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Gruppentherapie KONTAKT für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS): Ein Erfahrungsbericht
Die therapeutische Begleitung von Jugendlichen mit ASS wird in diesem Artikel am Beispiel der KONTAKT-Gruppentherapie der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik Basel vorgestellt. Diskutiert werden insbesondere die möglichen psychotherapeutischen Effekte über die manualisierten Inhalte hinaus anhand eines Erfahrungsberichtes.
von Charlotte Gwerder und Evelyn Herbrecht*
Einleitung
M enschen mit ASS sind häufig an sozialen Kontakten interessiert, haben aber Mühe, diese aufzubauen und sich dabei wohlzufühlen. Nebst den störungsbedingten sozialen Schwierigkeiten ist es konsekutiv auch der Mangel an Übungsmöglichkeiten, der diese verstärkt (1). Gruppentherapeutische Ansätze bieten hier gegenüber dem Einzelsetting den Vorteil, die sozialen Lernmöglichkeiten direkt zu nutzen, um sich auf den Alltag vorzubereiten. Die ersten gruppentherapeutischen Ansätze spezifisch für Menschen mit ASS stammen aus den Achtzigerjahren (2, 3) und fokussierten auf die Verbesserung von Kommunikationsund Interaktionsfähigkeiten sowie auf die Vermittlung positiver Gruppenerfahrungen. Diese Kernbereiche gelten auch heute noch als zentrale Inhalte verschiedener gruppentherapeutischer Ansätze. Studien haben gezeigt, dass umfassende, verhaltenstherapeutisch orientierte Interventionsprogramme, die alltagsbezogene Fertigkeiten mithilfe konkreter praktischer Übungen trainieren, dem Training spezifischer neuropsychologischer Fähigkeiten, wie zum Beispiel der «Theory-ofMind», deutlich überlegen sind (4). Bewährte Techniken sind soziales Modelllernen, komplexe soziale Fertigkeiten in Einzelfertigkeiten/Regeln zerlegen und direkt einüben und positiv verstärken, zum Beispiel im Rollenspiel oder mithilfe von Gruppen- und Videofeedback. Darüber hinaus ist das Erleben einer unterstützenden Atmosphäre, in der Ängste abgebaut und positive Beziehungserfahrungen gesammelt werden können, sehr wichtig. Ein kritisches Ziel bleibt immer die Generalisierung von Fertigkeiten in den Alltag, was unter anderem mittels Hausaufgaben und Treffen mit Gleichaltrigen ausserhalb des Gruppenkontextes adressiert wird.
Gruppentherapieprogramm KONTAKT Wir stellen unsere Gruppentherapie mit Jugendlichen auf der Basis des KONTAKT-Gruppentrainings vor (5, 6), das zunächst 2009 in einer Pilotstudie in Frankfurt evaluiert wurde (7). Eine randomisierte, kontrollierte Studie in Schweden hat insbesondere bei längerer im Ver-
* Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik, UPK, Basel
gleich zu kürzerer Durchführungsdauer die Wirksamkeit in Bezug auf soziale Kommunikationsfertigkeiten bestätigt (8, 9). Ziel unserer KONTAKT-Gruppentherapie in Basel ist es, den Betroffenen einerseits ein strukturiertes Lernfeld bezüglich ihrer Interaktions- und Kommunikationsschwierigkeiten anzubieten, andererseits darüber hinaus ihre ganz persönlichen Konflikte, Unsicherheiten und alltäglichen schwierigen sozialen Situationen mit anderen Betroffenen zu besprechen. Es soll also weniger ein hochstrukturiertes Lernprogramm sein, denn ein semistrukturierter und moderierter Raum für prozessorientierte Erfahrungen zwischen den Jugendlichen.
Ziele Ziele des Kontaktprogrammes sind: G lernen, Kontakt aufzunehmen G soziale Regeln erkennen, erlernen und einhalten G Training von Selbst- und Fremdwahrnehmung G Konfliktlösestrategien erarbeiten und einüben G soziale Kompetenzen einüben (z.B. aufeinander
Rücksicht nehmen, sich entschuldigen, sich achten) G soziale Konstrukte verstehen (wie z.B. Freundschaft,
Beziehungen innerhalb der Schule, Arbeitswelt) G Stärkung von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit G Reduktion sozialer Angst G Erlernen von Strategien zur Emotionsregulation G Stabilisierung der emotionalen Befindlichkeit.
