die Anerkennung, dass jedes Symptom einen Sinn
hat G dass Ressourcen und Stärken im Mittelpunkt stehen G dass Lösungen gefunden werden, anstatt dass man
in Problemen wühlt G dass die Kraft der Klienten und des Systems zur Lö-
sung genutzt werden.
Systemisch lösungsorientierte Grundannahme und Haltung Die Haltung des Beraters gegenüber dem Klienten ist positiv, wertschätzend, nicht wissend. Ziele werden gemeinsam entwickelt und basieren auf den Ressourcen und Fähigkeiten des Klienten. Der lösungsorientierte Ansatz geht davon aus, dass positive Veränderungen in komplexen Situationen auf Basis kleiner Schritte geschehen. Für diese Schritte genügen nur wenige Informationen über das, was bisher schon funktionierte. Im Zentrum steht dabei die Frage «Was macht den Unterschied aus?», und Unterschiede sind Ausnahmen, die einen möglichen Lösungsweg aufzeigen können. Im lösungsorientierten Ansatz geht man davon aus, dass alle Beteiligten an einer positiven Veränderung interessiert sind. Das bedeutet, dass jeder Beteiligte, sei es der Betroffene, der Partner und so weiter, aus seiner Perspektive sein Möglichstes tut und dass dies auch gewürdigt werden sollte.
Interventionsmöglichkeiten Fragen sind ein zentrales Element systemischer Interventionen. Damit sich ein System verändern kann, wenn es sich verändern will, braucht es über seine Beziehungszustände zweierlei Informationen: Es geht um das, was ist, und das, was sein könnte. Entsprechend unterscheiden sich Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion, die den aktuellen Kontext erhellen, und Fragen zur Möglichkeitskonstruktion, die neue Wege aufzeigen.
Fallbeispiel Frau W. wurde von ihrem Ehemann in die Ernährungsberatung begleitet. Er machte sich Sorgen, weil die Ehefrau nur noch «gesunde» Nahrungsmittel kocht. Zu Hause gelten strenge Ernährungsregeln, auch der Süssigkeitskonsum der Kinder wird hartnäckig überwacht.
Mögliche Fragen zum Auftragskontext (Überweisungskontext): Ernährungsberatung (ERB): «Wer hatte die Idee zu diesem Kontakt?» Frau W.: «Mein Mann wollte mit mir in die Ernährungsberatung. Er hat sich im Internet informiert.» ERB: «Was möchte er, was hier passieren soll?» Frau W.: «Hm. Ich soll wieder normal essen können.» ERB: «Ah. Was bedeutet das genau? Woran würde er das erkennen, dass Sie wieder ‹normal› essen könnten?» Frau W.: «Wir würden keine Diskussionen rund um das Thema Essen führen. Zumindest keine belastenden.» ERB: «Was käme stattdessen?» Frau W.: «Schwierige Frage. Vielleicht würden wir über unsere Freizeitgestaltung sprechen.» (Das Problempaket auspacken.) ERB: «Aus welchen Verhaltensweisen besteht das Problem?» Frau W.: «Mein Mann sieht das Problem darin, dass das Essen bei uns zu Hause zu ‹gesund› sei. Ich finde es wichtig, auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung zu achten. Ausserdem gehe ich regelmässig joggen und möchte auch meine Leistungsfähigkeit steigern. Da braucht mein Körper keine unnötigen Nahrungsmittel oder Inhaltsstoffe, die ihm schaden.»
