Transkript
FORTBILDUNG
Unterwegs zu neuen Leitlinien: Die zukünftige Behandlung von trans*Personen
Auf die Kernfrage, ob die Schilderungen von trans*Personen derart ernst zu nehmen seien, dass sich daraus ärztliche Handlungen ableiten liessen, hat das Medizinsystem historisch betrachtet mit der (Psycho-)Pathologisierung des Transitionswunsches reagiert und darauf ein diagnostisches Sicherheitssystem aufgebaut. Diese Situation führte in der Vergangenheit zu schweren Konflikten zwischen trans*Personen und den Behandelnden . Die neue evidenz- und konsensbasierte Leitlinie (S3-Niveau) soll die bisherigen «Behandlungsstandards» ablösen und zu einer besseren Orientierung bei der Beratung, Diagnostik und Behandlung führen.
David Garcia Nuñez
von David Garcia Nuñez
D ie Behandlung von trans*Personen steht seit vielen Jahren im Zentrum der öffentlichen, aber auch der medizinischen Aufmerksamkeit (1). Fokussiert wird hierbei insbesondere auf die Frage, ob die Schilderungen von trans*Personen ernst zu nehmen seien, sodass sich dadaraus ärztliche Handlungen ableiten liessen (2). Über Jahrzehnte hinweg hat die Medizin ambivalent reagiert, indem sie einerseits den Transitionswunsch (psycho)pathologisierte, andererseits aber dessen Umsetzung unter gewissen (Sicherheits-)Bedingungen ermöglichte. Dieser zwiespältige Umgang wird seit Jahren seitens der Behandlungssuchenden (3) und der Behandelnden (4) kritisiert. Infolgedessen haben vormalige «Behandlungsstandards» (5, 6), welche kaum auf die Diversität von individuellen Transitionsbedürfnissen eingingen und die Entscheidungswillkür der Behandelnden in den Vordergrund stellten, progredient ihren Geltungsanspruch verloren und neuen klinischen Empfehlungen (4, 7) Platz gemacht. Der dargelegte Grundkonflikt und insbesondere die teilweise höchst komplexen Auseinandersetzungen um diesen stellen nicht nur für Expert_innen auf dem Feld der Geschlechtervarianz und für trans*Personen eine Herausforderung dar. Diese Situation kann sich auch verunsichernd – wenn nicht gar aversiv – auf diejenigen Fachkolleg_innen auswirken, welche sich neu mit dieser Thematik auseinandersetzen wollen. In Anbetracht dessen, dass niemand eine derart spezialisierte Behandlung in einem derart unklaren diagnostischen und therapeutischen Setting zu übernehmen vermag, wirkt die Reaktion vieler Psychotherapeut_innen, geschlechtervariante Personen an die spezialisierten Zentren zu überweisen, verständlich. Wenn man sich jedoch gleichzeitig vor Augen führt, dass die Wartezeiten an den wenigen universitären Am-
bulanzen (Basel, Zürich), welche spezifische Behandlungsprogramme für geschlechtervariante Personen anbieten, sehr lang (> 6 Monate) sind und dass die Transitionswünsche der trans*Bevölkerung seit einigen Jahren zunehmen, dann droht auf diesem Gebiet eine medizinische Versorgungslücke, welche es auf verschiedenen Ebenen zu schliessen gilt.