Inhalt In Basel verfolgen wir zunehmend den Ansatz, Jugendlichen zuerst in einem Basismodul, das über 10 Sitzungen à 90 Minuten geht, Wissen über die ASS und Möglichkeiten zum Einüben von Fertigkeiten in der Kommunikation/Interaktion zu vermitteln. Die Psychoedukation spielt eine wichtige Rolle. Mit einem Stufenmodell können unterschiedliche Theoriebausteine, je nach Entwicklungsniveau und dem Ausmass der autistischen Symptomatik der Gruppenmitglieder, eingesetzt werden. Am Anfang gilt es, einen guten Gruppenkontakt herzustellen und sich in diesem Rahmen sicher zu fühlen. Viele Jugendliche beteiligen sich rege am Geschehen, sind kritisch, erkennen sich nicht immer in den allgemeinen Beschreibungen der ASS, was zu angeregten Diskussionen führen kann. Mit Aufgaben zur Emotionserkennung in einfachen und komplexeren Situationen, dem Bearbeiten komplexer sozialer Gegebenheiten mit-
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tels Bildgeschichten, Filmausschnitten werden die Jugendlichen angeregt, mitzudenken, sich gegenseitig anzuleiten und Neues auszuprobieren. Small Talk wird geübt, soziale Regeln werden gemeinsam erarbeitet, abhängig von der jeweiligen Beziehungssituation diskutiert und mit eigenen Erfahrungen ergänzt. Die Jugendlichen sollen eigene Themen und aktuelle Erfahrungen einbringen. Auf Wunsch vieler Jugendlicher bieten wir neu auch längere, bis zu einem Jahr dauernde Gruppentherapien an, die manchmal im Verlauf auch mit neuen Teilnehmern ergänzt werden, was einer offenen Gruppe näherkommt und sich zu einer reinen Gesprächsgruppe entwickelt hat. Hier erleben wir die Jugendlichen zunehmend spontaner und differenzierter. Sie geben sich gegenseitig konstruktive, kritische Feedbacks und tasten sich auch an schwierige persönliche Themen heran. Sie beginnen mit der Zeit miteinander via soziale Medien zu schreiben, in einigen Fällen abzumachen, und manchmal entwickeln sich gar längerfristige Freundschaften daraus. Eine vertiefte Auseinandersetzung und psychotherapeutische Arbeit ist so möglich.
Erfolgsfaktoren Wir gehen davon aus, dass die Übertragbarkeit der sozialen Lerneffekte in der Gruppentherapie gegenüber dem Einzelsetting aufgrund komplexerer Übungsmöglichkeiten und stärkerer emotionaler Involviertheit höher ist. Gleichzeitig realisieren die Teilnehmer, dass andere Gleichaltrige zwar die gleiche Diagnose haben, sich die Schwierigkeiten aber individuell sehr verschieden zeigen können. Dies fördert das Verständnis für die eigenen Schwierigkeiten, aber auch den Perspektivenwechsel. Die Übersetzungsarbeit emotionaler Inhalte durch die Gruppenleitung ermöglicht es den Teilnehmern, Erlebtes besser im Kontext zu verstehen, zu vernetzen und angemessener darauf zu reagieren. In der Langzeitgruppe findet durch wiederholtes soziales Üben spontan eine Anwendung des Gelernten statt. Einige Gruppenmitglieder betonten, dass sie erstmals in der Gruppe nähere Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen konnten und dadurch in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt wurden. Ein Jugendlicher der Gruppe informierte ein neues Mitglied folgendermassen: «Dies hier ist gar nicht wie Schule, obwohl du hier viel lernen kannst. Es geht um uns, wie wir miteinander umgehen.» Die Wirksamkeit von gruppentherapeutischen Angebo-
Merkpunkte:
G Menschen mit ASS interessieren sich häufig für soziale Kontakte. G Der Gruppenrahmen bietet ein ideales Lernfeld für soziale Interaktionen/Kom-
munikation. G Neben dem Erlernen von spezifischen Techniken und Strategien ist die Gestal-
tung eines psychotherapeutischen Settings bedeutsam für die Wirksamkeit. G Die Übertragbarkeit auf den Alltag ist im Gruppenrahmen, vor allem wenn mit
Anwendungshausaufgaben ergänzt, besser als im Einzelsetting. G Länger bestehende Gruppen und ein offeneres Setting mit Raum für persönli-
ches Sicheinbringen werden von den Jugendlichen als Entlastung wahrgenommen und stärkt das Selbstbewusstsein. G Der Übergang von der Gruppentherapie zu Freizeitbeschäftigungen im Gruppenrahmen sollte verbessert werden.
ten für Menschen mit ASS wurde vielfach bestätigt, wenn auch die Effekte bei den Bezugssystemen Eltern, Betroffene oder Schule/Arbeit unterschiedlich wahrgenommen werden und kein klarer Trend dazu besteht (10).
