Transkript
Auf Komorbiditäten achten: ADHS kommt selten allein
FORTBILDUNG
Das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) tritt häufig in Verbindung mit anderen psychiatrischen Erkrankungen und problematischen Biografien auf. Deshalb soll im Rahmen der Diagnostik aktiv nach Komorbiditäten gesucht werden.
von Reno Barth
G enerell sind Personen, die unter einer psychiatrischen Erkrankung leiden, häufig von weiteren psychiatrischen Erkrankungen betroffen. Auch Patienten mit ADHS leiden häufig unter unterschiedlichsten psychiatrischen Komorbiditäten, so Prof. Dr. Philip Asherson vom Londoner King’s College. Besonders häufig steht ADHS in Zusammenhang mit emotionaler Labilität (1). Diese Kombination ist für zahlreiche Probleme verantwortlich, mit denen ADHS-Patienten im täglichen Leben zu kämpfen haben. Diese betreffen Ausbildung und Arbeit sowie das soziale Umfeld, das Selbstwertgefühl und den Schlaf (2). Asherson weist in diesem Zusammenhang besonders auf das Krankheitsbild des erwachsenen ADHS-Patienten hin, das sich deutlich vom kindlichen «Zappelphilipp» unterscheiden kann. Die motorische Unruhe tritt in den Hintergrund, und affektive Labilität, Wut, leichte Erregbarkeit, Schlafstörungen und so weiter machen sich verstärkt bemerkbar. Damit ergeben sich bereits Überschneidungen mit dem Krankheitsbild der Depression. ADHS ist ebenso wie die Depression mit Suizidalität assoziiert, wobei gemeinsame genetische Hintergründe wahrscheinlich sind. Dafür spricht nicht zuletzt eine Assoziation zwichen ADHS und Suizidalität bei Verwandten ersten Grades (3). Bereits 2009 konnte eine Zwillingsstudie ausgeprägte genetische Überschneidungen zwischen ADHS und den sogenannten Mood Disorders (Depression, bipolare Störung, Suchterkrankungen) nachweisen. Unter allen untersuchten neuropsychiatrischen Erkrankungen war ADHS im höchsten Masse hereditär (4). Dennoch unterstreicht Asherson, dass die Genetik vermutlich nur eine Seite der Medaille ist. Kinder mit ADHS scheitern häufig in der Ausbildung, haben soziale Probleme und häufig traumatisierende Erlebnisse. Hinzu kommt ein erhöhtes Risiko für Substanzabusus. All dies kann im Erwachsenenalter zu reduziertem Selbstwert, chronischer Dysthymie, Depression und Suizidalität führen. Asherson: «Erschwerend kommt hinzu, dass Personen mit ADHS häufig eingeschränkte Copingund Adaptionsfähigkeiten haben und äusserst verletzlich sind. Es ist also keineswegs klar, ob ADHS direkt oder über den Umweg psychosozialer Risikofaktoren zu Depression führt.»
Medikamentöse Behandlung lohnt sich Schwedische Registerdaten legen jedenfalls nahe, dass sich die medikamentöse Behandlung des ADHS auch
im Hinblick auf Komorbiditäten lohnt. Patienten, deren
ADHS behandelt wurde, hatten langfristig im Vergleich
zu nicht behandelten ADHS-Patienten ein um mehr als
40 Prozent reduziertes Depressionsrisiko (5). Während
der Einnahme der Medikamente war das Risiko bei Pa-
tienten um 20 Prozent geringer als in Phasen, in denen
keine Medikamente eingenommen wurden. Dies traf
auch (und sogar in numerisch höherem Masse) zu,
wenn Patienten ausgeschlossen wurden, die das mit
den Antidepressiva verwandte Atomoxetin einnahmen.
Registerdaten lieferten auch Hinweise auf reduzierte
Suizidalität durch medikamentöse Therapie des ADHS,
wobei auch in dieser Hinsicht Psychostimulanzien am
besten abschnitten (6). Wie wichtig die Diagnose eines
ADHS und dessen subsequente Behandlung ist, zeigt
eine prospektive Langzeitstudie, die die weitere Ent-
wicklung von Jugendlichen verfolgte, die mit 13 Jahren
durch Reizbarkeit auffielen. Diese zeigten mit 33 Jahren
ein substanziell erhöhtes Risiko für Depression, Angst-
störung und Dysthymie (7). Kinder, Jugendliche und Er-
wachsene mit Konzentrationsschwäche, Rastlosigkeit,
Schlafstörungen, Reizbarkeit und so weiter sollten daher
auf ein ADHS abgeklärt und bei Bedarf entsprechend
therapiert werden. Teil dieser Abklärung sollte auch
immer die Diagnostik in Richtung möglicher psychiatri-
scher Komorbiditäten sein. Sind diese vorhanden, ist zu-
sätzlich zur Therapie des ADHS eine Therapie der
Komorbidität indiziert. Diese sollte unabhängig vom
ADHS nach den jeweils entsprechenden Empfehlungen
und Guidelines gestaltet werden.
G
Reno Barth
Referenzen:
1. Skirrow C et al.: Behavioral, neurocognitive and treatment overlap between attention-deficit/hyperactivity disorder and mood instability. Expert Rev Neurother. 2009 Apr; 9(4): 489–503.
2. Skirrow C, Asherson P: Emotional lability, comorbidity and impairment in adults with attention-deficit hyperactivity disorder. J Affect Disord. 2013 May; 147(1–3): 80–86.
3. Ljung T et al.: Common etiological factors of attention-deficit/hyperactivity disorder and suicidal behavior: a population-based study in Sweden. JAMA Psychiatry. 2014 Aug; 71(8): 958–964.
4. Cross-Disorder Group of the Psychiatric Genomics Consortium. Genetic relationship between five psychiatric disorders estimated from genome-wide SNPs. Nat Genet. 2013 Sep; 45(9): 984–994.
5. Chang Z et al.: Medication for Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder and Risk for Depression: A Nationwide Longitudinal Cohort Study. Biol Psychiatry. 2016 Dec 15; 80(12): 916–922.
6. Chen Q et al.: Drug treatment for attention-deficit/hyperactivity disorder and suicidal behaviour: register based study. BMJ. 2014 Jun 18; 348: g3769.
7. Stringaris A et al.: Adult outcomes of youth irritability: a 20-year prospective community-based study. Am J Psychiatry. 2009 Sep; 166(9): 1048–1054.
Quelle: Symposium «Attention Deficit-Hyperactivity Disorder and Suicide», im Rahmen des EPA 2018 am 5. März in Nizza.
32 5/2018
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE