Transkript
FORTBILDUNG
Interdisziplinäre Abklärung und Behandlung von Schwindel
Rainer Spiegel
Der Beitrag gibt den Lesern einen Überblick über die häufigsten Schwindelätiologien, um sie in die Lage zu versetzen, abwendbar gefährliche Verläufe zu erkennen und entsprechend zu handeln. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den interdisziplinären Behandlungsansätzen und deren Anwendung in der Versorgung von Schwindelpatienten. Dies betrifft sowohl die Akutbehandlung als auch die Rehabilitation. Nach Darstellung der Abklärungsschritte werden vor allem Behandlungskonzepte aus der vestibulären Physiotherapie und der Psychotherapie erläutert.
von Rainer Spiegel a, b, Balz Winteler c, Irena Pjanic d, Georgios Kokinogenis d, Hassen Kerkeni e, Georgios Mantokoudis f*, Roger Kalla e*
Einleitung
I n kürzlich erschienenen Übersichtsartikeln haben wir die Abklärung von Schwindel in der Hausarztpraxis (1), auf dem Notfall (2) sowie aktuelle Therapien (3) diskutiert. In der letzten Arbeit (3) betonten wir, dass die Behandlung durch interdisziplinäre Teams (z.B. Physiotherapie) eine herausragende Bedeutung geniesst und somit in gleichem Masse zum Therapieerfolg beiträgt wie die medizinische Behandlung, inklusive Pharmakotherapie. Nachdem unser Schwerpunkt in der vorherigen Arbeit (3) auf medizinischen Behandlungsansätzen gelegen ist, werden wir in der aktuellen Übersichtsarbeit vor allem die interdisziplinäre Abklärung und Therapie von Schwindel beleuchten.
Häufigkeit von Schwindel Neben 5 Prozent der unselektierten Vorstellungen in Schwindelambulanzen und auf dem Notfall (4–6) ist Schwindel der dritthäufigste Grund zur Vorstellung in Hausarztpraxen beziehungsweise allgemeininternistischen Polikliniken (7–8). Diese epidemiologischen Erhebungen unterstreichen nicht nur die Häufigkeit von Schwindel, sondern auch die besondere Bedeutung und Verantwortung hinsichtlich einer adäquaten Abklärung und Behandlung. Basierend auf den beiden Über-
a Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen, D-72076 Tübingen. b Universitätsspital Basel, 4031 Basel c Institut für Physiotherapie, Inselspital Bern d Kompetenzbereich Psychosomatische Medizin, Inselspital, 3010 Bern e Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Bern f Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kopf- und Halschirurgie, Inselspital Bern
* Georgios Mantokoudis und Roger Kalla haben gleichermassen zum Manuskript beigetragen (geteilte Letztautorschaft).
sichtsarbeiten zu Schwindel in der Hausarztpraxis (1) und auf dem Notfall (2) werden wir Konzepte darstellen, um einen abwendbar gefährlichen Verlauf rechtzeitig zu erkennen und die nötigen Schritte einzuleiten. Gemessen an den beiden vorherigen Übersichtsarbeiten werden wir diese Konzepte jedoch auf das Wesentliche beschränken, da sie bereits in den anderen Arbeiten ausführlich diskutiert wurden. Somit verweisen wir interessierte Leser gerne auf die entsprechenden Quellen (1–2). Nach einer konzisen Darstellung dieser Konzepte leiten wir über zu interdisziplinären Abklärungs- und Behandlungsschritten.
