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EDITORIAL
Suchterkrankungen: Die Bedeutung in der Praxis nimmt zu
I n der Schweiz trinken 9 von 10 Männern und 8 von 10 Frauen gelegentlich Alkohol, mit zunehmendem Alter nimmt die Trinkfrequenz zu. Es ist davon auszugehen, dass zirka 250 000 Personen in der Schweiz alkoholabhängig sind und fast jeder Fünfte ab dem 15. Lebensjahr einen risikoreichen Alkoholkonsum aufweist (1). Insbesondere in der jüngeren Altersgruppe führt der erhöhte Alkoholkonsum auch zum erhöhten Konsum anderer Drogen wie Cannabis (10,0%) (2). Abhängigkeitserkrankungen sind oftmals chronische Erkrankungen mit langwierigen, teilweise lebenslangen Verläufen. Leider vergehen in der Regel auch mehrere Jahre, bis die Betroffenen in eine Behandlung eintreten. Die Frage ist deshalb, wie Betroffene früher einer Behandlung zugeführt werden können. Sollte Prävention bereits in der Schule beginnen? Können wir Abhängigkeitserkrankungen vorbeugen, wenn wir den Konsum verbieten oder einschränken, beispielsweise über Werbung oder den Preis? Inwiefern erhöhen neue Medien das Risiko für neue Abhängigkeitserkrankungen? Internetbezogene Störungen, wie die exzessive Nutzung von Computerspielen, sozialen Netzwerken und des Internets allgemein, werden bei jungen Menschen immer mehr zu einem Problem.
Viele Fragen sind in diesem Bereich noch offen. Festzuhalten ist aber, dass die Suchtmedizin in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass am 1. Juli an den UPK Basel die schweizweit erste Modellstation zur stationären Behandlung von Verhaltenssüchten (VSS) eröffnet wurde. Behandelt werden Spielsucht, Medien- und Online-Abhängigkeit, Kaufsucht sowie exzessive Sexualität. Das seit 2010 bestehende ambulante Setting wird um das stationäre Setting für eine störungsspezifische Behandlung erweitert. Geplant ist eine enge Zusammenarbeit des ambulanten und des stationären Teams.
In dieser Ausgabe werden Suchterkrankungen aus weiteren Perspektiven betrachtet. Katja Römer berichtet im Beitrag «Lust und Rausch» über das zunehmende Phänomen von Chemsex.
Das betrifft eine Subgruppe von Männern, die Sex mit Männern haben, der oft die Kriterien einer Suchterkrankung erfüllt und erhöhte Raten sexuell übertragbarer Infektionen (STI) nach sich zieht. Erst in jüngerer Zeit haben sich Hilfsangebote in diesem Bereich entwickelt. Denn die Konsumenten sind oft sozial integriert und empfinden sich nicht als klassische Drogenabhängige, daher fühlen sie sich von den bestehenden Angeboten nicht angesprochen (Seite 4). Hannelore Ehrenreich und Jan Seidel zeigen in ihrem aktuellen Bericht, dass bis heute praktisch keine Quellen existieren, die systematisch und anhand einer grösseren Stichproben die Konsequenzen einer individuellen Häufung von gut definierten, präadulten Risikofaktoren auf die spätere Kriminalität untersuchten. Gerade die Anzahl dieser Risikofaktoren scheint aber besonders schwerwiegende Auswirkungen für die betroffenen Menschen zu haben (Seite 7).
Christian G. Schütz zeigt in seinem Artikel, dass bei Alkoholkonsumstörungen depressive Störungen häufig sind und umgekehrt und beschreibt die Konsequenzen für die Diagnostik und Therapie (Seite 10).
Die Psychiatrie in der Schweiz und umliegenden Ländern ist demnach in Bewegung, das zeigen die Beiträge. Wie sieht es in den USA aus? Sind diese noch immer das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und anderen Staaten in der Entwicklung voraus – auch in der medizinischen und speziell der psychiatrischen Versorgung? Andreas Schneeberger und Rahul Gupta schauen in ihrem Beitrag genauer hin (Seite 14).
Wir sind sicher, Ihnen mit den Themen eine spannende und auch unterhaltsame Lektüre zu liefern. G
Prof. Marc Walter Chefarzt Klinik für Erwachsene
und stv. Direktor Privatklinik UPK Basel
Herausgeber «Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie + Neurologie»
4/2018
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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