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FORTBILDUNG
Aktuelle S3-Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der Essstörungen: Was ist neu?
Die Diskussion über neue Störungsbilder im Bereich der Essstörungen wird kontinuierlich geführt und ist im Zusammenhang mit der Überarbeitung von Klassifikationssystemen, Diagnostik- und Behandlungsleitlinien von grosser Bedeutung. Abweichendes Essverhalten, welches zu psychischer und sozialer Belastung sowie körperlichen Beeinträchtigungen führt, kann oft nur im Kontext soziokultureller Bedingungen hinreichend erfasst und verstanden werden. Dies gilt auch für die hier diskutierten Störungsbilder. Zudem werden die überarbeiteten, aktuellen deutschen S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF [4]) vorgestellt.
Andrea Wyssen Felicitas Forrer Simone Munsch
von Andrea Wyssen1, Felicitas Forrer1 und Simone Munsch1
Einleitung
E ntsprechend den im Jahr 2013 neu ins Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, 5. Auflage, (3) aufgenommenen Störungsbildern wird in den überarbeiteten Leitlinien neben den Störungsbildern der Anorexia nervosa (AN) und der Bulimia nervosa (BN) neu auch die Binge-Eating-Störung (BES) stärker gewichtet, zudem werden weitere Formen gestörten Essverhaltens aufgenommen und Hinweise zur Diagnostik und Therapie gegeben (Kasten 1). Dies betrifft primär die «Pica», die «Ruminationsstörung» (RS) und die «Avoidant and Restrictive Food Intake Disorder» (ARFID), welche als eigenständige Störungsbilder im DSM-5 dargestellt werden, wie auch das «Night-EatingSyndrom» und die «Purging Disorder» (PD), welche im DSM-5-Kapitel «Andere näher bezeichnete Fütter- und Essstörungen» spezifiziert sind (3). Die Orthorexia nervosa (ON) wird im vorliegenden Artikel als ein Störungsbild betrachtet, das zurzeit kontrovers diskutiert wird und bisher keinen Eingang – weder in die Klassifikationssysteme noch in die Leitlinien – gefunden hat. Im Rahmen der evidenzbasierten Leitlinien können zu diesen neuen möglichen Erscheinungsformen gestörten Essverhaltens noch wenig Aussagen und Empfehlungen gemacht werden.
Beschreibung der Störungsbilder Bezüglich der Beschreibung der Störungsbilder AN, BN und BES nehmen die neuen Leitlinien die Änderungen
1 Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Fribourg.
auf, die sich durch die Überarbeitung des DSM-5 etabliert haben, unter anderem den Wegfall des Kriteriums der Amenorrhö bei der AN sowie die Aufnahme der BES als eigenständiges Störungsbild und die Relaxierung des Zeit- und Häufigkeitskriteriums bei der BN und BES (20). Darauf kann zurückgeführt werden, dass die Prävalenz der Essstörungen, die in die Restkategorie «Andere näher bezeichnete Fütter- und Essstörungen» fielen, deutlich abnahm und die Prävalenz der BN und BES anstieg (32). So liegt auf der Basis einer aktuellen Übersichtsarbeit zur Epidemiologie von Essstörungen in Europa bei Frauen die Prävalenz der AN bei 1 bis 4 Prozent, jene der BN bei 1 bis 2 Prozent und jene der BES bei 1 bis 4 Prozent; zusätzlich weisen zirka 2 bis 3 Prozent ein subklinisch gestörtes Essverhalten auf. Die Prävalenz von Essstörungen bei Männern liegt bei 0,3 bis 0,7 Prozent (23). Kasten 2 enthält eine Kurzübersicht zu den Hauptmerkmalen der Störungsbilder gemäss DSM-5 (3). Seit der Einführung des DSM-5 werden erstmals Essstörungsformen, die gehäuft im Kindes- und Jugendalter auftreten, in der gleichen diagnostischen Kategorie wie Formen gestörten Essverhaltens im Erwachsenenalter diagnostiziert. Dazu gehört Pica, welche sich durch die Einnahme von nicht essbaren Substanzen wie zum Beispiel Steine oder Sand auszeichnet, wobei berücksichtigt werden muss, dass es sich nicht um kulturelle Besonderheiten der Nahrungsaufnahme handelt. Des Weiteren die RS, welche das absichtliche Wiederhochwürgen von Nahrungsanteilen während oder kurz nach der Nahrungsaufnahme umfasst. Die Nahrung kann geschluckt oder ausgespuckt werden. Erste Studien mit Erwachsenen weisen auf Häufigkeiten von Pica und RS von zirka 0,8 bis 10,6 Prozent in kanadischen und USamerikanischen Stichproben hin (27). In einer Schweizer Stichprobe wurden bei Primarschülern Prävalenzraten für klinische Ausprägungen von Pica und RS von bis zu