Bedeutung der interdisziplinären Triage Bei jedem Erstkontakt mit Patienten, die an Schwindel leiden, stellt sich unweigerlich die Frage, ob es sich um einen abwendbar gefährlichen Verlauf handelt, bei dem das Hinauszögern von diagnostischen oder therapeutischen Massnahmen einen Schaden für den Patienten bedeutet. Dies betrifft nicht allein die Hausarztpraxis und den Notfall, sondern auch einzelne Polikliniken und Spezialambulanzen, in denen es je nach Struktur der medizinischen Versorgung zu unselektierten Erstvorstellungen kommen kann. In diesem Rahmen kommt der für die Triage verantwortlichen Person eine besondere Bedeutung zu. Da die Triage nicht in allen Institutionen von der gleichen Berufsgruppe ausgeführt wird, bleibt uns an dieser Stelle zu erwähnen, dass unabhängig von der Berufsgruppe (diplomierte Pflegefachkräfte, Ärzte etc.) ein adäquates Training zur Vermeidung von abwendbar gefährlichen Verläufen stattfinden muss. Dies wird vor allem bei den folgenden Leit- oder Nebensymptomen deutlich, die einen abwendbar gefährlichen Verlauf suggerieren («Red Flags»). Die aktuelle Übersichtsarbeit orientiert sich hinsichtlich der «Red Flags» an bereits erschienenen Übersichtsarbeiten (1–2, 9). Anbei folgt eine kurze Zusammenfassung, die Hinweise auf einen abwendbar gefährlichen Verlauf gibt: 1. Erster klinischer Eindruck: Liegen Hinweise für einen
abwendbar gefährlichen Verlauf vor? Wie erhöhte Atemfrequenz (d.h. Patienten können keine ganzen
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Sätze sprechen, ohne diese wiederholt für Atempausen zu unterbrechen), Bewusstseinsalterationen, starkes Schwitzen oder Kaltschweissigkeit, deutliche Blässe. 2. Liegt ein kürzlich zurückliegender Unfall vor oder Donnerknallkopfschmerz oder jede Form von Vernichtungsschmerz, insbesondere zwischen den Schulterblättern, (kardio-)vaskuläre Risikofaktoren? 3. Liegen anamnestische Hinweise auf Doppelbilder/ Gesichtsfeldausfälle vor? 4. Medikamentenanamnese: Welche Medikamente werden eingenommen? Aminoglykosidantibiotika können beispielsweise zu irreversiblen Schwindelund Gleichgewichtsstörungen führen, wenn sie nach ersten Symptomen nicht gestoppt werden. Ferner kann Lithium bei zu hohem Spiegel zu einer Intoxikation führen. 5. Werden anamnestisch Fieber, Nackensteifigkeit, starke Ohrenschmerzen berichtet, oder liegen sie vor?
Kurzer Status im Bereich der Triage 1. ABCDE-Schema:
a. Airway: Sind die Atemwege frei? Dies ist in aller Regel gegeben bei Selbstvorstellung oder Überweisung an eine Spezialambulanz.
b. Breathing: Liegt vesikuläres Atmen vor, ist die Lunge beidseits belüftet? Wie hoch ist die Atemfrequenz?
c. Circulation: Sind die Pulse beidseits palpabel bis in die Peripherie. Liegt eine Blutdruckdifferenz an beiden Oberarmen vor?
d. Disability: Orientierenden Neurostatus inklusive Erhebung der Glasgow Coma Scale (GCS) erstellen. Ist Anisokorie der Pupillen vorhanden? Ist Meningismus vorhanden? Cincinnati Prehospital Stroke Scale durchführen in Bezug auf Gesichtsasymmetrie, Absinken eines Arms im Armhalteversuch und Sprachstörungen (10).
e. Environment: Liegen Eigen- oder fremdanamnestische Hinweise auf Intoxikation, Trauma und so weiter vor?
