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Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen bei adoleszenten Mädchen – eine Herausforderung für die klinische Praxis
Das Wissen um Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) nimmt stetig zu und so auch die Präsenz dieser Thematik bei Fachpersonen. Die Diagnostik von ASS bleibt aber insbesondere bei Mädchen weiterhin komplex. Dies liegt sowohl an Unterschieden in der Ausprägung der Symptomatik als auch an den geschlechtsspezifischen Besonderheiten. Die (Früh-)Erkennung und die Überweisung von Mädchen mit Verdacht auf eine ASS sind und bleiben deshalb herausfordernd, sie sind für die Behandlung und den Verlauf jedoch zentral.
Katharina M. Ruhe Evelyn Herbrecht
von Katharina M. Ruhe und Evelyn Herbrecht
Grundsätzliches zu Autismus-Spektrum-Störungen
D ie Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) hat in den letzten Jahren stark zugenommen, was neben einer tatsächlichen Erhöhung (z.B. durch Risikofaktoren) auch auf eine erhöhte Aufmerksamkeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch von Fachpersonen sowie auf das erweiterte Verständnis der komplexen Symptomatik zurückgeführt werden kann (1, 2). Laut World Health Organisation (WHO) kann derzeit davon ausgegangen werden, dass 1 von 160 Kindern von einer ASS betroffen ist, wobei die Prävalenzraten durchaus noch höher sein könnten (3). Jungen sind etwas häufiger betroffen als Mädchen, wobei das Verhältnis bei 3:1 liegt und damit nicht so stark ausgeprägt ist, wie in der Vergangenheit angenommen wurde (4). Bei gleicher Symptomlast ist aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen eine ASS-Diagnose erhält, geringer als die eines Jungen (5). In der Literatur werden verschiedene Hypothesen diskutiert, welche den Geschlechtsunterschied erklären könnten. So ist denkbar, dass dem weiblichen Geschlecht zum Beispiel über endokrinologische Unterschiede eine schützende Funktion in der Entwicklung von ASS zukommt (6). Eine häufig mildere Ausprägung der Symptomatik könnte dazu führen, dass Mädchen mit ASS weniger auffällig imponieren als Jungen mit der gleichen Diagnose (7), bessere Fähigkeiten zur Anpassung haben und deshalb seltener zur Abklärung überwiesen werden (8). Eine mögliche weitere Hypothese, um den Geschlechterbias zu erklären, greift den Umstand auf, dass die aktuellen Diagnosekriterien eher die männliche Ausprägung von ASS erfassen und weibliche Betroffene somit unterrepräsentiert sind (4). In der Diagnostik von Erwachsenen mit ASS zeigt sich, dass eine umfassende Erhebung auch von Verhaltensweisen aus der Kindheit wichtig ist. Diagnostische Urteile nur aufgrund der aktuellen klinischen Interaktion
fallen besonders bei weiblichen Probanden fehlerhaft aus. Dies wohl aufgrund vielfältiger Mechanismen zur Kompensation, über welche ältere und besonders weibliche von ASS betroffene Personen verfügen (9). Tony Atwood stellt einige weitere interessante Überlegungen an, die sich vor allem mit gesellschaftlichen Aspekten befassen: In den meisten Gesellschaften sind Mädchen besser darin, zum Beispiel Emotionen zu verbalisieren und verständiger auf sozial abweichendes Verhalten zu reagieren. In der Regel ist eine weibliche Peergroup in der Summe eher in der Lage, ein Mädchen mit Auffälligkeiten zu «bemuttern», als dies Jungen sind, was dazu führt, dass individuelle Schwierigkeiten länger maskiert bleiben können (10). Auch andere Aspekte könnten eine Rolle spielen: So werden Mädchen zum Beispiel häufiger zu Theaterkursen angemeldet und lernen dort Nuancen der verbalen und nonverbalen Kommunikation und Interaktion kennen, welche dazu führen, dass dieser Bereich als weniger auffällig imponiert. Auch Spezialinteressen, welche bei Jungen häufig ein klares Anzeichen für eine ASS sind, können bei Mädchen durchaus geschlechtstypische Formen annehmen. Abweichend ist aber die Intensität der Beschäftigung mit zum Beispiel Prinzessinnen, Pferden, Mode.