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1,7 und 3,8 Prozent festgestellt. Komorbiditäten von RS und Pica waren weniger häufig. Die häufigste komorbide Störung bei Pica und RS stellte in dieser Studie die ARFID dar (27), eine Störung, welche eine unzureichende Nahrungszufuhr als Hauptmerkmal aufweist. Dies kann zu bedeutsamem Untergewicht und/oder Mangelernährung führen. Ein Ausschlusskriterium und eine Abgrenzung zur AN stellt das Merkmal dar, dass der unzureichende Ernährungszustand nicht erklärt werden kann durch die verzerrte Wahrnehmung der Figur/des Gewichts beziehungsweise das Bestreben, Gewicht zu verlieren oder es sehr gering zu halten, um Figur/Gewicht zu beeinflussen. ARFID wird bisher hauptsächlich im Kindes- und Jugendalter festgestellt, während Arbeiten zur Persistenz des Störungsbilds fehlen (25, 27). Im Alter zwischen 8 und 18 Jahren ist die Prävalenz ähnlich hoch wie bei der AN, das Ersterkrankungsalter bei der ARFID ist allerdings tiefer, und es sind vermehrt auch männliche Kinder und Jugendliche betroffen (15). Menschen mit einer ARFID zeigen oft ein stark selektives Essverhalten (geringe Vielfalt von Nahrungsmitteln) aufgrund sensorischer Eigenschaften von Nahrung und/ oder berichten von Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Verdauungsbeschwerden. Im Erwachsenenalter ist die ARFID oft verbunden mit einer starken Beschäftigung mit dem Thema Ernährung. Dies deutet eine Nähe zur im Folgenden beschriebenen ON an. Sie umschreibt ein Erscheinungsbild, bei dem eine starke Fixierung auf gesunde Ernährung und damit einhergehend eine zeitintensive Beschäftigung damit besteht. Die ON entspricht bisher keiner diagnostischen Kategorie, das heisst, es bestehen keine etablierten Kriterien zur Diagnosestellung (26). Im gegenwärtigen soziokulturellen Kontext vieler hoch entwickelter Länder stellt die Erfassung des Störungswerts zusätzlich eine Schwierigkeit dar, da eine bewusste Auseinandersetzung mit und eine Realisierung einer gesunden Ernährung weitverbreitet sind und in ausgeprägter Form auch mit einer Art «Lebensstil» in Verbindung gebracht werden. Pathologisches Ausmass nimmt die ON an, wenn Diäten sehr restriktiv sind, eine grosse Zahl von Nahrungsmittel vermieden beziehungsweise verboten wird, die Betroffenen in der Flexibilität des Essverhaltens massiv eingeschränkt sind und sie durch die zeitintensive, beinahe zwanghafte Beschäftigung mit Ernährung psychischen Leidensdruck, eine Funktionsbeeinträchtigung, körperliche Probleme oder soziale Benachteiligung erfahren. Im Unterschied zur AN ist die Nahrungsqualität, nicht die Nahrungsmenge relevant; zudem sind Motive für die Ernährungspraktiken nicht (nur) Körperbildsorgen beziehungsweise der Wunsch nach einem extrem schlanken Körper. Gemäss dieser Symptomatik wird bei der ON sowohl eine Nähe zu den Essstörungen als auch zu den Zwangsstörungen angenommen. Angaben zur Prävalenz der ON variieren stark. Gerade in Hochrisikogruppen, wie zum Beispiel bei Ernährungswissenschaftlern oder Sportlern, scheint die Prävalenz sehr hoch zu sein (bis zu 58%, vgl. [34]), wobei bei diesen Schätzungen dem Umstand, dass die Person unter der Symptomatik leidet, unzureichend Rechnung getragen wurde (7, 9, 24). Die PD erscheint im DSM-5 als Spezifizierung im Kapitel der «Anderen näher bezeichneten Fütter- und Essstörungen». Es handelt sich um ein Störungsbild, bei dem es regelmässig zu Erbrechen oder dem Missbrauch von
Kasten 1:
Was sind S3-Leitlinien?