2. Erhebung der noch fehlenden Vitalparameter inklusive Sauerstoffsättigung am Pulsoximeter und der Körpertemperatur.
Interdisziplinäre Schwindelabklärung in der Ambulanz Sollte es in der Triage keine Hinweise auf einen akut gefährlichen Verlauf geben, kann die weitere Abklärung in der Poliklinik oder (Spezial-)Ambulanz erfolgen. Auch hier sollten alle Vertreter der verschiedenen Berufsgruppen über ein adäquates Training zur Feststellung eines abwendbar gefährlichen Verlaufs verfügen. Dies aufgrund der Tatsache, dass es in Einzelfällen im Bereich der Triage Fehler geben kann. Auch von der Ambulanz muss weiterhin eine umgehende Zuweisung in das Notfallzentrum möglich sein, wenn im Rahmen der Schwindelabklärung weitere «Red Flags» zum Vorschein kommen. Die Arbeit in der Poliklinik ist eine durch Interdisziplinarität geprägte Tätigkeit. Eine Reihe von medizinischen Berufsgruppen sind entweder direkt (Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Neurologie) oder indirekt (Innere Medizin, Radiologie) involviert. Zu den involvierten medizinischen Fachbereichen gehören in alphabetischer Rei-
henfolge die Augenheilkunde, die Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, die Innere Medizin, die Neurologie, die Physikalische Medizin, die Psychiatrie und Psychosomatische Medizin, die Radiologie und die Rehabilitation. Eine gleichermassen grosse Bedeutung haben folgende, ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge aufgelistete Berufsgruppen: die Ergotherapie, die Ingenieurwissenschaften, die Labordiagnostik, die Orthoptik, die Physiotherapie und die Psychologie (inklusive Psychotherapie). Alle genannten Berufsgruppen sollten ein Training zur interdisziplinären Abklärung und Behandlung von Schwindel erhalten, wenn sie in Ambulanzen tätig sind, um die jeweiligen Tätigkeiten der anderen Berufsgruppen kennenzulernen und im Falle abwendbar gefährlicher Verläufe adäquat handeln zu können. Für Patienten ist es oft undurchschaubar, welche Funktion einzelne Personen in einer Ambulanz innehaben. Ein Patient mag beispielsweise in der anfänglichen Anamnese seine Doppelbilder, die er vor 7 Tagen für eine Dauer von 15 Minuten hatte, unerwähnt lassen und dann erst in der späteren Orthoptikdiagnostik seine Doppelbilder erwähnen, weil es ihm erst zu diesem Zeitpunkt einfällt, dass diese Information eventuell wichtig sein könnte.
Anamnese und Statuserhebung Nach der bereits erwähnten Triage erfolgt eine über diese hinausgehende Anamnese und körperliche Untersuchung mit detailliertem Neurostatus, Sehtest und Otoskopie durch den verantwortlichen Arzt. Hier können bereits Hinweise auf die zugrunde liegende Ätiologie zum Vorschein kommen, zum Beispiel kann ein Gesichtsfeldausfall auf eine zentrale Ätiologie, ein Herzgeräusch auf eine Aortenklappenstenose oder ein pathologischer Schellongtest auf orthostatischen Schwindel hindeuten. Ferner kann ein Nystagmus im sogenannten Dix-Hallpike-Manöver auf einer periphervestibulären Funktionsstörung beruhen. Dafür sitzt der Patient auf einer Liege und wird schnell in horizontale Position gebracht, mit Kopfüberstreckung nach rechts oder nach links und einer Frenzel-Brille über den Augen. Mit einer Latenz von wenigen Sekunden tritt im Falle einer peripher-vestibulären Funktionsstörung ein zur Stirn schlagender Nystagmus mit rotatorischer Komponente zum unten liegenden Ohr auf. Ein wichtiger Test zur Unterscheidung zwischen zentraler und periphervestibulärer Funktionsstörung ist die HINTS-Untersuchung. Diese Abkürzung steht für Head Impulse Test, Nystagmus und Test of Skew Deviation. Sie findet insbesondere Berücksichtigung bei der Arbeit auf dem Notfall (2, 8–9, 11). Für eine zentrale Ätiologie sprechen sowohl eine fehlende Einstellsakkade im Kopfimpulstest als auch ein vertikaler, torsioneller oder horizontal alternierender Nystagmus und eine vertikale Achsenabweichung der Augen im alternierenden Abdecktest, sogenannte vertikale Skew Deviation. Neben der Anamnese und der körperlichen Untersuchung (1–2, 9) erfolgt die Besprechung der weiteren Laboruntersuchungen.
