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FORTBILDUNG
Elternarbeit in der intensiven Frühintervention bei Autismus-Spektrum-Störungen: Gelingfaktoren am Beispiel des FIAS-Ansatzes
Esther Kievit
FIAS (Frühintervention bei autistischen Störungen) ist ein autismusspezifisches intensives Frühinterventionsangebot der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Basel. Pro Jahr werden im Therapiezentrum zehn Familien mit einem autistischen Kleinkind für die Intensivbehandlung mit teilstationärer Initialphase aufgenommen (6 Stunden pro Tag über 3 Wochen). In der anschliessenden Nachsorge durch einen FIAS-Therapeuten werden die neu erlangten Fähigkeiten etabliert und ausgebaut. Die Erkenntnisse der letzten Jahre zeigen die grosse Bedeutung der Nachbetreuung im häuslichen Umfeld, auf deren Gelingfaktoren hier näher eingegangen wird.
von Esther Kievit, Nicolas Krückeberg*, Julia Brunner Rast* und Evelyn Herbrecht*
Grundlagen
D as FIAS-Therapiezentrum wurde 2010 eröffnet. Das Konzept leitet sich von der Mifne-Methode ab (1). Für die dreiwöchige Initialphase wird die gesamte Kernfamilie mit den Geschwisterkindern aufgenommen. Sie wohnt während der Behandlung in einer für sie zur Verfügung gestellten Wohnung in der Nähe des Therapiezentrums. Der Ortswechsel für die Initialphase vereinfacht den Eltern einerseits die Fokussierung auf die Therapie. Andererseits können bisherige Verhaltensweisen hinterfragt, verändert und erprobt respektive bei der Heimkehr zielführend umgestellt werden (zweifacher Situationswechsel). Autistische Kinder weisen eine verminderte «joint attention» und Orientierung an sozialrelevanten Stimuli auf (2). Diese Schwierigkeiten beeinträchtigen nicht nur die soziale Entwicklung des autistischen Kindes, sondern führen nicht selten zu Interaktionsproblemen mit Eltern und Geschwistern. Des Weiteren werden familientherapeutischen Interventionen stabilere und nachhaltigere Effekte nachgesagt als reinen Einzeltherapien. Insbesondere sind Psychoedukation und Modelllernen anhand von Videoaufnahmen in der Elternarbeit wirksam (3). Neben der individualisierten, umfassenden und frühen Behandlung des autistischen Kindes mit mindestens 20 bis 25 Stunden pro Woche wird der Einbezug der Kernfamilie als wesentlicher Wirkfaktor autismusspezifischer Frühinterventionen, wie beispielsweise FIAS, betrachtet (4).
Initialphase der FIAS-Therapie Da die gesamte Familie involviert ist, lässt sich die Familiendynamik sorgfältig erfassen, um passende individu-
* Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik, Universitäre Psychiatrische Kliniken, Basel
elle sowie familiensystemische Veränderungsprozesse einleiten zu können. Beim autistischen Kind wird mittels beziehungsfokussierter Spieltherapie und der Begleitung in den Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL, z.B. Essen, Selbstständigkeit) gezielt an der autistischen Kernsymptomatik gearbeitet. Hauptschwerpunkte der Intervention sind: G Reizwahrnehmung und -verarbeitung G Motivation zur sozialen Interaktion und Kommuni-
kation G Fähigkeiten der sozial-emotionalen Regulation und
Verhaltenssteuerung G Selbstwirksamkeit und Autonomieentwicklung. Beim Geschwisterkind werden neben der Stärkung seiner Ressourcen der Kontakt und ein wechselseitiges Spiel mit dem autistischen Geschwister unter therapeutischer Mediation gefördert. Die Eltern werden als die «Spezialisten» ihres Kindes betrachtet und in die Entscheidungen des Therapieprozesses einbezogen. Sie erhalten ein gezieltes Praxistraining zur effektiven Gestaltung von Spieleinheiten mit ihrem Kind und erlangen eine kotherapeutische Haltung. Sie werden darin geschult, die Interessen, Gefühle und Verhaltensweisen aller Familienmitglieder besser zu erkennen, zu interpretieren und zu verstehen. Hierfür werden folgende Mittel eingesetzt: G Psychoedukation G Beobachtungsschulung: Interpretation sozialer Si-
gnale und Verhaltensweisen G Videoanalyse bezogen auf Beziehungsinteraktion
und Mentalisierungsförderung G Coaching zur Motivation und Anleitung des Kindes
sowie zur Anpassung eigener Reaktion auf die Initiativen des Kindes G Handlungsanweisungen zur Strukturierung der Spiel- und Alltagsaktivitäten. Die Evaluation der ersten Familien, welche eine FIASTherapie durchlaufen haben, zeigen sehr erfreuliche Resultate. Es konnten nachhaltige Verbesserungen in den sozialen Fähigkeiten (Blickkontakt, Kommunikation, Imi-
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tation, Motivation und Wechselseitigkeit) festgestellt werden. Die untersuchten Kinder konnten länger und deutlicher in der Interaktion verweilen und sich mehr an sozialrelevanten Stimuli orientieren. Des Weiteren konnten Verbesserungen im Funktionsniveau (ATL) und eine Reduktion repetitiver, stereotyper Verhaltensweisen nachgewiesen werden (4).