Unterschiede zu anderen therapeutischen Jugendgruppen Generell zeigen sich in der ASS-Gruppe ähnliche Schwierigkeiten wie in anderen Jugendgruppen. Dazu zählen die Angst, sich zu öffnen, wenig Motivation oder (seltener) plötzliches Fernbleiben. Anders ist aber die Art der Wahrnehmung und der Reaktionen. Die Jugendlichen können sich teilweise sehr direkt, eventuell auch etwas ungeschickt Rückmeldungen geben, was therapeutisch gut genutzt werden kann. Sie sind oftmals weniger schnell betroffen, das heisst, können manchmal besser mit Kritik umgehen als Nichtbetroffene. Seltener gibt es auch hochempfindliche Mitglieder, die sich selbst sehr kritisch betrachten und Schwierigkeiten zeigen, ihre Diagnose zu akzeptieren, was Widerstand hervorruft. Es zeigen sich autismusspezifische Verhaltensbesonderheiten wie Monologisieren oder auch Passivität in der Konversation, mangelnde Selbststrukturierung, Pedanterie, konkretistisches Verständnis und Verhaltensrigidität, die im Gruppensetting gut genutzt und so auch alltagsgerecht therapeutisch angegangen werden können. Insgesamt sind es aber oft die gleichen Themen, die beschäftigen, wie bei Nichtbetroffenen, zum Beispiel Freundschaft, Liebe, Ausbildung, soziale Unsicherheiten, Stress in der Familie, überdurchschnittlich häufig Mobbingerfahrungen oder Situationen, in denen sie sich ungerecht behandelt fühlen.
Herausforderungen und Ausblick
Die Rekrutierung der Gruppenteilnehmer gestaltet sich
bezüglich Teilnahmemotivation, Zeitmanagement, Orga-
nisation und Gruppenzusammensetzung oft schwierig.
Trotz gemeinsamer Voraussetzung einer hochfunktiona-
len ASS sind die Jugendlichen bezüglich Ausprägung
und Komorbiditäten (oft ADHS, Depression, soziale
Angst) sehr verschieden. Hierauf sollte bei der Gruppen-
zusammenstellung besonders geachtet werden.
Sinnvoll wäre es, für verschiedene Altersgruppen neben
modular aufgebauten Gruppentherapien längerfristige
psychotherapeutische Gruppen anzubieten und dar-
über hinaus den Übergang von der klinischen Gruppe
zur Teilnahme an einer Freizeitbeschäftigung zu ge-
währleisten. Gerade gemeinsam sportlich oder kreativ
aktiv zu sein, birgt ein grosses Potenzial in sich, das lei-
der noch viel zu wenig realisiert wird. Dies wiederum
wäre durch Zusammenarbeit zwischen klinischen und
pädagogischen oder freizeitmässigen Institutionen eher
realisierbar.
G
Korrespondenzadresse:
Lic. phil. Charlotte Gwerder
Fachpsychologin Kinder- und Jugendpsychologie
und Psychotherapie FSP
Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Kornhausgasse 7
4051 Basel
E-Mail: charlotte.gwerder@upkbs.ch
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Literatur:
1. Williams White S et al.: Social skills development in children with autism spectrum disorders: A review of the intervention research. J Autism Dev Disorders 2006; 37: 1558–1868.
2. Mesibov GB: Social skills training with verbal autistic adolescents and adults: a programme model. J Autism Dev Disord 1984; 4: 395–404.
3. Williams TI: A social skills group for autistic children. J Autism Dev Disord 1989; 19: 143–155.
4. Freitag CM: Autistic disorders – the state of the art and recent findings: epidemiology, aetiology, diagnostic criteria, and therapeutic interventions. Kinder Jugendpsychiatr Psychother 2012; 40(3): 139–148.
5. Herbrecht E, Poustka F: Frankfurter Gruppentraining für Kinder und Jugendliche mit autistischen Störungen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007; 35: 33–40.
6. Herbrecht E et al.: KONTAKT. Frankfurter Kommunikations- und soziales Interaktions-Gruppentraining für Autismus-Spektrum-Störungen: Therapiemanual. Hogrefe, Göttingen, 2007.
7. Herbrecht E et al.: Pilot evaluation of the Frankfurt Social Skills Training for children and adolescents with autism spectrum disorder. Eur Child Adolesc Psychiatry 2009; 18(6): 327–335.
8. Choque Olsson N et al.: Social Skills Training for Children and Adolescents With Autism Spectrum Disorder: A Randomized Controlled Trial. 2017; 56(7): 585–592.
9. Jonsson U et al.: Long-term social skills group training for children and adolescents with autism spectrum disorder: a randomized controlled trial. Eur Child Adolesc Psychiatry 2018; May 10. doi: 10.1007/s00787-018-1161-9. [Epub ahead of print]
10. Gates JA et al.: Efficacy of group social skills interventions for youth with autism spetrum disorder: a systematic review and meta-analysis. Clin Psychol Rev 2017; 52: 164–181.
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