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FORTBILDUNG
Versorgungsstrategie bei Demenz
«Jeder Patient hat das Recht auf eine Diagnose und eine adäquate Behandlung.»
Die Zahl demenziell erkrankter Menschen in der Schweiz steigt weiter. Doch von einer optimalen Versorgungsstruktur ist die Schweiz noch weit entfernt. Im Interview gibt PD Dr. Ulrich Hemmeter, Chefarzt der Alters- und Neuropsychiatrie in St. Gallen, Auskunft über zukünftige Versorgungsstrategien und potenzielle Therapien.
Ulrich Hemmeter
Psychiatrie + Neurologie: Herr Dr. Hemmeter, in welchem Bereich der Versorgung von demenziell erkrankten Menschen sehen Sie den grössten Handlungsbedarf? PD Dr. Ulrich Hemmeter: Am dringendsten benötigen wir ursächlich wirksame Therapien zur Behandlung von Demenzen. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht abzuschätzen, wann und ob es solche je geben wird. Deshalb wird es weiterhin notwendig sein, die jetzigen Möglichkeiten der Diagnostik und der Therapie optimal zu nutzen und zu verbessern. In der Schweiz gibt es bereits viele Memory-Kliniken, und es bestehen viele Hilfsund Unterstützungs- wie auch Weiterbildungsangebote, die jedoch noch besser vernetzt werden müssen. Die Zusammenarbeit im Bereich Hausarztmedizin und Memory-Kliniken ist aus meiner Sicht bereits gut. Es werden aber immer noch zirka 50 Prozent der Menschen in der Schweiz, die an einer Demenz leiden, nicht erkannt beziehungsweise nicht diagnostiziert. Daher besteht gerade im Bereich der Früherkennung und der Frühdiagnose noch ein grosser Handlungsbedarf, zum Beispiel im Hinblick auf die Sensibilisierung und das Erkennen von möglichen Frühsymptomen der Demenz, den sogenannten Red Flags. Diese Sensibilisierung muss eigentlich die gesamte Gesellschaft, vor allem aber Fachpersonen wie Mitarbeiter von Spitex, in Pflegeheimen, aber auch in somatischen Kliniken, die mit vielen älteren Patienten in Kontakt kommen, wie auch Hausärzte einschliessen.
Wer sollte, wenn es um Vernetzung geht, den Lead übernehmen? Ulrich Hemmeter: Auf nationaler Ebene ist durch die Nationale Demenzstrategie (NDS) 2014–2019 eine Struktur geschaffen worden, die national klare Ziele, Rahmenbedingungen und Inhalte bei der Behandlung und der Betreuung von Patienten mit Demenz schaffen soll. Bund und Kantone haben Ende November 2013 im Rahmen des «Dialogs Nationale Gesundheitspolitik» die NDS verabschiedet. In der Halbzeit der Strategieumsetzung wurde eine Standortbestimmung vorgenommen. Angeregt wurde eine stärkere Einbindung in andere laufende nationale Programme mit Berührungspunkten zur NDS. Damit soll es besser möglich sein, strategieübergreifende Herausforderungen im Bereich der Langzeitpflege, der Unterstützung pflegender Angehöriger, der Interprofessionalität, der koordinierten Versorgung und der Palliative Care auch für die Demenzbehandlung und -betreuung anzugehen.
In der konkreten Versorgung der Patienten mit Demenz ist primär der Hausarzt die zentrale Anlaufstelle. Dieser betreut die Betroffenen in der Regel seit Jahren, er kennt seine Patienten, sodass Nachfragen und Abklärungen über den Hausarzt in der Regel am besten möglich sind. Oftmals haben Hausärzte aber zu wenig Zeit, oder es fehlt ihnen das Wissen, oder sie sind am Thema Demenz nur wenig interessiert. Erhebungen im Rahmen der NDS zeigen, dass Hausärzte mit den bestehenden Weiterbildungsangeboten in der Regel sehr zufrieden sind und sich auch gut über das Krankheitsbild informiert fühlen, es aber dennoch Mängel bei der Einleitung von empfohlenen Behandlungsmassnahmen wie auch bei der Vernetzung mit Unterstützungsdiensten gibt. Gerade die jetzt schon bestehenden therapeutischen Möglichkeiten bei Demenz und deren Nutzen für die Lebensqualität sind vielfach nicht bekannt.