Leitlinien enthalten systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand sowie praxisorientierte Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie eines Störungsbildes wiedergeben. Ziel ist es, den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis, eine Verbesserung des Versorgungsergebnisses sowie eine gesteigerte Therapiesicherheit und erhöhte Wirtschaftlichkeit bei reduziertem Risiko einer inadäquaten Praxis in allen Behandlungsphasen zu erreichen (18). Im deutschen Sprachraum orientieren sich Fachpersonen mehrheitlich an den S3-Leitlinien der AWMF (4). Ebenso können die englischsprachigen Guidelines des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) hinzugezogen werden (28). Die frei zugänglichen deutschen Leitlinien für Essstörungen finden sich in einer Version für Fachpersonen sowie in einer Version für Patienten und Angehörige online auf: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-026.html
Kasten 2:
Die Störungsbilder gemäss DSM-5 im Überblick (3)
G Anorexia nervosa (307.1, F50.01/F50.02): ausgeprägte Restriktion der Nahrungszufuhr, verzerrte Wahrnehmung der Figur/des Gewichts, starke Angst vor Gewichtszunahme trotz Untergewicht.
G Bulimia nervosa (307.51, F50.2): Essanfälle mit Kompensationsverhalten, übertriebener Einfluss der Figur/des Gewichts auf die Selbstbewertung.
G Binge-Eating-Störung (307.51, F50.8): Essanfälle ohne Kompensationsverhalten. G Pica (307.52, F98.3/F50.8): Essen von nicht essbaren Substanzen. G Ruminationsstörung (307.53, F98.21): «Erbrechen» von Nahrung, danach folgt
erneutes Kauen, Herunterschlucken oder Ausspucken. G «Avoidant and Restrictive Food Intake Disorder» (307.59, F50.8): Ausreichende
Nahrungszufuhr nicht möglich, keine Hinweise auf eine Störung der Wahrnehmung der Figur/des Gewichts. G «Andere näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen» (307.59, F50.8). Dazu zählen: atypische Anorexia nervosa (Gewicht im Normbereich), subklinische Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung (Kriterien der Frequenz der Essanfälle beziehungsweise des Kompensationsverhaltens oder Dauer der Störung nicht erfüllt), Purging Disorder (wiederkehrendes Erbrechen/Missbrauch von Laxanzien/Diuretika, um Gewicht/Figur ohne Essanfälle zu beeinflussen), NightEating-Syndrom (Kontrollverlust bei Nahrungsaufnahme beim Erwachen in der Nacht oder Essen grosser Nahrungsmengen nach dem Abendessen). G «Andere nicht näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen» (307.50, F50.9): verursachen Leiden und Beeinträchtigung, aber erfüllen nicht vollständig Kriterien einer der Störungen, oder es sind nicht genügend Informationen vorhanden.
Laxanzien oder Diuretika nach normalen oder kleinen Mahlzeiten zur Gewichtsreduktion oder Verhinderung einer Gewichtszunahme ohne vorhergehende Essanfälle kommt; Letzteres grenzt die PD von der BN ab. Als Abgrenzung zur AN dient unter anderem das Kriterium, dass Betroffene einer PD nicht untergewichtig sind. Es konnte gezeigt werden, dass auch bei diesem Störungsbild (ähnlich wie bei der BN und BES) negativer Affekt im Anschluss an das Erbrechen abfällt. Dies entspricht einem Affektregulationsmodell in der Aufrechterhaltung der Störung. Die Lebenszeitprävalenz der PD beträgt zwischen 1 und 5 Prozent (16, 17).
