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FORTBILDUNG
Schwindel: Wir wissen zu wenig und schwindeln zu viel darüber
Schwindel ist eines der häufigsten Symptome, weshalb ein Arzt konsultiert wird. Schwindel umfasst viele Symptome, wobei der Patient häufig etwas anderes darunter versteht als Mediziner. Oftmals wissen Ärzte leider nur wenig mehr über Schwindel als die Patienten und scheuen sich davor, Schwindelpatienten zu betreuen. Leider gehört das Gleichgewichtsorgan auch zu den im Bereich der Wissenschaften am schlechtesten verstandenen Sinnesorganen. Der Artikel fasst kurz zusammen, was wir nicht wissen und was nicht heilbar ist, und gibt hoffnungsvolle Ausblicke für mögliche Verbesserungen.
Stefan Hegemann
von Stefan Hegemann
Diagnostik
Z u den ärztlichen Aufgaben zählt es, die Ursache für ein Symptom zu finden. Dieses lässt sich dann – eventuell – zum Wohle des Patienten behandeln. Schwindel ist ein Symptom, das durch sehr viele verschiedene Ursachen ausgelöst werden kann: Diese können im Gleichgewichtsorgan (GGW-Organ), im GGW-Nerv, im Gehirn, in der Psyche oder in der Halswirbelsäule (HWS) liegen, im Herz-Kreislauf-System oder in Stoffwechselprozessen, wobei hierunter auch medikamentöse Nebenwirkungen zusammengefasst sind. Die verschiedenen Ursachen können gleichartige, sehr ähnliche oder zumindest teilweise überlappende Symptome von Schwindel verursachen. Daher sollte ein Arzt für Schwindel, wie auch für alle anderen Symptome, die wichtigsten Differenzialdiagnosen kennen. Er sollte also medizinisches Wissen aus mehreren Fachgebieten besitzen und zumindest anhand der Symptome und Befunde entscheiden können, welchen Fachkollegen er noch hinzuziehen sollte. Das ist die Kunst bei der Behandlung von Schwindel. Das Gleichgewichtsorgan selbst ist nur teilweise verstanden. Die drei Bogengänge (BG) sind für die Messung von Drehbewegungen des Kopfes verantwortlich. Ihre Funktion wird klinisch fast ausschliesslich über den Kopfimpulstest (KIT) und die bithermale bilaterale kalorische Untersuchung (Kalorik) geprüft. Viel weniger wissen wir über die Rezeptoren für Linearbeschleunigung und Schwerkraft, die Makulaorgane oder Otoconienorgane (Utrikulus und Sakkulus), welche etwas inkorrekt fast immer als Otolithenorgane bezeichnet werden. Da es Otolithen nur bei Fischen und einigen Amphibien gibt, aber alle Vögel und Säugetiere Otoconien haben, sollte der Begriff Otolithen auch nur bei Fischen verwendet werden. Die Otoconien stehen in engem Kontakt zur Funktion der Bogengänge und beeinflussen auch deren Reflexe deutlich, und sie sind direkt an der Muskelinnervation beteiligt, das heisst
dem vestibulospinalen Reflex, der uns den freien Gang auf zwei Beinen ermöglicht. Die weitverbreitete Vorstellung ihrer Funktion ist aber etwa vergleichbar einem Bewegungssensor in einem Handy. Dass allein der Utrikulus etwa doppelt so viele Haarzellen hat wie das gesamte Hörorgan, die Cochlea, ist kaum jemandem bewusst, und es wurde und wird auch kaum hinterfragt, warum das so ist. Ebenso ist das wichtige Zusammenspiel von Otoconien und den Haarzellen nahezu unerforscht. Bis anhin ist bekannt, dass Otoconien bei Personen über 50 Jahre zunehmend degenerativ verändert werden (1, 2). Aber wir wissen nicht, wie viele Otoconien wir verlieren können, bevor Schwindel einsetzt, oder ob und wie der Verlust von Otokonien kompensiert werden kann. Die Erforschung der Makulaorgane wäre daher der wichtigste nächste Schritt für die Entdeckung neuer Ursachen für Schwindel und hoffentlich auch für deren Behandlung. Der zunehmende Verlust und der dadurch entstehende Mangel an Otoconien geht vermutlich auch mit der zunehmenden Gangunsicherheit im Alter einher. Die neue Diagnose wurde kürzlich auf dem 30. Barany-Society-Meeting vorgestellt (3) und wird in Kürze veröffentlicht. Leider ist diese Diagnose am Lebenden noch nicht beweisbar.