Was wäre in diesem Bereich zu verbessern? Ulrich Hemmeter: Wir haben keine ursächliche Therapie für die Verbesserung der Gedächtnisstörung beziehungsweise der weiteren kognitiven Symptome. Dies bedeutet aber nicht, dass wir bei der Behandlung des Krankheitsbildes limitiert sind und den Patienten nicht helfen können. Neben den zentralen kognitiven Symptomen kommen als sekundäre, zusätzliche Symptome die behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz hinzu. Gerade diese Symptome sind für den Patienten, vor allem aber für das betreuende Umfeld wie Familie oder professionell Pflegende sehr belastend. Im Gegensatz zu den Gedächtnisstörungen können diese Verhaltensstörungen meist gut behandelt werden (1). Somit sind gerade bei Hausärzten und anderen Fachpersonen die Schulung und das Training mit den Patienten sowie interprofessionelle Supervision und Coaching eine wesentliche Aufgabe.
Pflegepersonal im Bereich Langzeitpflege fehlt, die Stellen bleiben oft unbesetzt. Woher wollen Sie das Personal nehmen? Ulrich Hemmeter: Die Problematik ist, dass der Beruf sehr schwer und belastend sein kann und nicht gut bezahlt wird, zudem fehlt der Nachwuchs. Daher müsste das Vergütungssystem vor allem für Pflegende in Heimen angepasst werden – insbesondere für die Betreuung von Patienten mit Demenz. Zudem müssten mehr Pflegende ausgebildet und der Beruf at-
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traktiver gemacht werden, auch in seiner gesellschaftlichen Stellung.
Reicht der derzeitige diagnostische Aufwand oder Einsatz? Hat es beispielsweise genügend Memory-Kliniken? Ulrich Hemmeter: Die Versorgung und die Abklärung über Memory-Kliniken funktionieren gut. Die Versorgung in diesem Bereich ist vor allem in den urbanen Regionen aktuell ausreichend. Es gibt nur wenige ländliche Regionen in der Schweiz, wo es zu wenige Memory-Kliniken gibt oder diese relativ weit vom Wohnort entfernt sind. Das Problem ist eher, dass – wie oben erwähnt – bei nur rund 50 Prozent der demenziell erkrankten Menschen überhaupt eine Diagnose gestellt wird. Die Dunkelziffer in diesem Bereich ist also riesig. Wir sollten deshalb neben dem Fachpersonal auch das soziale Umfeld schulen. Zudem müsste der Austausch zwischen Hausarzt und den Memory-Kliniken enger werden. Denn je früher die Diagnose feststeht, umso eher ist es möglich, die Betroffenen adäquat zu behandeln und damit die Lebensqualität der Betroffenen wie auch der Angehörigen länger zu erhalten. Es bleibt dann beispielsweise eine wichtige Zeit, um sich Gedanken zu Themen und Wünschen nach zukünftiger Betreuung und Wohnform, Nachlassregelung, Patientenverfügung unter anderem zu machen. Zudem ist die Diagnose Demenz häufig mit Angst besetzt, sodass bereits dadurch Abklärungen verzögert und auch verhindert werden. Auch deshalb ist weiterhin viel Aufklärung nötig, damit diese Ängste abgebaut werden können und der Nutzen einer frühzeitigen Diagnose und Behandlung bewusst wird.
Ändert sich die Behandlung, wenn die Diagnose Demenz gestellt ist. Wird weniger behandelt oder anders? Ulrich Hemmeter: Da kann ich nicht für alle Ärzte sprechen. Vielen Ärzten ist nicht bekannt, dass die aktuell verfügbaren Therapien im Hinblick auf eine Verbesserung der Lebensqualität wirksam sind. Unseres Erachtens hat jeder Patient das Recht auf eine Diagnose und eine adäquate Behandlung. In den vorliegenden ethischen Leitlinien wird aber auch das Recht auf Nichtwissen thematisiert. Eine Demenzdiagnostik soll nur im Einverständnis mit und nach Information der Betroffenen durchgeführt werden. Daher ist die Weigerung eines urteilsfähigen Patienten hinsichtlich der Durchführung einer Demenzdiagnostik wie auch der Vermittlung der Diagnose zu respektieren. Die mit der Diagnosestellung betrauten Fachpersonen befinden sich daher in einem ethisch heiklen Gebiet, das der Reflexion bedarf. Die SAMW hat 2017 Leitlinien zur «Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz» publiziert (2). Diese ethischen Leitlinien wenden sich an die beteiligten Berufsgruppen und widmen sich auch den ethischen Aspekten. Sie können für die individuelle Klärung dieser Fragen herangezogen werden.