Labordiagnostik Das Labor sollte mindestens eine Bestimmung von Blutbild, Chemogramm, Gerinnung und TSH enthalten. Auf diese Weise können zum Beispiel eine Anämie, eine Hypoglykämie, eine Hyponatriämie oder eine Schilddrü-
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senfunktionsstörung erkannt werden, von denen wir jeweils wissen, dass sie mit unspezifischem Schwindel einhergehen können. Eine ausgeprägte Gerinnungsstörung könnte auf ein beginnendes Leberversagen und bis anhin unerkannte Blutungsquellen, insbesondere bei gleichzeitig bestehender Anämie, hindeuten. Ein ebenfalls wichtiger Laborparameter ist der HbA1c-Wert, der auf einen bis anhin unerkannten Diabetes mellitus
Abbildung: Optokinetisches Training mit dem Stimulopt
hinweisen kann. Bei Diabetes mellitus könnte eine diabetische Polyneuropathie mit Gleichgewichtsstörungen einhergehen. Auch ein Mangel an Folsäure und Vitamin B12 kann im weiteren Sinne mit Schwindelsymptomen einhergehen.
Apparative Zusatzdiagnostik Zur apparativen Diagnostik gehört mindestens ein Elektrokardiogramm (EKG) für Hinweise auf Herzrhythmusstörungen und zur Beachtung der frequenzkorrigierten QT-Zeit (QTc-Zeit). Nach dem Beginn einer spezifischen Medikation zur symptomatischen Behandlung von Schwindel ist auf jeden Fall ein erneutes EKG erforderlich, sofern die Medikation die QTc-Zeit verlängern kann (insbesondere Vergleich QTc-Zeit vor und nach Beginn der Medikation). Der Sinn dieser Überprüfung ist die Vorbeugung einer durch Medikation ausgelösten QTcVerlängerung und damit die Vermeidung einer fatalen Torsade-de-pointes-Arrhythmie. Hat der Patient bereits vor Verabreichung der Medikation eine verlängerte QTcZeit (> 440 ms), sollte auf eine die QTc-Zeit verlängernde Medikation zur symptomatischen Behandlung von Schwindel ganz verzichtet werden. Bei schwierigen EKG-Befunden oder Unsicherheit im Rahmen der Interpretation müssen Kollegen aus der Inneren Medizin oder Kardiologie zurate gezogen werden. Die weitere apparative Diagnostik erfolgt hypothesengeleitet in Abhängigkeit der in der Anamnese und klinischen Untersuchung vermuteten Diagnose(n) oder zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen. Zum Beispiel könnte ein neurovaskulärer Ultraschall, ein Ultraschall der Schilddrüse oder des Abdomens je nach bisher erhobenen Befunden zielführend sein. Eine Bildgebung des Schädels, zum Beispiel eine Computertomografie (CT) bei Verdacht auf Blutung, eine Magnetresonanztomografie (MRI) bei Neoplasien nach erlittenen Ischämien oder
entzündlichen Prozessen (Vaskulitiden), kann die Diagnostik sinnvoll ergänzen. Sollte aufgrund der bisherigen Befunde eine Migräne vermutet, jedoch noch nie mittels Bildgebung untersucht worden sein, ist zum differenzialdiagnostischen Ausschluss anderer Ätiologien eine einmalige Bildgebung mittels Magnetresonanztomografie sinnvoll. Sowohl für den Ultraschall als auch für die Schädelbildgebung ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Radiologie bedeutend, zudem die Zusammenarbeit mit der Orthoptik. Ferner führen technische Assistenten die weiteren otoneurologischen Tests durch, wie zum Beispiel die kalorische Testung. Des Weiteren erfassen sie die vestibuläre Funktion mittels Posturografie und Drehstuhltests. Die Bereitstellung der technischen Methoden wiederum geschieht durch die Ingenieurwissenschaften.
