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FORTBILDUNG
Intensives Sportprogramm verbessert die Stimmung bei psychisch beeinträchtigten Personen
Sport wird von Menschen, die infolge einer psychischen Störung invalidisiert sind, nur selten getrieben und die entsprechenden Angebote sind zumindest in der Schweiz noch rar. Dabei kann schon ein intensives mehrtägiges Sporttraining zu beachtlichen Stimmungsverbesserungen sowie zu einer nachhaltigen Sportaktivität führen.
Nikolai Kiselev Sabrina T. Müller Nicole Ruckstuhl
von Nikolai Kiselev, Sabrina T. Müller* und Nicole Ruckstuhl**
J e nach Schätzung erkranken bis zu 50 Prozent der Bevölkerung irgendwann in ihrem Leben mindestens einmal an einer psychischen Störung (1, 2). Mit beinahe 40 Prozent machen die psychischen Störungen mittlerweile den grössten Anteil der IV-Neuanträge in der Schweiz aus (3). Neben den klassischen Behandlungsformen der modernen Psychiatrie finden in neuester Zeit auch andere Behandlungsansätze Beachtung (4), unter anderem die Empfehlung von sportlichen Aktivitäten. Diese führen zu einer Zustandsverbesserung von Patienten mit diversen psychischen Störungen (5). Derzeit sind in der Schweiz alle spezifizierten Sportangebote an eine Behandlungsinstitution angegliedert und ausschliesslich intern zugänglich (6). Damit steht ambulanten Patienten eine gute, einfache und günstige Behandlungsmethode zur Verbesserung der psychosozialen Gesundheit nur sehr selten zur Verfügung. Im Rahmen eines fünftägigen, von PluSport, dem Schweizer Dachverband des Behindertensportes, ausgetragenen Sportlagers für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen wurde untersucht, ob ein intensives Sportprogramm positive Effekte auf verschiedene psychopathologische Parameter wie zum Beispiel die Stimmung, die Einstellung zum Thema Sport sowie einzelne emotionale Aspekte (Zorn, Trauer, Hoffnungslosigkeit etc.) hat (7).
Methoden Das freiwillige und behandlungsinstitutionsunabhängige Sportlager fand erstmals im Mai 2016 in Sumiswald (BE) statt. Das Wochenprogramm wurde polysportiv aufgebaut und bestand aus einem Vormittags- (zirka 2 Stunden Sport) und einem Nachmittagsteil (zirka 2 bis 2½ Stunden Sport). 11 im Durchschnitt 43-jährige Personen haben am Lager teilgenommen, davon waren 10 (n = 10) bereit, täglich während des Sportlagers den ASTS-Fragebogen (Aktuelle Stimmungsskala, [8]) mit den fünf Teilskalen von Trauer, Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit, Zorn und positiver Stimmung sowie einen Monat später nochmals einen Nacherhebungsfragebo-
* Sabrina T. Müller, MSc in Psychologie UZH/UPD Bern, Abteilung Molekulare Psychiatrie ** Nicole Ruckstuhl, PluSport Behindertensport Schweiz
gen auszufüllen. Beide Geschlechter waren gleich häufig vertreten. Alle Personen bezogen eine IV-Rente aufgrund einer psychischen Störung. Alle Teilnehmenden hatten eine langjährige Krankheitsgeschichte (mind. 4 Jahre). Die Hauptdiagnosen waren Schizophrenie und affektive Störungen.
Resultate Die Analyse (Wilcoxon-Test) zeigte eine signifikante Abnahme der Hoffnungslosigkeit sowie des Zorns am letzten Tag im Vergleich zum ersten Tag des Sportlagers (z = –2,035; p = 0,047; n = 10 resp. z = –2,039; p = 0,043; n = 10). Hingegen war die Abnahme der Trauer nicht signifikant. Die Müdigkeit sowie die positive Stimmung variierten hingegen weder signifikant noch auffällig über die fünf Erhebungstage. In der Nacherhebung nahm die selbstberichtete sportliche Aktivität signifikant zu (z = –2,271; p = 0,031; n = 9). Ferner wurden eine positive Stimmungsveränderung (8 von 9 Personen) und die Verbesserung der generellen Einstellung zum Thema Sport (7 von 9 Personen) berichtet.
Diskussion
Die Daten zeigen, dass ein intensives Training im Sinne
eines negativen Verstärkers die negativen Aspekte der
Stimmung, wie Hoffnungslosigkeit oder Zorn, reduzieren
kann. Auch die Trauer nimmt tendenziell ab.
Ein langfristiger Aufbau solcher Angebote könnte ein
wichtiger Schritt im Sinne der Prävention, Rehabilitation,
(Re-)Integration sowie Sozialisation der Betroffenen dar-
stellen. Zudem könnte es ein Anstoss im Sinne des Ein-
oder Wiedereinstiegs in alltägliches Sporttreiben sein.
Trotz der kleinen Teilnehmerzahl (n = 10) unterstützen
die Ergebnisse der aktuellen Erhebung die zahlreichen
Befunde der positiven Auswirkungen von Sport auf
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Es
wäre daher wünschenswert, Sport vermehrt in den Be-
treuungsplan dieser Zielgruppe einzubauen
G
Korrespondenzadresse:
Nikolai Kiselev
MSc in Psychologie UZH/PluSport Behindertensport Schweiz
Chriesbaumstrasse 8
8604 Volketswil
E-Mail: kiselev@plusport.ch
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FORTBILDUNG
Literatur: 1. Wittchen H-U, Jacobi F: Size and burden of mental disorders in
Europe – a critical review and appraisal of 27 studies. European neuropsychopharmacology. 2005; 15(4): 357–376. 2. Wittchen H-U, Jacobi F, Rehm J, Gustavsson A, Svensson M, Jönsson B et al.: The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology. 2011; 21(9): 655–679. 3. OECD OfwZuE. Psychische Gesundheit und Beschäftigung Schweiz. Bericht im Rahmen des zweiten mehrjährigen Forschungsprogramms zu Invalidität und Behinderung (FoP2iV). Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen BSV 2014. 4. Ihde T: Ganz normal anders – Alles über psychische Krankheit, Behandlungsmöglichkeiten und Hilfsangebote. 2 ed. Zurich: Axel Springer Schweiz AG; 2014. 5. Lindwall M, Gerber M, Jonsdottir IH, Börjesson M, Ahlborg Jr G: The relationships of change in physical activity with change in depression, anxiety, and burnout: A longitudinal study of Swedish healthcare workers. Health Psychology. 2014; 33(11): 1309–1018. 6. Kiselev N, Kloimstein H, Lichtsteiner H: Psychische Störungen und Sportbedarf in der Schweiz – eine Situationsanalyse. Ars Medici. 2015; 20(15): 969–971. 7. Perrez M, Baumann U: Lehrbuch Klinische Psychologie & Psychotherapie. 3 ed. Bern: Huber; 2005. 8. Dalbert C: Subjektives Wohlbefinden junger Erwachsener: Theoretische und empirische Analysen der Struktur und Stabilität. Zeitschrift für differentielle und diagnostische Psychologie. 1992; 13(4): 207–220.
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