Therapie Periphere Vestibulopathie Für einen akuten peripher vestibulären Schaden, die Neuritis vestibularis oder Vestibularneuritis oder bei korrekterer Bezeichnung die periphere Vestibulopathie (PVP), fehlt bis heute eine evidenzbasierte Behandlungsmethode (4). Das liegt im Wesentlichen an der Vorstellung, dass es sich dabei «nur» um eine Neuritis handelt. Diese kommt tatsächlich vor, wie sie auch beim Hörsturz vorkommt. Leider ist völlig unbekannt, zu welchem Prozentsatz eine Neuritis vorliegt. Nach einer aktuellen Studie liegt in lediglich etwa 25 Prozent ein Schädigungsmuster vor, das einer Neuritis entspricht (5). An eine Schädigung im Innenohr, wie sie bei Hörsturz auftritt, scheint kaum einer zu denken, weshalb die The-
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rapie bisher ausschliesslich auf eine Neuritis ausgerichtet ist. Eine grosse Studie sollte bald eingereicht werden, um dieses fehlende Wissen zu ergänzen und die Behandlung evidenzbasiert durchzuführen.
Morbus Menière Auch für den M. Menière gibt es keine einheitliche Ursache und damit auch keine einheitliche Behandlungsmethode und erst recht keine Möglichkeit der Heilung. Der M. Menière oder besser das Menière-Syndrom hat teilweise zentrale Ursachen, wie zum Beispiel die Migräne, die dadurch auch von Ohrenärzten erfragt und gegebenenfalls behandelt werden sollte. Bis 2016 wurde aufgrund schwacher beziehungsweise trotz fehlender Evidenzlage bei M. Menière zumeist Betahistin verabreicht. Die bisher grösste und angeblich beste Studie dazu (6) hat leider ergeben, dass die bisherige Höchstdosis und selbst die dreifache Höchstdosis (3 × 48 mg) keinen statistischen Unterschied im Vergleich zu Plazebo zeigt. Bedauerlicherweise wurden die Patienten nicht spezifisch auf Migräne untersucht und daher nicht in Gruppen von Menière und Migräne und Menière ohne Migräne unterteilt. Wie in der Studie selbst erwähnt, kann Betahistin den Umsatz von Histamin im Zentralnervensystem erhöhen, vorwiegend über den H3-Rezeptor. Histamin kann wahrscheinlich eine Migräne triggern – der wissenschaftliche Beleg dafür fehlt aber –, wie auch histaminhaltige Lebensmittel wie Rotwein oder bestimmte Käsesorten als Migränetrigger vermutet werden (7). Wenn etwa die Hälfte aller Menière-Patienten auch an Migräne leiden, dann könnte Betahistin möglicherweise die Migräne oder die migräneassoziierte Menière-Symptomatik verstärken, während es die Menière-Attacken bei der anderen Hälfte reduzieren könnte. Das könnte statistisch auf einen Nulleffekt hinauslaufen, wie er in der Studie beschrieben wurde. Ob deswegen Betahistin zumindest bei Patienten, die nur Menière und keine Migräne haben, verabreicht werden kann oder sollte, ist noch völlig unklar. Eine Empfehlung möchte ich daher nicht abgeben.
Peripher vestibuläre Syndrome Einzige, bis heute heilbare peripher vestibuläre Syndrome sind der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel, die häufigste Schwindelerkrankung, und die Bogengangsdehiszenz, welche durch operativen Verschluss zur Symptomfreiheit führen kann, wobei eine gelungene Operation einiger Erfahrung bedarf. Hier wären aus meiner Sicht wenige Zentren in Europa sinnvoll, die diesen Eingriff übernehmen.
Zentrale Ursachen für Schwindel Die häufigste Ursache ist die vestibuläre Migräne (VM). Auch für Migräne fehlen bis heute kurative Heilmethoden. Daneben kommt Schwindel vor allem bei Läsionen in Kleinhirn und Hirnstamm vor, wie sie bei Infarkten, Hirntumoren, bei Encephalomyelitis disseminata (ED), anderen Enzephalitiden oder degenerativen Erkrankungen vorkommen können, aber auch bei zerebralen Schäden im Thalamus, Hippocampus oder im parietoinsulären vestibulären Cortex (PIVC) (8).