Interdisziplinäre Therapie von Schwindel Wie bereits erwähnt, kann Schwindel eine Reihe von Ursachen haben. Die jeweilige Therapie sollte sich auf die entsprechende Ursache stützen (3, 12–14). Kardiale Ursachen erfordern eine fachspezifische Behandlung, zum Beispiel kann Schwindel aufgrund einer Aortenklappenstenose durch eine entsprechende Intervention beseitigt oder reduziert werden. Bei Herzrhythmusstörungen kann die Implantation eines Herzschrittmachers notwendig sein, bei orthostatischem Schwindel kann die Anpassung und das Tragen von Kompressionsstrümpfen zur Symptomreduktion führen. Nach neurologischen Schädigungen durch Schlaganfälle, Traumen oder degenerative Prozesse ist die Arbeit der Ergotherapie von immenser Bedeutung. Bei funktioneller Genese, zum Beispiel im Rahmen eines somatoformen Schwankschwindels, kann die Arbeit von Psychologen, insbesondere Experten aus dem Bereich Psychosomatik mit entsprechender Ausbildung in Psychotherapie, sehr wertvolle und entscheidende Beiträge zur Behandlung leisten. Eine Abhandlung der aktuellen medikamentösen Therapien findet sich in folgenden Manuskripten (3, 12–14). Generell kann jedoch gesagt werden, dass im Falle von starker Schwindelsymptomatik für eine Dauer von maximal drei Tagen Antivertigonosa helfen. Da diese zentrale Kompensationsmechanismen behindern, sollte keine längere Einnahme erfolgen (12,13). Spezifische Vorschläge zur Pharmakotherapie existieren für Morbus Menière, der unilateralen Vestibulopathie, der Vestibularisparoxysmie, der episodischen Ataxie Typ 2, dem somatoformen Schwankschwindel, Upbeat- oder Downbeat-Nystagmus, der vestibulären Migräne und Autoimmunkrankheiten sowie Neoplasien, die das Gleichgewichtsorgan betreffen. Eine medikamentöse Sekundär- und Tertiärprophylaxe besteht ausserdem nach transitorischen ischämischen Attacken (TIA) und Schlaganfällen (3, 12–14). Therapieansätze zu Lagerungsmanövern existieren für den benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel, operative Methoden hingegen bei Dehiszenz des oberen Bogengangs (3, 12–14). Neben den rein medizinischen Behandlungsmethoden nimmt bislang insbesondere die vestibuläre Physiotherapie eine zentrale Rolle in der Behandlung von uni- und bilateraler Verstibulopathie ein. Gleiches gilt für die Behandlung von somatoformem Schwankschwindel, der medikamentös und
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durch eine Psychotherapie behandelt werden kann. Es ist ferner denkbar, dass die vestibuläre Physiotherapie bei mehreren Schwindelsyndromen im Falle einer systematisch empirischen Prüfung einen adäquaten Effekt erzielt. Hier gibt es viel Spielraum für kreative Ansätze, insbesondere in Zusammenarbeit mit den Ingenieurwissenschaften, die jeweils dabei helfen könnten, apparative Methoden in die Therapiesitzungen einzubauen (z.B. bei der Konstruktion der Posturografie, um Gleichgewichtsstörungen zu untersuchen, oder in der dreidimensionalen Videookulografie, um Nystagmus zu analysieren). Die genannten Verfahren könnten besonders in Zusammenarbeit mit der vestibulären Physiotherapie von Nutzen sein, um den Therapieerfolg zu überprüfen und die Behandlungsschritte nachfolgend anzupassen. Des Weiteren sollen sowohl die Ansätze der Physiotherapie als auch die Ansätze der Psychotherapie und Psychosomatik näher beleuchtet werden, wie sie in einer Ambulanz oder Spezialsprechstunde ablaufen. Es wird hier auch Bezug genommen aug den aktuellen Kenntnisstand evidenzbasierter Forschung.
