Transkript
FORTBILDUNG
Gruppentherapie KOMPASS für Jugendliche und junge Erwachsene mit einer Autismus-SpektrumStörung (ASS)
Das Kompetenztraining in der Gruppe für Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung (KOMPASS) wurde 2004 im Ambulatorium Zürich der Psychiatrischen Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie von Bettina Jenny und Philippe Goetschel entwickelt und wird seit 2005 regelmässig durchgeführt. Es umfasst das sogenannte KOMPASS-Basistraining (2) und das Gruppenprogramm KOMPASS-F für Fortgeschrittene (3).
von Bettina Jenny
Ziele
K OMPASS soll Menschen mit einer ASS helfen, die soziale Welt zu entdecken und zu erforschen, sich in der sozialen Umgebung zurechtzufinden und darin «navigieren» zu können. Im Training wird das soziale Verständnis gefördert, unter anderem für das sogenannte «Hidden Curriculum». Damit sind die als selbstverständlich betrachteten, impliziten sozialen und kulturellen Regeln, Konventionen und Werthaltungen, die den meisten «typischen» Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen klar sind, gemeint. Die Teilnehmer sollen soziale Handlungsmöglichkeiten mit Freiraum für individuelle Ausgestaltung erlernen und erfahren, dass sie mit ihren sozialen Schwierigkeiten nicht allein dastehen, sondern einer «Schicksalsgemeinschaft» angehören. In der KOMPASS-Gruppe werden auch die (sozialen) Stärken betont, es wird auf ihnen aufgebaut, und sie werden zur Identitätsentwicklung genutzt. Längerfristig geht es auch um eine Veränderung des Selbstkonzepts und die Integration bisheriger und neuer sozioemotionaler Erfahrungen, die durch das technische Erlernen sozialer Kompetenzen (z.B. wechselseitige, soziale, persönliche Gesprächsführung, Entwicklung von Freundschaften) ermöglicht wurden. Verbessert werden soll auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Das Verständnis dafür wird gefördert, was die soziale Umwelt von Menschen mit einer ASS implizit erwartet und wie die Betroffenen diese Erwartungen nicht erfüllen. Ganz im Sinne von Watzlawicks «Man kann nicht nicht kommunizieren» (4) wird das Bewusstsein für die eigenen sozialen Signale (z.B. steife Körperhaltung, Monologisieren) geweckt, mit denen sie ständig, auch unbeabsichtigt, kommunizieren. Den Teilnehmern soll bewusst werden, dass sie laufend Bewertungen unterworfen sind und diese auch dann erfolgen, wenn sie etwas (z.B. nonverbale Kommunikation, Blickkontakt, soziales Lächeln) nicht tun oder wenn sie selbst von Bewertungen absehen. So lernen sie, den Eindruck, den sie bei anderen hinterlassen, bewusster zu steuern und nicht mehr nur Opfer von Fehlinterpretationen aufgrund ungenauer oder nicht so beab-
sichtigter Signale zu bleiben. Sie erleben sich als selbstwirksam, was ihr Selbstvertrauen stärkt.
Ansatz Die Grundhaltung bei KOMPASS ist personenzentriert und ressourcenorientiert. Der Respekt vor den manchmal andersartigen Bedürfnissen und dem «anderen» Erleben von Menschen mit einer Störung aus dem autistischen Spektrum steht im Zentrum. Der Begriff Kompetenztraining soll betonen, dass Menschen mit einer ASS über viele Kompetenzen verfügen, die als Ressourcen eingesetzt werden können, dass sie aber auch neue Kompetenzen erlernen. Auf der Ebene der Techniken werden auch verhaltenstherapeutische Elemente und TEACCHTechniken (1) einbezogen.
Inhalt Im KOMPASS-Basistraining werden grundlegende soziale Fertigkeiten im Gruppensetting in 25 bis 30 Terminen vermittelt und eingeübt. G Modul «Emotionen»: emotionaler Wortschatz (30–40
Begriffe); mimisches und stimmliches Erkennen und Ausdrücken von zirka 20 verschiedenen Emotionen; Reagieren auf Gefühle anderer. G Modul «Small Talk»: typische Small-Talk-Themen; Gesprächsstruktur, die zu wechselseitiger Kommunikation verführt. G Modul «Nonverbale Kommunikation»: Zeigen und Verstehen der Bedeutung verschiedener Merkmale von Körpersprache wie Körperhaltungen im Sitzen und Stehen, Nähe/Distanz, Blickkontakt, konventionelle, emotionale und ironische Mimik, beschreibende, instrumentelle, konventionelle und emotionale Gestik sowie stimmliche Gestaltungsmittel wie Lautstärke, Betonung, Sprechtempo, Pausen und Prosodie; Schaffen eines guten Ersteindrucks.