Nachsorge der FIAS-Therapie Ausgangslage Um einen transparenten Informationsfluss und eine gute Zusammenarbeit zu gewährleisten, werden bereits involvierte Fachpersonen vor Therapiestart durch das FIAS-Team kontaktiert und zu einer Verlaufsbesprechung am Ende der Initialphase eingeladen. Der zuständige Nachsorgetherapeut einer Familie lernt in der Regel die Familie in der Mitte der Initialphase kennen und wirkt als Bindeglied zwischen der Arbeit im Therapiezentrum und zu Hause. Innerhalb der ersten 14 Tage nach der Heimkehr der Familie findet ein Hausbesuch des Nachsorgetherapeuten statt. Alle weiteren Termine zwischen Nachsorgetherapeut und Familie werden hinsichtlich Form, Inhalt und Dauer auf die individuellen Bedürfnisse der Familie abgestimmt. Pro Familie steht ein Stundenkontingent von zirka acht Stunden monatlich zur Verfügung. So wird die Unterstützung der Initialphase auf adaptierte Weise fortgesetzt.
Zielsetzung Generell hat der Nachsorgetherapeut die Aufgabe, die Eltern und auch die familiensystemischen Veränderungsprozesse zu begleiten. Hauptanliegen der Nachsorge ist es, den Entwicklungssprung des autistischen Kindes nach der Initialphase zu Hause aufzugreifen, zu festigen und weiter auszubauen. Das Ziel ist die Generalisierung, das heisst, die Öffnung und Hinwendung zur sozialen Umwelt zu erlangen, soziales Lernen in einem natürlichen Rahmen zu ermöglichen und die Familie bei der Übertragung der angestossenen Veränderungen in ihren Lebensalltag zu unterstützen. Hierzu gehört die Integration des autistischen Kindes in Spielgruppe, Tagesbetreuung oder Kindergarten zur Stabilisierung des sozialen Lernfeldes. Die autistischen Kinder
Merkpunkte:
Gelingfaktoren für die FIAS-Nachsorge: G Zweijährige Begleitung mit standardisierter Standortbestimmung nach einem
Jahr. G Diverse Settings: Kontakte via Telefon, E-Mail, Skype, Videoarbeit im Therapie-
zentrum, Hausbesuche, Fachelterngespräche. G Coaching zu Hause und Beratung involvierter Institutionen und Fachkräfte. G Flexible Anpassung der Nachsorge an die spezifischen Bedürfnisse der Familie. G Arbeit mit konkreten Zielen, Beobachtungsaufgaben und gemeinsam formu-
lierten Vereinbarungen und deren Evaluation. G Videoarbeit mit Hauptfokus auf Spieleinheiten und ATL-Themen. G Individuelle oder Paararbeit mit Videos, Analysen von Familieninteraktionsvideos. G Motivationsarbeit (Umgang mit reduzierter Responsivität, schwierigen Gefühlen). G Weiterführung der Beobachtungsschulung und entwicklungspsychologischer
Beratung.