Vestibuläre Physiotherapie Die Physiotherapie, hier am Beispiel der interdisziplinären Schwindelsprechstunde am Inselspital Bern, verfolgt prinzipiell drei primäre Ziele: 1. Das Erfassen der funktionellen Einschränkungen von
Schwindelpatienten mittels validierter Fragebögen wie dem Dizziness Handicap Inventory (DHI) (15) und/oder funktioneller Tests wie der Berg-BalanceSkala (BBS) (16). 2. Die evidenzbasierte Behandlung von Schwindelpatienten nach den Prinzipien der vestibulären Rehabilitation. 3. Die Verlaufsmessung der Behandlung mittels Wiederholung der anfänglich durchgeführten Assessments (z.B. DHI, BBS) mit Abschluss der Behandlung. Funktionsorientierte Ziele sind für die Physiotherapie des Inselspitals Bern in der Rehabilitation von Schwindelpatienten unabdingbar. Sie schaffen einen alternativen Aufmerksamkeitsfokus zum Symptom Schwindel und fördern die Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit des Patienten. Erwiesenermassen werden sie bei der unilateralen Vestibulopathie mit einer Kombination von Übungen erreicht, welche die zentrale Kompensation/Habituation, die Adaptation und die Substitution fördern (17). Eine solche wird deshalb auch in der Leitlinie für die klinische Praxis der American Physical Therapy Association, Neurology Section empfohlen (18). Auch in Bern wird eine multimodale Physiotherapie angewendet, die Gleichgewichts- und Gangübungen, optokinetisches Training (Abbildung) und Edukation umfasst. Individualisiert werden auch Übungen zur Entspannung, eine Kräftigungstherapie in der Medizinischen Trainingstherapie (MTT) oder eine App-basierte Übungstherapie eingesetzt. In manueller Therapie spezialisierte Physiotherapeuten der Schwindelsprechstunde beurteilen und behandeln zudem beteiligte Nackenbeschwerden, die beim Schwindelpatienten häufig auftreten (19–20). Die Wirksamkeit dieser Therapieform ist beim zervikogenen Schwindel bestätigt (21). Auch lassen sich Schwindelsymptome zervikogener Genese von denjenigen vestibulärer Ursache unterscheiden
(22). Beim benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (BPLS) hat die kombinierte Therapie von Repositionsmanöver und vestibulärer Physiotherapie das Potenzial, längerfristig funktionelle Outcomes zu verbessern (17).
Gruppentherapie bei psychosomatischem Schwindel Im Kompetenzbereich für Psychosomatische Medizin des Inselspitals wird für Patienten mit Schwindelsyndrom eine Gruppentherapie angeboten. Die Zuweisung erfolgt nach einer ärztlichen (z.B. neurologischen und/oder psychosomatischen) Abklärungsphase. Es findet in der Folge ein Vorgespräch statt, welches von der Gruppenleitung (Psychotherapeut) durchgeführt wird. In diesem Gespräch liegt der Fokus auf dem Beziehungsaufbau (Vermittlung von Empathie, Orientierung und Kontrolle sowie motivorientierte Beziehungsgestaltung nach F. Caspar) (23), der Klärung von möglicherweise komorbid bestehenden psychiatrischen Erkrankungen (z.B. Angststörung, Depressionen), der Klärung der Motivation und Exploration von möglichen Stressoren, Konflikten und Inkongruenzquellen, welche die Genese oder den Verlauf mitbestimmen. Darüber hinaus wird der Inhalt der Gruppe erklärt, und allfällige Fragen werden beantwortet. Die Gruppe wird geschlossen geführt (7 Sitzungen à 90 Minuten bei 10 Teilnehmern). Übergreifend werden die Gruppen- beziehungsweise Wirkfaktoren nach Yalom und Grawe genutzt, wie zum Beispiel die «Universalität des Leidens», «Problembewältigung», «Ressourcenaktivierung», «Gruppenkohäsion», «Interpersonelles Lernen» und «Mitteilung von Informationen» (24). Somit werden ein Gruppenaustausch mit diversen offenen Fragen und Übungen gefördert und Gewicht auf Übungen und konkretes Handeln gelegt (25), die Entspannungs-, Achtsamkeits- und Gleichgewichtsübungen umfassen. Inhaltlich liegt in der ersten Sitzung der Fokus auf der Edukation zu Schwindel (Fokus Wissensvermittlung). In der zweiten Sitzung wird Wissen zu Stress und Stressbewältigung (Schwindel als Stressor) vermittelt und somit das bio-psycho-soziale Modell eingeleitet. In der dritten Sitzung liegt der Fokus auf der Aufmerksamkeitslenkung und der achtsamen Wahrnehmung als möglicher Bewältigungsstrategie. In der vierten Sitzung liegt der Fokus auf der emotionalen Komponente des Schwindels und der Emotionsregulation. Die fünfte Sitzung ist der Gedankenumstrukturierung gewidmet, und die 5-Spalten-Technik wird vermittelt. Die sechste Sitzung ist eine Konfrontationssitzung, welche zum Ziel hat, Vermeidungsverhalten zu reduzieren. In der siebten und somit der Abschlusssitzung wird neben der Achtsamkeits- und der Ressourcenübung ein gemeinsamer Abschluss angestrebt, wobei hier die Integration des Erlernten, der Transfer in den Alltag und das gemeinsame Feedback im Zentrum stehen. Zu jeder Sitzung wird ein A4-Blatt ausgeteilt, auf welchem die relevanten Inhalte der jeweiligen Sitzung festgehalten sind, Reflexionsfragen notiert sowie Übungen genannt werden. Bei Abschluss geben die Patienten in der Regel an, von den Gruppenwirkfaktoren besonders profitiert zu haben. Des Weiteren berichten viele trotz der Persistenz des Schwindels über eine Reduktion von Vermeidungsverhalten sowie eine Verbesserung des Wohlbefindens und der Lebensqualität.