Diagnostik von ASS Die Diagnostik von ASS erfolgt in der Regel unter Einbezug der standardisierten Verfahren ADOS-2 (Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen-2 [11]) und ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus – Revidiert [12]). Der klinische Eindruck sowie fremdanamnestische Schilderungen, zum Beispiel von Lehrpersonen, sind ebenfalls zentral. Mit der Transition des Diagnostischen Manuals für Psychische Störungen IV (DSM-IV) zum DSM-5 gab es einige bedeutende Veränderungen in der Definition von ASS, die auch im kürzlich veröffentlichten ICD-11 übernommen worden sind (13). So wurden die ursprünglich drei Symptombereiche (soziale Interaktion, Kommunikation und repetitive/ stereotype Verhaltensweisen) zu zwei Symptombereichen zusammengefasst (soziale Kommunikation, repe-
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titive/stereotype Interessen). Besonders betont wird, dass der Diagnostik ein dimensionales Symptomverständnis zugrunde liegt, dass es also um eine Bandbreite abweichenden Verhaltens geht, welches von tief gehenden Beeinträchtigungen bis hin zu milderen Abweichungen, zum Beispiel in der sozialen Reziprozität, reichen kann. Neu hinzugekommen ist ein weicheres Alterskriterium: Symptome müssen zwar in der frühen Kindheit manifest sein, diese können jedoch aufgrund individueller Fähigkeiten und Strategien zur Kompensation so lange maskiert sein, bis die sozialen Anforderungen die individuellen Kompetenzen des Kindes oder Jugendlichen überschreiten.
Besondere Herausforderungen bei Mädchen Das in den letzten Jahren deutlich gesteigerte Bewusstsein für ASS führt dazu, dass nun auch Kinder und Jugendliche zur Diagnostik überwiesen werden, welche subtilere Symptomausprägungen zeigen, was für die Abklärung eine besondere Herausforderung bedeuten kann. Die in den Fallbeispielen beschriebenen Aspekte der Diagnostik von ASS bei Mädchen stellen Beobachtungen im Rahmen unserer klinischen Tätigkeit dar und sollen die Vielfältigkeit der Symptome illustrieren. Besonders bei Mädchen mit der Frage nach einer ASS beobachten wir, dass bisweilen ein höheres Niveau an nonverbaler Kommunikation vorhanden ist als bei Jungen. Neben Patientinnen, welche ein eher klassisch anmutendes Symptomcluster zeigen, sehen wir regelmässig Mädchen, bei welchen Blickkontakt, Gestik und Mimik auf den ersten Blick unauffällig oder nur minimal reduziert erscheinen. Bisweilen zeigt sich erst im Verlauf einer längeren Interaktionssequenz, dass Modalitäten der nonverbalen Kommunikation (z.B. Blickkontakt und sozial gerichtete Mimik) nicht durchgehend vorhanden sind oder weniger flexibel eingesetzt werden. Auch das theoretische Wissen über soziale Konzepte wie Freundschaft, wie es klassischerweise in der standardisierten Diagnostik mittels ADOS-2 abgefragt wird, kann durchaus als unauffällig imponieren. Zentral erscheint deshalb aus unserer Sicht der detaillierte Einbezug anamnestischer Angaben vonseiten der Eltern, Lehrer oder anderer Fachpersonen, welche mit dem Kind oder Jugendlichen zu tun haben. Hier zeigen sich dann bisweilen Schilderungen von sozialen Schwierigkeiten, ungewöhnlichen und eingeschränkten Kontakten zu Peers oder anderen Personen. Es ist durchaus möglich, dass Mädchen mit ASS differenziertes Wissen über soziale Konzepte und Interaktionen haben, dies jedoch in der konkreten Situation nicht abrufen können, was zu abweichendem Verhalten führt. So legen beispielsweise manche adoleszente Mädchen mit ASS grossen Wert darauf, Teil einer Peergroup zu sein und entsprechenden Freizeitaktivitäten nachzugehen. Erst bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass sich dies eventuell nur über ein bestimmtes Setting (Mannschaftsport) erstreckt oder von eingeschränkter Wechselseitigkeit (das Mädchen ist zwar Teil einer Gruppe, jedoch eher wenig aktiv einbezogen) geprägt ist. In der diagnostischen Situation, welche in der Regel die Interaktion mit einer Fachperson in einem Einzelsetting beinhaltet, können derartige Abweichungen teilweise nur schwer erfasst werden.