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ERB: «Ich verstehe. Hat sonst noch jemand dieses Verhalten beobachtet?» Frau W.: «Meine Familie und meine enge Freundin haben mich schon mal darauf angesprochen. Wahrscheinlich erleben sie es am meisten. Auswärts essen war ich schon länger nicht mehr. Bei der Arbeit nehme ich mein eigenes Essen von zu Hause mit. Das ist mir lieber so als das Angebot der Grosskantine.» ERB: «Wie erklären Sie sich das?» Frau W.: «Keine Ahnung. Ich lege grossen Wert auf eine ausgewogene Ernährung und möchte selbst bestimmen können, was ich meinem Körper Gutes tue. Mit der Auswahl, die ich habe, kann ich das.» Nach der Ernährungsanamnese stellt sich heraus, dass die Patientin folgende Nahrungsmittel meidet: Fleisch, Zucker, Gluten, Laktose, stark verarbeitete Nahrungsmittel, stark fetthaltige Nahrungsmittel/Zubereitungsformen. Ihre Nahrungsmittel bezieht sie vorzugsweise vom regionalen Bauer und den Reformhäusern ihres Vertrauens. Ihre Mahlzeitenstruktur gestaltet sie mit regelmässigen Haupt- und Zwischenmahlzeiten. Frau W. ernährt sich hypokalorisch und ist aufgrund der restriktiven Ernährungsform mangelernährt. Die Patientin berichtet, dass sie sich viele Gedanken über die Mahlzeitengestaltung macht und sich in der Auswahl immer eingeschränkter fühlt. ERB: «Ich habe eine etwas besondere Frage an Sie: Wenn über Nacht, während Sie schlafen, ein Wunder geschieht und all ihre Sorgen und Probleme, die sie hierher geführt haben, weg wären, woran würden Sie am nächsten Morgen als Erstes merken, dass etwas anders ist?» Frau W.: «Das ist ziemlich einfach: Ich könnte länger im Bett liegen bleiben, da ich das Gleiche frühstücken würde wie meine Familie und dadurch Zeit sparen könnte.» ERB: «Ah, interessant. Was noch?» Frau W.: «Beim Frühstück würde ich mich mit den Kindern an den Tisch setzen können, und ich würde das Gleiche essen wie sie auch. Zum Beispiel Brot mit Butter oder sogar mal ein Müesli. Ich hätte keine Angst, meinen Körper zu vergiften, sondern könnte mich auf das Gespräch mit meiner Familie einlassen.»
Fazit Eine offensichtlich niedrige Prävalenz und die diagnostisch unklare Abgrenzung zu anderen Essstörungen oder psychiatrischen Erkrankungen wie Zwangs- oder Angststörungen macht die klare Identifikation der Orthorexie bisher schwer möglich. Bisher konnten keine
eindeutigen Diagnosekriterien erstellt werden. Ähnli-
ches gilt auch für Behandlungsformen und Interventi-
onsmöglichkeiten in der Ernährungsberatung. Der
systemisch lösungsorientiertere Ansatz ist eine prakti-
zierte Interventionsmöglichkeit, auch wenn noch keine
evidenzbasierten Studien dazu vorliegen. Dieser zeich-
net sich durch den Einbezug des sozialen Umfeldes aus,
es werden Lösungen gefunden, statt Probleme zu ana-
lysieren, und Ressourcen und Fähigkeiten des Klienten
werden miteinbezogen.
G
Kontakt:
Shima Wyss,
BSc Ernährung und Diätetik, SVDE
Leitung Ernährungsberatung/-therapie
Departement Innere Medizin
Mühlethalstrasse 27
4800 Zofingen
E-Mail: shima.wyss@spitalzofingen.ch
Literatur:
1. Strahler J: Orthorexia nervosa: Ein Trend im Ernährungsverhalten oder ein psychisches Krankheitsbild? Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, Psychotherapeutenjournal 2018, 20–26.
2. Monika Eichholzer, Aline Richard, Nadine Stoffel-Kurt, Kathrin Favero, Sabine Rohrmann, Hanspeter Stamm, Doris Wiegand: Lebensstil, Körpergewicht und andere Risikofaktoren für nichtübertragbare Krankheiten mit Schwerpunkt Ernährung, Resultate der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2012.
3. Schwing R, Fryszer A: Systemische Beratung und Familientherapie, 5. unveränderte Auflage, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, 2018.
4. https://www.orthorexia.com/the-authorized-bratman-orthorexiaself-test/
5. Jana Strahler; Orthorexia nervosa: ein Trend im Ernärhungsverhalten oder psychisches Krankheitsbild? Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Zeitschrift für Psychotherapeutenjournal 1/2018, 24–25.
6. Cena H, Barthels F, Cuzzolora M, Bratman S, Brytek-Matera A, Dunn T, Varga M, Missbach B, Donini LM: Definition and diagnostic criteria for orthorexia nervosa: a narrative review of the literature. Eat weight Disord, 2018 Nov 9. doi: 10.1007/s40519-018-0606-y.
Merksätze:
● Die Orthorexia nervosa (ON) ist ein kontrovers diskutiertes Störungsbild mit bis heute fehlender Klassifizierung nach ICD-10 und DSM-5.
● Explizite Zuweisungen einer ON wie auch Selbstzuweisungen sind aufgrund fehlender Krankheitseinsicht und Veränderungsbereitschaft eher selten.
● Der systemisch lösungsorientierte Ansatz ist eine mögliche Beratungs- und Therapieoption bei ON. Dieser zeichnet sich durch den Einbezug des sozialen Umfeldes aus, es werden Lösungen gefunden, statt den Fokus auf das Problem und die Ursache zu lenken. Ressourcen werden miteinbezogen.
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