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Ähnlich wie die PD stellt auch das NES ein gestörtes Essverhalten dar, welches eine Nähe zu anderen Störungsbildern aus dem Bereich der Fütter- und Essstörungen aufweist. Das Hauptmerkmal ist der Kontrollverlust hinsichtlich des Essverhaltens. Anders als bei der BES findet der Kontrollverlust jedoch vorwiegend abends oder in der Nacht statt, sodass ein Grossteil der Nahrung von Betroffenen nach dem Abendessen eingenommen wird, während vor allem zu Beginn des Tages («morning anorexia») die Nahrungszufuhr eingeschränkt wird (2). Das Störungsbild scheint sich von anderen Essstörungen abgrenzen zu lassen und ein eigenständiges psychopathologisches Profil aufzuweisen (z.B. vermehrte Probleme mit dem Schlaf und der Impulskontrolle), und führt zu psychischem Leidensdruck; ähnlich wie die BES ist die NES zudem in vielen Fällen mit Adipositas und einem vermehrten Vorkommen anderer psychischer Störungen wie Depressionen und Angststörungen assoziiert. Die Prävalenz liegt bei zirka 1 bis 2 Prozent (14, 33).
Behandlungsempfehlungen Die S3-Leitlinien «Diagnostik und Therapie der Essstörungen» (4) wurden in allen Kapiteln überarbeitet, in vielen Teilen erweitert und gemäss dem neusten wissenschaftlichen Erkenntnisstand aktualisiert (u.a. Klassifikation gemäss DSM-5 und ICD-10, Differenzialdiagnostik, neue Daten zu Epidemiologie, Ätiologie, Verlauf und Behandlungswirksamkeit). Neben der Aktualisierung der Informationen zu den Störungsbildern AN, BN und BES bieten die überarbeiteten Leitlinien auch Informationen zur Diagnostik und Therapie der Pica, der RS, von ARFID, dem NES und der PD sowie subklinischer Essstörungen. Keine Informationen finden sich zur ON, welche bisher keinen Eingang in die Klassifikationssysteme fand. Thematisiert werden in den Leitlinien des Weiteren spezifische Risikogruppen (z.B. Leistungssportler, Tanzsportler) sowie Essstörungen bei Männern. Das Kapitel zur therapeutischen Beziehungsgestaltung und zur Behandlungs- und Veränderungsmotivation wurde in den überarbeiteten Leitlinien weiter ausgeführt, und es wurden Empfehlungen dazu explizit formuliert.
AN und BN: Studien zur Behandlung der AN und BN weisen weiterhin auf eine unzureichende Wirksamkeit hin. Eine Vollremission bei der AN kann in zirka 50 Prozent der Fälle erreicht werden, während bei 30 Prozent eine Besserung eintritt, jedoch die Störungskriterien weiterhin erfüllt werden. Bei bis zu 20 Prozent der Betroffenen mit AN zeigt sich ein chronischer Verlauf (8, 30). Die Psychotherapie ist die Behandlung der Wahl zur Therapie der AN, jedoch besteht keine ausreichende Evidenz dafür, dass eines der psychotherapeutischen Verfahren den anderen überlegen wäre (38). Allerdings liegen Hinweise auf die Wirksamkeit neuer therapeutischer Ansätze (z.B. Kognitive Remediationstherapie) und Therapieprogramme (z.B. Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment [MANTRA]) (6) vor, die in den Leitlinien besprochen werden. Die BN zeigt unbehandelt einen fluktuierenden Verlauf mit einer relativ hohen Spontanremissions-, jedoch auch einer hohen Rückfallund Rezidivrate. Behandlungen zeigen für 50 bis 70 Prozent der Betroffenen eine deutliche Besserung (12, 21). In einer Langzeitstudie mit und ohne Behandlung
konnten nach 22 Jahren Remissionsraten von 62,8 Prozent bei AN und von 68,2 Prozent bei BN gefunden werden. Während eine Remission bei der BN früher eintritt, zeigte die Studie, dass eine Remission bei der AN auch noch nach vielen Jahren der Krankheit eintreten kann (Remissionsraten nach 9 Jahren: AN: 31,4% vs. BN: 68,2%) (10). Zur Therapie der BN stellt die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), inklusive neuer Entwicklungen (dialektisch-behaviorale Therapie [DBT]), weiterhin das am besten evaluierte und mit der höchsten Evidenz belegte Verfahren dar. Auch die psychopharmakologische Behandlung mit dem SSRI (selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) Fluoxetin in Kombination mit Psychotherapie erwies sich als wirksam.