Fallbeispiel Nora, 17 Jahre:
Klinischer Eindruck: Im Kontakt fiel Nora mit eher steifer Körperhaltung auf. Wechselseitige Gespräche waren vor allem dann möglich, wenn sie ein Thema interessierte (z.B. Altgriechisch). Um ein Gespräch aufrechtzuerhalten, bedurfte es der Initiative und Anstrengung des Gegenübers. Sie nahm zwar Blickkontakt auf, dieser war jedoch eher starr. Ebenso erschien der sozial gerichtete mimische Ausdruck deutlich reduziert. Nora beschrieb Gefühle sachlich und korrekt (z.B. Kribbeln im Bauch, Muskelspannung), war hierbei jedoch wenig spürbar. Auf die Frage, was ein/e Freund/in ausmache, antwortete sie, dass dies jemand sei, in dessen Gegenwart sie sich weniger unwohl fühle als bei anderen Menschen. Nora schilderte aber auch Aspekte wie Vertrauen und dass Freunde einander helfen würden. Sie habe zwei engere Freundinnen, mit welchen sie auch ausserhalb der Schule immer wieder etwas unternehme. Durch die Schule und ihr Hobby habe sie auch Kollegen, mit welchen sie sich gut verstehe und unterhalten könne.
Anamnestische Angaben: Die Kindsmutter berichtete, dass Nora bereits als Säugling sehr reizoffen gewesen sei. Sie habe viel geschrien und schlecht geschlafen. Irgendwie habe sie immer traurig gewirkt. Sie sei fixiert auf die Kindsmutter gewesen und habe auf die Anwesenheit anderer Personen mit Irritation reagiert. Bereits mit 15 Monaten sei aufgefallen, dass Nora in sozialen Situationen zwar andere beobachte, aber keinerlei Initiative ergriffen habe. Mit 20 Monaten habe sie die Sprachentwicklung praktisch abgeschlossen und sich auf hohem Niveau ausdrücken können. Im Beisein von Menschen ausserhalb der Familie habe sie jedoch meist geschwiegen. Teilweise habe sie Antworten gegeben, die als schroff wahrgenommen worden seien. Aufgrund einer motorischen Entwicklungsverzögerung sei Physiotherapie eingeleitet worden. Bezüglich der anhaltenden sozialen Schwierigkeiten habe sich die Kindsmutter von Fachpersonen nicht wahrgenommen gefühlt und regelmässig die Rückmeldung erhalten, dass Nora sich in der Einzelsituation unauffällig verhalten habe. Wenn allerdings andere Kinder auf sie zugegangen seien, habe sie versucht, der Situation auszuweichen. Auch seien Gruppenspiele nie möglich gewesen. Nora habe meist mit ihrem jüngeren Bruder gespielt. Sie habe verschiedene Interessen, mit welchen sie sich intensiv auseinandersetze und worüber sie detailliertes Wissen verfüge (z.B. die Antike). Als Kind habe sie viel gebastelt, gewerkt und Schmuck hergestellt. Sie habe sich teilweise stundenlang um die eigene Achse gedreht und dabei bis zu sieben Paar Socken in derWoche kaputt gemacht. Nora habe in der Schule die vielen Menschen und den Geräuschpegel beklagt. Sie berichtete, dass dieser es ihr zuweilen praktisch unmöglich gemacht habe, klar zu denken und dem Unterricht zu folgen. Ein Schulwechsel in eine private Einrichtung mit kleiner Klassengrösse habe schliesslich Besserung gebracht, sodass Nora heute ihr überdurchschnittliches kognitives Potenzial voll abrufen könne und ausgezeichnete Noten erreiche. Soziale Kontakte pflege sie weiterhin nur in beschränktem Ausmass. Leidensdruck würden vor allem Alltagssituationen wie die Kommunikation via Telefon oder E-Mail hervorrufen sowie Gespräche mit Leuten ausserhalb der engeren Familie, welchen sie sich nicht gewachsen fühle. Beim Einkaufen fühle sie sich gestresst, wenn ein allzu eifriger Verkäufer zu nahe an sie herantrete, sie anfasse oder zu viele Fragen stelle.