benötigen für ihre Entwicklung ein erfahrungsbasiertes Lernen in ihrer gewohnten Umgebung und Interaktionen im sozialen Spiel (5). Die Eltern werden durch den Nachsorgetherapeuten bei der Strukturierung von Spiel- und Alltagssituationen angeleitet. Sie werden ermutigt, dem autistischen Kind zu Hause täglich Spielstunden anzubieten und diese zu videografieren. Diese Videosequenzen werden für die konkrete Analyse der Entwicklungsfortschritte und als Realitätsabgleich für das Coaching der Eltern verwendet. Mittels Video lassen sich auch kleine Veränderungen in Richtung des gewünschten Verhaltens erkennen und fördern. Bei den Geschwisterkindern wird versucht, wöchentliche Qualitätszeiten mit einem Elternteil zu realisieren. Spezifische Themen, wie zum Beispiel Geschwisterrivalität, können so, wie sie sich direkt im Familienalltag darstellen, bearbeitet werden. Die Effektivität von Frühinterventionen ist insbesondere dann gegeben, wenn die Eltern aktiv in den Therapieprozess und die Zielsetzungen einbezogen sind. Wenn sie erkennen lernen, welche Unterstützung ihr Kind und sie selbst benötigen, werden sie befähigt, künftig die Entwicklungsaufgaben selbstständiger anzugehen und ihr Kind seinen Möglichkeiten entsprechend zu stärken. Um diese Anforderungen bewältigen zu können, benötigen sie eine gezielte Anleitung mittels Supervision, Training und Monitoring. Des Weiteren sind Frühinterventionen wirksamer, wenn sie die Entwicklungsförderung und die Steigerung der Funktionsfähigkeit des autistischen Kindes berücksichtigen. Dies bedeutet, dass neben der sozialen Interaktion auch die Emotionsund Verhaltensregulation fokussiert werden müssen (6). Die Identifizierung von Stärken, Bedürfnissen, Zielen und Ressourcen der Familie und eine daraus resultierende individualisierte und flexible Unterstützung vermittelt den Eltern Respekt und stärkt sie in ihren Fähigkeiten bei der Bewältigung ihrer Aufgaben (7, 8).
Fazit
Wir sehen in der FIAS-Therapie mit Initialphase und
Nachsorge eine nachhaltig wirksame, an den Bedürfnis-
sen und Ressourcen orientierte Unterstützung der
Familie, welche die Eltern in ihren kotherapeutischen
und elterlichen Kompetenzen stärkt. Wenn es Eltern ge-
lingt, die Handlungsstrategien aus der Initialphase in
den Alltag (natürliche Routinen) umzusetzen und so-
ziale Spielerfahrungen (Gruppenintegration) zu ermög-
lichen, können zudem optimale Lernbedingungen für
das autistische Kind geschaffen werden. Somit bedeu-
ten Verlängerung und Professionalisierung der Nachbe-
treuung nicht nur eine fundierte Unterstützung der
Eltern, sondern wirken sich positiv auf die Entwicklungs-
möglichkeiten des autistischen Kindes aus.
G
Korrespondenzadresse:
Esther Kievit
Eidg. anerkannte Psychotherapeutin
Psychologisch-therapeutische Leitung
FIAS-Therapiezentrum
Hauptstrasse 77a
4132 Muttenz
E-Mail esther.kievit@upkbs.ch
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Literatur: 1. Alonim H: The Mifne method – Israel. Early intervention in the treat-
ment of autism/PDD: A therapeutic programme for the nuclear family and their child. J Child Adolesc Ment Health 2004; 16: 39–43. 2. Dawson G, Toth K, Abbott R, Osterling J, Munson J, Estes A, Liaw J: Early social attention impairments in autism: social orienting, joint attention, and attention to distress. Dev Psychol 2004; 40: 271–283. 3. Mattejat Fritz: Evidenzbasierte Prinzipien und Grundkomponenten familientherapeutischer Interventionen bei psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen. Kindheit und Entwicklung 2005; 14 (1), 3–11. Göttigen: Hogrefe. 4. Herbrecht E et al.: Become Related: FIAS, an Intensive Early Intervention for Young Children with Autism Spectrum Disorders. Psychopathology 2015; 48,162–172. 5. Zwaigenbaum Lonnie et al.: Clinical assessment and management of toddlers with suspected autism spectrum disorder: insights from studies of high risk infants. Pediatrices 2009; 123 (5):1383–1391 pmid:19403506. 6. Zwaigenbaum Lonnie et al.: Early Intervention for Children With Autism Spectrum Disorder Under 3 Years of Age: Recommendations for Practice and Research. Pediatrics 2015; 136/ ISSUE Supplement 1. 7. Sarimski Klaus, Hintermair Manfred, Lang Markus (2013) (Hrsg.): Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderung. München: Reinhardt. ISBN 978-3-497-02354-7. 8. Eckert Andreas: Familien mit Kindern mit einer Behinderung: Leben im Spannungsfeld von Herausforderung und Zufriedenheit. Teilhabe 1/2014; 53, 19–23.
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