BES: Der Verlauf der BES-Symptomatik zeichnet sich aus durch eine hohe Spontanremissionsrate in der Anfangsphase der Störung. Zirka zwei Drittel der Betroffenen berichten nur 1 Episode der BES und eine Spontanremission innerhalb eines Jahres, während ein Drittel der Betroffenen 2 oder mehrere Episoden oder eine persistierende BES erleiden. Bei voller Ausprägung zeigt die BES eine Tendenz zur Chronifizierung. Als Therapie der Wahl gilt die Psychotherapie mit den bisher besten Wirksamkeitsbelegen für die KVT und die Interpersonelle Psychotherapie (IPT). Die Behandlung zeigt in vielen Studien erfreuliche kurz- und langfristige Ergebnisse mit Remissionsraten von bis zu 80 Prozent (11, 13, 29, 35).
Pica, RS, ARFID, PD und NES: In den neu bearbeiteten Leitlinien finden sich Kapitel, welche die Diagnostik und Therapie von subklinischen Essstörungen sowie von Pica, RS, ARFID, PD und NES aufgreifen – soweit der aktuelle Erkenntnisstand dies zulässt. Keine Informationen finden sich in den neuen Leitlinien zur ON. In der Vorgängerversion der Leitlinien, die 2011 publiziert wurde, wurde die ON kurz aufgegriffen, und es wurde angemerkt, dass bei «orthorektischem» Verhalten eine mögliche zugrunde liegende Essstörung abgeklärt werden sollte. Hinsichtlich der subklinischen Essstörungen empfehlen die Leitlinien eine systematische klassifikatorische Diagnostik sowie die Anwendung einer Behandlung analog zur Behandlung der Vollbilder. Des Weiteren wird Bezug genommen auf die Anwendung von internetbasierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programmen, welche bisher als Interventionen für diese Störungsbilder am besten untersucht und im Hinblick auf die Reduktion der Essstörungssymptome wirksam zu sein scheinen (4). Pica beginnt typischerweise in der Kindheit, weist eine hohe Spontanremission auf und persistiert selten bis ins Jugend- oder gar Erwachsenenalter. Bisher bestehen keine empirisch fundierten Behandlungsempfehlungen. Eine medizinische Abklärung ist aufgrund der Gefahr von Begleiterkrankungen und Mangelernährung empfohlen. Es können verhaltenstherapeutische Interventionen erwogen werden (4, 22). Ruminationsstörung: Der Beginn der RS kann in jedem Alter liegen. Mit Beginn im Säuglingsalter ist eine hohe Spontanremission zu verzeichnen. Erste kontrollierte Behandlungsstudien mit einem EMG-Biofeedbacktraining zur erhöhten abdominal-thorakalen Muskulatur zeigen positive Ergebnisse (5). Empirisch fundierte Be-
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handlungsempfehlungen können auch für die RS noch nicht gemacht werden. In den Leitlinien empfohlen wird auch bei diesem Störungsbild eine somatische Abklärung (4). ARFID: Desinteresse am Essen und die Vermeidung von Nahrung aufgrund sensorischer Merkmale bei der ARFID tritt mehrheitlich erstmals im ersten Lebensjahrzehnt auf, während die Vermeidung von Nahrung aufgrund antizipierter negativer Folgen in jedem Alter entstehen kann. Bisher fehlen systematische Untersuchungen zum Verlauf (4). Zur Behandlung wird empfohlen, sich an den Leitlinien für psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter zu orientieren (36). Es bestehen Hinweise, dass verhaltenstherapeutische Interventionen (u.a. Mahlzeitenstruktur) mit Einbezug der Eltern zielführend sind. Aufgrund des Risikos von Mangelernährung ist eine medizinische Abklärung notwendig. Falls keine medizinische Gefährdung (z.B. aufgrund gravierenden Untergewichts) vorliegt, kann die Behandlung ambulant stattfinden (4). Night-Eating-Syndrom: Zum NES fassen die Leitlinien zusammen, dass KVT, progressive Muskelrelaxation und die pharmakologische Behandlung mit SSRI in Erwägung gezogen werden können, jedoch ist die Evidenzgrundlage noch relativ schwach. Des Weiteren wird aufgrund möglicher somatischer Begleiterkrankungen eine medizinische Abklärung empfohlen (4). Purging Disorder: Für die PD können aufgrund der Datenlage keine spezifischen Behandlungsempfehlungen abgeleitet werden, und es wird daher empfohlen, analog zur Behandlung der BN vorzugehen. Die möglichen somatischen Folgen des Purging-Verhaltens sollten abgeklärt werden (4).