Periphere Ursachen Eine häufige Ursache von Gangunsicherheit, die ebenfalls sehr häufig als Schwindel bezeichnet wird, ist die Polyneuropathie (PNP). Eine PNP kann viele verschiedene Ursachen haben. Therapeutisch lässt sich diese kaum verbessern (9). Immerhin kann eine Verschlechterung durch Ursachenbehandlung wie zum Beispiel Blutzuckereinstellung oder Vitamin-B12-Substitution verhindert werden, weshalb sie früh erkannt und entsprechend behandelt werden sollte.
Psychogener Schwindel Dieser wird zumeist als phobischer Attackenschwankschwindel oder neu als Persistent Postural Perceptual Vertigo (PPPV) bezeichnet. Da fast jeder Schwindel auch dem psychisch Gesündesten bei entsprechender Ausprägung, Häufigkeit oder Dauer psychische Probleme bereiten kann, sind auch sehr viele Schwindelpatienten sehr gut beraten mit einer Psychotherapie.
Fazit
Der Artikel zeigt deutlich, wie wenig über die Ursachen
von Gleichgewichtsstörungen bekannt ist. Der Schwin-
delspezialist sollte demnach eigentlich ein Allrounder
sein, der aber auf ein Symptom konzentriert ist. Da sich
die Medizin mehr und mehr von den meist anatomisch
definierten Fachgebieten zu symptombezogenen Ge-
bieten entwickelt, wäre ein Fachgebiet für Schwindel
ein sehr relevantes und interessantes Feld. Denn es bie-
tet eine unglaubliche Vielfalt an interdisziplinärer For-
schung, deren Erkenntnisse auch den Betroffenen eine
ganz erhebliche Verbesserung ihrer Lebensqualität ver-
schaffen könnte.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Stefan Hegemann
Facharzt für Neurologie und
Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
Nüschelerstrasse 49
8001 Zürich
E-Mail: schwindelspezialist@hin.ch
Internet: http://balance-clinic.ch
Literatur:
1. Ross MD, Peacor D, Johnsson LG, Allard LF: Observations on normal and degenerating human otoconia. Ann Otol Rhinol Laryngol. 1976 May–Jun; 85(3 pt 1): 310–326.
2. Johnsson L-G: Degenerative changes and anomalies of the vestibular system in man. Laryngoscope. 1971 Oct; 81(10): 1682–1694.
3. Hegemann SCA, Ernst A, Basta D, Bockisch CJ: Otoconial loss the new and important diagnosis-explanation for residual dizziness and chronic imbalance. Presentation OP16-4, Barany Society Meeting June 10–13 2018, Uppsala, Sweden.
4. Fishman JM, Burgess C, Waddell A: Corticosteroids for the treatment of idiopathic acute vestibular dysfunction (vestibular neuritis). Cochrane Database of Systematic Reviews 2011 May 11; (5): CD008607.
5. Uffer, Denis S; Hegemann, Stefan C A (2016). About the pathophysiology of acute unilateral vestibular deficit – vestibular neuritis (VN) or peripheral vestibulopathy (PVP)? Journal of Vestibular Research, 26(3): 311–317. DOI: https://doi.org/10.3233/VES-160581
6. Adrion C, Fischer CS, Wagner J, Gürkov R, Mansmann U, Strupp M: Efficacy and safety of betahistine treatment in patients with Meniere’s disease: primary results of a long term, multicentre, double blind, randomised, placebo controlled, dose defining trial (BEMED trial) BMJ 2016; 352: h6816.
7. Holzhammer C, Wöber J: Alimentäre Triggerfaktoren bei Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp. Schmerz 2006, 20: 151–159.
8. Dieterich M, Brandt T: The bilateral central vestibular system: its pathways, functions, and disorders. Ann N Y Acad Sci. 2015 Apr; 1343: 10– 26.
9. Callaghan BC, Price RS, Feldmann EL: Diagnostic and therapeutic advances: distal symmetric polyneuropathy. JAMA. 2015 Nov. 24; 314(20): 2172–2181.
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