Welche Forschungsansätze sind vielversprechend, und was wurde bislang vielleicht noch zu wenig beachtet? Welche Bedeutung hat beispielsweise die Ernährung bei Demenz? Ulrich Hemmeter: Mängelzustände wie zum Beispiel Vitamin-B12- oder Vitamin-D-Mangel sollten – unabhängig vom Krankheitsstadium – abgeklärt und behandelt
werden. Eine gesunde und ausgewogene Ernährung,
die auch Fischgerichte beinhaltet, kann eine vorbeu-
gende Wirkung haben.
Da es sich bei Demenzen um organische Struktur- und
Funktionsstörungen des Gehirns handelt, muss die
Lösung eine organische, das heisst medikamentöse Lö-
sung sein.
Bei der Entwicklung von Medikamenten, die in den
Hirnstoffwechsel eingreifen, der ursächlich am Krank-
heitsprozess beteiligt ist, hat die Vergangenheit gezeigt,
dass in der Entwicklungsphase I sehr viele Medika-
mente untersucht werden, aber es kaum ein Medika-
ment in die Phase III, die Erprobung der Wirksamkeit am
Patienten, schafft.
Da die Pathophysiologie der Alzheimer-Erkrankung zu-
nehmend verstanden wird, gibt es Therapien, die bei
diesen Stoffwechselprozessen ansetzen. Am weites-
ten ist man hier sicher mit der Beeinflussung der Beta-
Amyloid-Plaques. Inwieweit diese Therapieansätze er-
folgreich in der klinischen Behandlung eingesetzt
werden können, ist aktuell noch nicht abschätzbar.
Es gibt zudem weitere interessante Ansätze wie die
Stammzelltherapie, hier könnte sich die Möglichkeit er-
geben, dass nicht nur der M. Alzheimer, sondern auch
andere Formen der Demenz wie Lewy-Körperchen-
Demenz oder Parkinson-Demenz behandelbar werden.
Auch die Erforschung der Mitochondrien als generelle
Energiequelle des Organismus, deren nachlassende
Funktion für Alterungsprozesse (mit-)verantwortlich
sein könnte, kann ein weiterer Ansatz sein.
Auch wenn derzeit noch keine ursächlich wirksame
Therapie in Sicht ist, gebe ich die Hoffnung nicht auf.
Infektionen, wie zum Beispiel die Pest, waren lange Zeit
eine Geissel der Menschheit. Durch die Entdeckung des
Krankheitsprozesses und der Antibiotika können wir
heute die meisten bakteriellen Infektionserkrankungen
gut behandeln. Ähnlich ist es bei Stoffwechselerkran-
kungen wie Diabetes. Ich denke und wünsche mir, dass
auch bei der Demenz sich irgendwann – vielleicht
durch Zufall – eine Therapie ergibt, wodurch die Erkran-
kung beherrscht werden kann. Die Suche nach einem
«magic bullet» darf daher nicht aufgegeben werden, ob
dies aber mittelfristig gefunden wird, ist nicht abschätz-
bar. Bislang sind wir immer noch dabei, das Gehirn zu
verstehen. Der zerebrale Stoffwechsel ist hochkomplex.
Erst wenn wir Mikroprozesse in diesem Bereich noch
besser verstehen, können wir Substanzen entwickeln,
mit denen gezielter behandelt werden kann.
G
Sehr geehrter Herr PD Dr. Hemmeter, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter
Kantonale Psychiatrie St. Gallen Nord Center of Education and Research (COEUR)
Zürcherstrasse 30 9500 Wil
E-Mail: Ulrich.Hemmeter@psgn.ch
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Referenzen: 1. Egemen Savaskan, Irene Bopp-Kistler, Markus Buerge, Regina Fischlin,
Dan Georgescu, Umberto Giardini, Martin Hatzinger, Ulrich Hemmeter, Isabella Justiniano, Reto W. Kressig, Andreas Monsch, Urs P. Mosimann, Renè Mueri, Anna Munk, Julius Popp, Ruth Schmid, Marc A. Wollmer: Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD), Praxis 2014; 103(3): 135–148. 2. https://www.samw.ch/de/Ethik/Vulnerable-Patientengruppen/Behandlung-und-Betreuung-von-Menschen-mit-Demenz.html
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