Ausblick und Fazit Die Neubearbeitung des Kapitels «Fütter- und Essstörungen» im DSM-5 (3) hat den Vorteil, dass man Essstörungen im Kindes- und Erwachsenenalter innerhalb der gleichen Kategorie diagnostizieren kann, was hoffentlich Längsschnittstudien zum Verlauf verschiedener Essstörungspathologien fördert. Zudem hat die Einführung des DSM-5 dazu geführt, dass weniger Patienten in die Restkategorie «Andere näher bezeichnete Fütter- und Essstörungen» und «Nicht näher bezeichnete Fütterund Essstörungen» fallen, was Vorteile hinsichtlich der
diagnostischen Genauigkeit und Spezifität der Behand-
lung mit sich bringt (11). Ebenso ist es für die Bereitstel-
lung einer adäquaten Behandlung wichtig, dass auch
die diagnostischen Restkategorien beachtet werden, in
denen Störungsbilder beschrieben werden und wo
noch ungenügende empirische Evidenz besteht. Ob
sich gewisse Störungsbilder etablieren und ob in Zu-
kunft auch zu diesen genaue Diagnosekriterien und Be-
handlungsleitlinien vorliegen, hängt unter anderem
davon ab, wie stark diese neuen Störungsbilder be-
forscht werden. Ebenso ist eine Überpathologisierung
von nicht exakt der Norm entsprechendem Essverhal-
ten zu verhindern; jedoch trägt die Forschung zu neuen
Störungsbildern zu einem besseren Verständnis von
Essstörungen bei, die sich in ihrem Erscheinungsbild ab-
hängig von soziokulturellen Bedingungen auch verän-
dern können. Eine genaue Beschreibung und valide/
reliable Diagnosen begünstigen die adäquate Zuord-
nung zu spezifischen psychotherapeutischen Verfahren.
Die Erkennung von subklinischen Essstörungen kann
zudem ein wichtiger Schritt im Bereich der Früherken-
nung darstellen, was die Behandlungserfolge erhöht (39).
Bei allen genannten Störungsbilder aus dem Bereich
der Essstörungen schlagen die Leitlinien ein stufenwei-
ses Vorgehen («stepped care») vor, welches in erster
Linie eine ambulante Behandlung vorsieht, oder –
wenn möglich – als ersten Schritt ein angeleitetes
Selbsthilfeprogramm. Für solche Programme liegen bei
der BN und BES gute erste Wirksamkeitsbelege vor (1,
37). Entscheidend ist und bleibt die Früherkennung
und die oft schwer zu beantwortende Frage, welches
therapeutische Vorgehen bei welchem Patienten am
meisten Erfolg verspricht. Dazu bedarf es in Zukunft
weiterer Forschung, welche die Frage nach Prädiktoren
des Behandlungsverlaufs und -ergebnisses ins Zen-
trum rückt.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Andrea Wyssen
Universität Fribourg
Departement für Psychologie
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Rue de Faucigny 2
1700 Fribourg
E-Mail: andrea.wyssen@unifr.ch
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