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Diskussion
Die Abklärung und Behandlung von Schwindel erfor-
dert die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgrup-
pen und Fachdisziplinen. Zunächst gilt das Augenmerk
der Triage, um einen abwendbar gefährlichen Verlauf
umgehend zu erkennen und entsprechend zu handeln.
Die übrigen Abklärungsschritte werden fortwährend
durch Forschungsaktivitäten aktualisiert. Klinische For-
schung im Bereich von Schwindel ist ein dynamisches
Feld, in dem zwar viele Fortschritte erzielt wurden, wo
aber enormes Potenzial für zukünftigen Erkenntniszu-
wachs besteht. Die Kooperation zwischen der vestibu-
lären Physiotherapie und den Ingenieurwissenschaften
ermöglicht beispielsweise kreative Ansätze wie die gal-
vanische Stimulation von Patienten über dem Mastoid,
die während der Physiotherapiesitzungen genutzt wer-
den können (26). Erfolgreich getestete Ansätze sollten
dann auch ihren Eingang in die routinemässige Versor-
gung von Schwindelpatienten finden. Hierfür bestün-
den zum Beispiel Möglichkeiten in Einrichtungen der
ambulanten sowie der stationären Rehabilitation, wel-
che die Symptome der Patienten über einen längeren
Zeitraum protokollieren und die Behandlung entspre-
chend adaptieren können. Aufgrund der Häufigkeit von
Schwindel besteht ein enormer Bedarf, um mithilfe von
anwendungsorientierter Forschung bisherige Erkennt-
nisse zu untermauern und neue Therapieansätze zu
entwickeln.
G
Korrespondenzadresse:
Rainer Spiegel, MD, PhD
Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen, Abteilung
für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie,
Schnarrenbergstrasse 95, D-72076 Tübingen
und
Universitätsspital Basel
Klinik für Innere Medizin
Petersgraben 4, 4031 Basel
E-Mail: rainer_spiegel@hotmail.com
Forschungsförderung: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit dieser Arbeit.
Merkpunkte:
G Neben 5 Prozent der unselektierten Vorstellungen in Schwindelambulanzen und auf dem Notfall ist Schwindel der dritthäufigste Grund zur Vorstellung in Hausarztpraxen beziehungsweise allgemeininternistischen Polikliniken.
G Der Behandlung durch interdisziplinäre Teams (z.B. Physiotherapie) kommt eine herausragende Bedeutung zu. Sie trägt in gleichem Masse zum Therapieerfolg bei wie die medizinische Behandlung inklusive Pharmakotherapie.
G Bei jedem Erstkontakt mit Patienten, die an Schwindel leiden, stellt sich unweigerlich die Frage, ob es sich um einen abwendbar gefährlichen Verlauf handelt, bei dem das Hinauszögern von diagnostischen oder therapeutischen Massnahmen einen Schaden für den Patienten bedeutet («Red Flags» beachten).
G Nach der Triage erfolgt eine über diese hinausgehende Anamnese und körperliche Untersuchung mit detailliertem Neurostatus, Sehtest, Otoskopie durch den verantwortlichen Arzt, Labordiagnostik und apparativer Zusatzdiagnostik.
G Sowohl die Ansätze der Physiotherapie als auch die Ansätze der Psychotherapie und Psychosomatik unterstützen und fördern die Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit des Patienten.
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