Dimensionales Verständnis autistischer Symptomatik Bei der Diagnostik von Mädchen scheint mehr das Verständnis von autistischen Symptomen als qualitative Abweichung in der sozialen Kommunikation bedeutsam, welche sich in Fachkreisen zunehmend durchsetzt und auch in den neuen Diagnosekriterien des DSM-5 zum Ausdruck kommt. Aus unserer Sicht birgt dies besonders für die Diagnostik von ASS bei Mädchen Chancen, da es deutlich macht, dass schliesslich die dimensionale Erfassung von Symptomen zentral ist. So ist weniger bedeutsam, ob soziale Interaktionen möglich sind, sondern vielmehr in welcher Vielfalt und wel-
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Fallbeispiel Isabella, 6 Jahre:
Klinischer Eindruck: Isabella erschien im Kontakt schüchtern und zurückhaltend, was sich auch nach einer gewissen Zeit nicht änderte. Blickkontakt, sozial gerichtete Mimik und die Verwendung von Gestik waren gegeben. Auch stellte sie zum Beispiel beim Betrachten eines Bilderbuchs gemeinsame Aufmerksamkeit her und erzählte eine lebhaft ausgestaltete Geschichte. Im Gespräch kam es vor, dass Isabella eine Person ansah, während sie mit einer anderen sprach. Ihre Kommunikation bestand hauptsächlich aus Antworten auf Fragen, sie erzählte wenig spontan. Sie sah ihr Gegenüber oft etwas starr und mit grossen Augen an, reagierte jedoch nur eingeschränkt auf Ansprache oder Aufforderungen. Insgesamt schien sie manchmal nicht von dieser Welt zu sein und hatte eine feenhafte Ausstrahlung. Im gemeinsamen Spiel ging sie wenig auf die Ideen des Gegenübers ein und verbrachte eher Zeit damit, Spielzeug aufzustellen. Isabella tat aber durchaus so, als sei die Puppe lebendig, und fütterte sie zum Beispiel mit Kuchen.
Anamnestische Angaben: Die Kindseltern berichteten, dass Isabella sich anders entwickelt habe als ihre zwei älteren Geschwister und ihr Zwillingsbruder. Sie sei schon als Säugling «anders» gewesen. Bereits früh habe sie einen hohen Muskeltonus gezeigt und weniger auf Ansprache reagiert. Eine neuropädiatrische Abklärung sei ohne Befund gewesen. Obwohl die Sprachentwicklung unauffällig verlaufen sei, befolge Isabella häufig Anweisungen nicht. Den Kindseltern sei nicht klar, ob sie diese nicht verstehe, nicht ausführen wolle oder teilweise gar nicht wahrnehme, dass sie angesprochen sei. Bisweilen rede Isabella ohne Punkt und Komma und merke nicht, wenn ihr Gegenüber nicht mehr zuhöre. Sie sage auch manchmal Dinge, die überhaupt nicht zum Kontext passen würden, und erfinde eigene Worte, welche sie eine Zeit lang konsistent für Gegenstände benutze. In der Familie seien diese als «Isabella-Worte» bekannt. Auch verwechsele sie regelmässig «er» und «sie». Die Eltern schilderten mit einem gewissen Erstaunen, dass Isabella manchmal ihre Hände ergriffen und mit diesen geklatscht oder gewinkt habe, anstatt ihre eigenen zu benutzen. Sie bevorzuge gleichbleibende Abläufe. Wenn der Vater beim gemeinsamen Kochen etwas anders mache als sonst, reagiere sie aufgebracht. Es falle auf, dass sie häufig auf Details fokussiert sei. Sie bastle leidenschaftlich gerne, wobei sie bisweilen fast übermässig konzentriert erscheine. Isabella habe Mühe mit dem Schlucken und spucke Essen, dessen Konsistenz ihr merkwürdig erscheine, häufig aus. Aus dem Kindergarten werde rückgemeldet, dass Isabella sich vollkommen unauffällig und angepasst verhalte. Sie spiele mit anderen Kindern und beschäftige sich gerne mit Konstruktionsspielzeug. Insgesamt spreche Isabella allerdings wenig mit den anderen Kindern, zeige aber Fantasiespiel und sogar manchmal Rollenspiele.
Merkpunkte:
G Die Symptome einer ASS können bei Mädchen anders imponieren als bei betroffenen Jungen. So können zum Beispiel Blickkontakt und Mimik zunächst unauffällig wirken.
