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EDITORIAL
Autismus-Spektrum-Störungen: Vielfältig und herausfordernd
«K annst du mal eine Minute warten?» Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) haben Mühe zu unterscheiden, ob damit ein Witz gemeint ist, eine Frage oder eine nachdrückliche Bitte. Sie verstehen die konkrete Bedeutung der Worte, aber häufig nicht subtile Untertöne oder den übertragenen Sinn.
Per Definition in DSM-5 und ICD-10/11 kennzeichnen ASS Beeinträchtigungen im sozialen Kontakt, Auffälligkeiten bei der Kommunikation und ein eingeschränktes Muster hinsichtlich Interessen sowie stereotype Verhaltensweisen. In der heutigen Gesellschaft fallen immer mehr dieser Störungen auf. Insgesamt hat die Prävalenz von ASS in den letzten Jahren stark zugenommen. Neben einer wahrscheinlichen tatsächlichen Erhöhung der Zahlen ist dies auf eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Öffentlichkeit wie auch von Fachpersonen zurückführbar. Zusätzlich hat das Verständnis für diese komplexe Symptomatik zugenommen.
Doch trotz zunehmenden Wissens bleibt die Diagnostik weiterhin komplex. Das zeigt sich beispielswiese darin, dass die ASS-Diagnose bei Mädchen weniger häufig gestellt wird als bei Jungen. Zwar sind Jungen etwas häufiger betroffen als Mädchen, allerdings liegt das Verhältnis bei 3:1 und ist damit nicht so stark ausgeprägt, dass es die mangelnde Diagnostik bei Mädchen erklären kann. Ein wichtiger Grund liegt wahrscheinlich darin, dass Autismus-Spektrum-Störungen in ihrem Ausdruck und in ihrer Ausprägung sehr vielfältig sind und Mädchen ihre Schwierigkeiten teilweise länger kompensieren können.
Dieser Schwerpunkt widmet sich deshalb der klinischen Ausprägung von ASS und gibt Hinweise, wie diese gezielt und individuell behandelt werden können.
Im Beitrag von Katharina M. Ruhe wird die Herausforderung der Diagnostik von ASS bei adoleszenten Mädchen eindrücklich dargestellt (Seite 4).
Die Gruppentherapien KOMPASS und KONTAKT von Bettina Jenny, Zürich, und Charlotte Gwerder, Basel, (Seite 8 und 11) zeigen, dass gruppentherapeutische Ansätze helfen können, wenn es darum geht, sich in der sozialen Umgebung zurechtzufinden und darin «navigieren» zu können. Die Gruppentherapien sind dabei sehr personenzentriert und ressourcenorientiert aufgebaut, weisen jedoch auch inhaltliche Unterschiede bei der therapeutischen Herangehensweise auf. Menschen mit ASS sind sehr verschieden, und das Erscheinungsbild ist vielfältig, daher gibt es nicht «den besten» Therapieansatz, der für alle hilfreich ist. Vielmehr kommt es auch auf die Passung zwischen dem jeweiligen Therapieansatz und der betroffenen Person an. KOMPASS und KONTAKT sind Projekte aus dem Raum Zürich und Basel. Sie zeigen damit auch, dass sich eine Vernetzung und Zusammenarbeit über die Kantonsgrenzen hinweg entwickelt hat.
Ein Bild dieser Vernetzungsarbeit zeigt auch der Beitrag von Julia Erskine Poget, Presinge, (Seite 15), der Unterstützungsangebote für Eltern von Kindern mit ASS in der französischsprachigen Schweiz präsentiert. Ihr Artikel unterstreicht aber auch, dass die Unterstützung weiterhin viele Lücken aufweist.
Im Beitrag zur Elternarbeit (Seite 13), vorgestellt von Esther Kievit, Basel, werden Faktoren, die zum Gelingen beitragen, am Beispiel des intensiven Frühinterventionsansatzes (FIAS) dargestellt und diskutiert.
Die Beiträge zeigen, dass die Diagnostik und die Versorgung von Menschen mit ASS eine lebhafte Entwicklung erfahren. Es bleibt trotzdem noch viel zu tun.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre. G
Dr. med. Evelyn Herbrecht Leitende Ärztin, stv. Direktorin Leitung Poliklinik/Fachstelle Autismus Klinik für Kinder und Jugendliche Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
5/2018
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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