Im KOMPASS-Fortgeschrittenentraining wird auf den sozialen Basisfertigkeiten aufgebaut. Um diese Fertigkeiten zu besprechen und einzuüben, sind zirka 40 Gruppentermine notwendig. In den F-Gruppen an der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie (KJPP) wurde jeweils nur eine Auswahl der Themen bearbeitet, da im Schnitt nur 25 Termine zur Verfügung stehen.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
G Modul «Komplexe Kommunikation»: Erlebnisaustausch, Gruppengespräche, Signale des aktiven Zuhörens; bildliche Sprache, Witze, Jugendsprache und Ironie; konstruktives Feedback, Argumentieren, konstruktive Streitgespräche.
G Modul «Komplexe Interaktion»: Konzept «Freundschaft», Entwicklung von Freundschaft, Konzept der sozialen Reziprozität, Komplimente, Grussmitteilungen; Partner- und Teamarbeit; Kompromisse schliessen.
G Modul «Theory of Mind»: Perspektivenwechsel, Empathie, Bilden sozialer Hypothesen, ungeschriebene soziale Normen, soziale Hierarchen, Erscheinungsbild, soziale Lügen.
Aufbau KOMPASS ist kein Manual mit fixen Gruppenstunden, sondern eine Materialsammlung in zwei Praxishandbüchern. Die Therapeuten können sich mittels der Infoblätter, die zu jedem Unterthema zur Verfügung stehen, über die soziale Fertigkeit sowie im Praxishandbuch über deren didaktische Vermittlung informieren. Dann suchen sie sich diejenigen Übungen, Arbeitsblätter und Beobachtungsprotokolle heraus, die sie für die individuelle Zusammensetzung ihrer Gruppe benötigen, um die anvisierten Ziele zu erreichen. Es sollte immer ausreichendes Material zur Verfügung stehen, um auch schwächeren Teilnehmern ausreichendes Üben zu ermöglichen. Das Material kann jeweils via Zugangscode von der Verlagshomepage heruntergeladen werden. Der Ablauf der Gruppensitzungen ist klar strukturiert und umfasst nach der Begrüssung eine Befindlichkeits- beziehungsweise Erfahrungsaustauschrunde sowie thematisch zusammengehörende kurze Theorieinputs und Übungen. Dazwischen gibt es eine Snackpause, die auch dem freien Austausch dient. Jedes Mal werden Trainingsaufgaben verteilt, durch die Gelerntes durch das Ausfüllen eines Arbeitsblattes oder eine Übung mit einer Bezugsperson gefestigt, Neues mittels Beobachtungsprotokollen entdeckt oder der Teilnehmer zur Selbstreflexion angeregt wird. Im Verlauf beider Trainings finden jeweils drei Informationsabende für Eltern und weitere Bezugspersonen (z.B. Lehrpersonen, Ausbilder) statt.
Evaluation Die acht Monate dauernde KOMPASS-Basisgruppe (KOMPASS-B Interventionsgruppe n = 108) wurde in einer Prä-Post-Verlaufsuntersuchung mit einer WarteKontrollgruppe (n = 65) über acht Monate verglichen, wobei die Wartegruppe mit einer Standardbehandlung (treatment as usual, TAU) betreut wurde. Bei KOMPASS-F (n = 52) stellte die Katamnesegruppe derjenigen, die nach dem Basistraining die Fortsetzungsgruppe nicht besucht haben, die Kontrollgruppe (n = 63) dar, die dann nur noch TAU erhalten hat oder gar nicht mehr therapeutisch betreut wurde. Die Probanden beider Gruppentrainings wurden ein Jahr nach Therapieende nachuntersucht, um die Langzeiteffekte des Trainings zu überprüfen. Zudem wurde das Basistraining auch mit einer externen Gruppe (n = 35), in der die Therapeuten nur das Praxishandbuch nutzten und nicht durch die Hauptautorin supervidiert wurden, verglichen, um die Tauglichkeit des Praxishandbuchs zu prüfen. Für beide Trainings standen Fragebogenangaben der Eltern, in geringerem Masse der Schule beziehungsweise der Aus-
bildung und der Therapeuten zur Verfügung. Zudem wurden von den Teilnehmern prä-post klinische Testdaten erhoben, und die KOMPASS-F-Teilnehmer füllten einen Fragebogen zu Gruppenkompetenzen aus. Sowohl KOMPASS-B als auch KOMPASS-F zeigen nach Beobachtung der Eltern im Vergleich zu den jeweiligen Kontrollgruppen eine gute Wirksamkeit in Bezug auf die Reduktion der autistischen Verhaltensweisen und der allgemeinen Psychopathologie als auch in Bezug auf die Verbesserung der Gruppenkompetenzen. Im Verlauf sank die autistische Symptomatik in allen Bereichen immer weiter signifikant ab, und die sozialen Kompetenzen nahmen signifikant zu. Auch ein Jahr nach Ende des Basis- beziehungsweise des Fortgeschrittenentrainings waren die Verbesserungen signifikant und deutlich sichtbar. Teilnehmer, die nach dem Basistraining noch KOMPASSF besucht haben, ziehen daraus einen zusätzlichen Gewinn. Die signifikante Zunahme