G Anamnestischen Angaben, zum Beispiel der Kindseltern, kommt eine besondere Bedeutung zu, da häufig erst im Verlauf subtiler ausgeprägte Schwierigkeiten in der Interaktion und Kommunikation sichtbar werden.
G Aufgrund der Komplexität der Symptomatik ist die Einschätzung einer geschulten Fachperson aus dem Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Erfahrung in der ASS-Diagnostik zentral.
chen Settings. Es wird häufig berichtet, dass Mädchen mit ASS durchaus Fantasie- und Rollenspiele zeigen (wie übrigens auch manche Jungen aus dem Spektrum). Hier ist es wichtig, die genaue Qualität des beschriebenen Verhaltens zu erfassen. So wird rasch deutlich, dass wechselseitiges Fantasiespiel, in dem das Kind auch Ideen des Gegenübers aufgreift, eher reduziert ist und es zu-
meist darum geht, eigene Vorstellungen umzusetzen oder gleich lieber ganz allein zu spielen. Aufgrund einer in manchen Fällen subtiler ausgeprägten Symptomatik, verbunden mit höheren Fähigkeiten zur Anpassung, ist es Mädchen mit ASS häufig möglich, in bestimmten Situationen soziale Defizite zu kompensieren. Erst eine umfassende Beachtung des Verhaltens in verschiedenen Situationen vermag dann Auskunft über Einschränkungen der sozialen und kommunikativen Fähigkeiten zu geben. In der Klinik nimmt hierbei zum Beispiel die Befragung der Eltern eine wichtige Rolle ein, und nicht selten begegnen uns Familien, welche bereits seit Längerem bei Fachleuten deponieren, dass ihre Tochter sich anders verhalte als andere Kinder, was bisweilen ungehört verhallt ist. Auf der anderen Seite ist es nicht selten, dass Mädchen in der Sprechstunde vorstellig werden, welche zum Teil vielfältige, andere psychiatrische Vordiagnosen haben, bevor der Verdacht auf eine ASS aufkommt. Abschliessend lässt sich festhalten, dass es besonders bei Mädchen zentral erscheint, sich unauffällig entwickelnde Geschlechtsgenossinen als Vergleichsbild heranzuziehen und weniger auf die Suche nach klassisch autistischen Symptomen wie einem mangelnden Blickkontakt zu gehen.
Praktische Aspekte im klinischen Alltag
Als Fachperson im Kontakt mit Mädchen erscheint
somit eine besondere Wachsamkeit wichtig. Berichte
von anhaltenden sozialen Schwierigkeiten oder Proble-
men, Entwicklungsaufgaben altersentsprechend zu
meistern, sollten aufhorchen lassen. Wenngleich der kli-
nische Eindruck vielleicht nicht auf den ersten Blick die
als typisch bekannten Symptome einer ASS (mangeln-
der Blickkontakt, deutlich reduzierte Wechselseitigkeit)
beinhaltet, erscheint in diesem Falle der Beizug einer
geschulten Fachperson aus dem Bereich Kinder- und
Jugendpsychiatrie sinnvoll. Erst durch eine umfassende
und detaillierte Diagnostik kann schliesslich ein Ver-
dacht ausgeschlossen beziehungsweise bestätigt wer-
den. Neben einer verstärkten Wachsamkeit in der Klinik
sind natürlich aber auch Forschungsbemühungen
wichtig, um mehr Wissen über die Besonderheiten von
Mädchen mit ASS zu erlangen. Hierzu gehören neben
der epidemiologischen Geschlechterverteilung des Stö-
rungsbildes auch Studien zu den qualitativen Abwei-
chungen des Symptombildes. Das dimensionale Ver-
ständnis von ASS als Spektrum qualitativer Abweichun-
gen, wie im neuen DSM-5 dargestellt, scheint ein wich-
tiger Schritt in Richtung einer präziseren Diagnostik und
somit besseren Gesundheitsversorgung von Mädchen
und jungen Frauen mit ASS zu sein.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Evelyn Herbrecht
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK)
Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Kornhausgasse 7
4051 Basel
E-Mail: Evelyn.Herbrecht@upkbs.ch
Die Autorinnen bedanken sich bei den Familien, bei Nora und Isabella für das Einverständnis, ihre Patientengeschichten zur Illustration verwenden zu dürfen.
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Literatur:
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