der sozialen Fertigkeiten lässt sich auch durch testpsychologische Verfahren zeigen. Die Teilnehmer von KOMPASS-F nehmen bei sich selbst eine deutliche Zunahme der sozialen Gruppenfertigkeiten wahr. Die Therapeuten beobachten eine hoch signifikante Steigerung der sozialen Fertigkeiten und Gruppenkompetenzen während des KOMPASSBasistrainings, sodass die Teilnehmer dann die entsprechenden Verhaltensweisen mehr oder minder gleich häufig wie Gleichaltrige ohne eine autistische Beeinträchtigung zeigen. Entsprechend ist bei KOMPASS-F kaum mehr eine Steigerung möglich, und es wird auch keine bedeutsame Verbesserung mehr beobachtet. Die Lehrer und Ausbilder hingegen beobachten zwar während des Basisgruppentrainings eine deutliche Zunahme der Gruppenfertigkeiten, eine verbesserte soziale Bewusstheit und weniger autistische Manierismen sowie eine, wenn auch nicht signifikante Verbesserung der allgemeinen sozialen Reaktivität, doch diese Verbesserungen sind zumindest in der Probandengruppe, die nicht noch KOMPASS-F besucht, nicht nachhaltig. Während des Fortgeschrittenentrainings hingegen und erst recht ein Jahr später zeigen sich signifikante Verringerungen der autistischen Symptomatik generell, eine Verbesserung der sozialen Kommunikation und Motivation im Besonderen sowie eine signifikante Reduktion der allgemeinen Psychopathologie wie auch eine Zunahme der sozialen Kompetenzen. Es wurden für KOMPASS-B wie auch für KOMPASS-F sowohl bei den Einschätzungen der Eltern, der Ausbildner und der Teilnehmer als auch in allen Fragebögen keine moderierenden Effekte in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe, dem Geschlecht, der Intelligenz oder dem Vorliegen einer komorbiden Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität gefunden. Den einzigen signifikanten Moderator stellt der Prä-Wert dar: Je höher die Symptomatik in den Symptomfragebogen beziehungsweise je geringer die Werte im Kompetenzfragebogen sind, desto grösser sind die Fortschritte. Gerade Teilnehmer mit einer hohen Symptombelastung und geringeren sozialen Ressourcen profitierten also mehr von der KOMPASSBehandlung. Das Praxishandbuch hat sich als tauglich erwiesen und ermöglicht externen Therapeuten vergleichbare Effekte. Die Teilnehmer und die Eltern sind mit der Behandlung zufrieden. Detaillierte Angaben zur Evaluation finden sich in KOMPASS-F (3).
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FORTBILDUNG
Ausblick Es wäre sicher wünschenswert, wenn die vorliegenden sehr positiven Ergebnisse in einer hochsystematischen klinischen Studie gegen eine randomisierte und allenfalls mit einer anderen Gruppenintervention behandelte Kontrollgruppe repliziert werden könnten. Zudem
Merkpunkte:
G KOMPASS soll Menschen mit einer ASS helfen, die soziale Welt zu entdecken und zu erforschen, sich in der sozialen Umgebung zurechtzufinden und darin «navigieren» zu können.
G Die Grundhaltung bei KOMPASS ist personenzentriert und ressourcenorientiert. G Im KOMPASS-Basistraining werden grundlegende soziale Fertigkeiten im Grup-
pensetting in 25 bis 30 Terminen vermittelt und eingeübt. Im KOMPASS-Fortgeschrittenentraining wird auf den sozialen Basisfertigkeiten aufgebaut. G KOMPASS ist kein Manual mit fixen Gruppenstunden, sondern eine Materialsammlung in zwei Praxishandbüchern.
würde sich KOMPASS auch für eine Adaptation für
Gruppen mit Kinder im Primarschulalter eignen. G
Korrespondenzadresse:
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie (KJPP)
Fachstelle Autismus
Dr. phil. Bettina Jenny
Neumünsterallee 3, Postfach 233
8032 Zürich
E-Mail: bettina.jenny@puk.zh.ch
Literatur:
1. Häussler A: (2005). Der TEACCH Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus: Einführung in Theorie und Praxis. Borgmann Media.
2. Jenny B, Goetschel P, Isenschmid M, Steinhausen HC: KOMPASS – Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen: Ein Praxishandbuch für Gruppen- und Einzelinterventionen. Stuttgart: Kohlhammer 3, 2011.
3. Jenny B, Goetschel Ph, Schneebeli, Köpfl S, Walitza S: (voraussichtlich Okt. 2018). KOMPASS-F: Zürcher Kompetenztraining für Fortgeschrittene für Jugendliche und junge Erwachsene mit einer AutismusSpektrum-Störung: Ein Praxishandbuch für Gruppen- und Einzelinterventionen. Stuttgart: Kohlhammer.
4. Watzlawick P, Beavin J H, Jackson D D: Menschliche Kommunikation. Bern: Huber. 1969.
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