Internationale Leitlinienentwicklung Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen nahm die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) die Einladung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) zur gemeinsamen Erarbeitung einer neuen deutschsprachigen evidenzund konsensbasierten Leitlinie (S3-Niveau [8]) an, welche die bisherigen «Behandlungsstandards» ablösen sollte (Kasten 1). Zusätzlich wurden sowohl andere involvierte Fachgesellschaften als auch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zur Projektteilnahme eingeladen. Letztere Kooperation ist von grosser Relevanz, da die AWMF ein Regelwerk zur Verfügung stellt (9), welches unter anderem der Sicherstellung und der Darlegung der Qualität der einzelnen Leitlinienentwicklungsschritte dient. Mit der Inklusion von zwei durch trans* Organisationen designierte Expert_innen in die Leitliniengruppe wurde eine wichtige Differenz zu früheren Prozessen ohne jegliche Beteiligung von Betroffenen geschaffen. Gemäss der Kompetenz der einzelnen Gesellschaften und anhand der aktuellen Studienlage hinsichtlich der Wichtigkeit kontextueller Faktoren im Rahmen der medizinischen Transition (10) wurde der Leitlinienschwerpunkt auf psychische und soziale Aspekte gelegt. Da der Beginn der Leitlinienarbeit zu einem Zeitpunkt stattfand, welcher durch verschiedene diagnostische Verän-
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Kasten 1: Merkmale der unterschiedlichen Leitlinienniveaus
Kasten 2: Weg zur Leitlinie
Kasten 3: Evidenzklassifikation
derungen in der DSM- und der ICD-Klassifikation geprägt war, wurde beschlossen, die Leitlinienempfehlungen auf die neu entstandenen (Geschlechtsdysphorie im DSM-5 [11]) beziehungsweise entstehenden (Geschlechtsinkongruenz im ICD-11 [12]) Begriffe zu fokussieren. Hierdurch werden sich die Empfehlungen einer S3-Leitlinie zum ersten Mal an die medizinische Versorgung nicht nur von binären, sondern auch von non binären Personen richten. Grundsätzlich soll die Leitlinie den psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Behandler_innen eine Orientierung bei der Beratung, Dia-
gnostik und Behandlung von trans*Personen liefern, welche sich in einer (medizinischen) Transition befinden. Damit soll die Leitlinie dazu beitragen, trans*Personen zu helfen, ihr Geschlecht selbstbestimmt leben zu können. Dementsprechend richten sich die Leitlinienempfehlungen auch an die Behandlungssuchenden. Sie sollen trans*Personen bei ihrer Entscheidungsfindung bezüglich der Durchführung geschlechtsangleichender Massnahmen unterstützen. Die Leitlinie vertritt damit ein Modell der partizipativen Entscheidungsfindung, bei welchem Behandlungssuchende und Behandler_innen gemeinsam alle Vor- und Nachteile der einzelnen Transitionsschritte abwägen und bei welchem die trans*Personen ihre Entscheidungen für oder gegen einzelne medizinische Behandlungen im Austausch mit den Behandelnden treffen. Damit distanziert sich die Leitlinie dezidiert von früheren Kontroll-Logiken, wo die Behandelnden die gesamte Entscheidungsmacht hinsichtlich Indikation und Einleitung der geschlechtsangleichenden Schritte besassen.
Ein langwieriger, aber fruchtbarer Prozess Im Verlauf der letzten sechs Jahre haben die Delegierten der Fachgesellschaften, Berufs- und Interessenverbände das vorhandene Wissen betreffend psychiatrisch-psychotherapeutischer und psychosozialer Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie gemäss den von der AWMF vorgeschlagenen Richtlinien systematisch aufgearbeitet (Kasten 2). In einem ersten Schritt formulierten die Leitliniengruppenmitglieder klinisch relevante Fragestellungen, woraus nach der PICO-Methode (13) Schlagwörter für die Literatursuche generiert werden konnten. Nach einem konsentierten Auswahlprozess wurde aus der Summe dieser Schlagwörter ein konkreter Suchstring generiert, welcher bei der stattfindenden Literatursuche zum Einsatz kam. Im Wissen, dass bei dieser Suche viele Werke gefunden würden, die keinen direkten Zusammenhang mit den zu beantwortenden Fragen haben, definierten die Leitliniengruppenmitglieder verschiedene Ein- und Ausschlusskriterien für die Aufnahme einer Studie in den definitiven Literaturkorpus. Ebenfalls im Vorfeld wurden verbindliche, sich an das AWMF-Regelwerk anlehnende Normen zur einheitlichen Evidenzbewertung der zu findenden Literatur aufgestellt (Kasten 3). Diese orientieren sich nicht nur an den Regeln der evidenzbasierten Medizin (14) sondern berücksichtigen auch die klinische Expertise der Bewerter_innen, wodurch eine ganzheitliche Bewertung der Studien ermöglicht wird. Nach diesen Vorbereitungsarbeiten führten im Jahr 2014 verschiedene wissenschaftliche Mitarbeiter_innen die definitive Literaturrecherche durch. Hierbei konnten 5437 Werke (Studien, Essays, Bücher etc.) identifiziert werden, welche potenziell für die Leitlinienentwicklung infrage kämen. Nach Durchsicht der dazugehörenden Abstracts und unter Anwendung der vereinbarten Einund Ausschlusskriterien reduzierte sich diese Literaturmenge auf 448 Studien, welche je nach Inhalt in 33 Kapitel eingegliedert wurden. Für jedes Kapitel wurde eine verantwortliche Person aus der Leitliniengruppe ernannt. Diese fasste die Evidenz zusammen und schlug der Leitliniengruppe sich daraus ergebende Leitlinienstatements und -empfehlungen vor.
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Nach der Vorstellung der einzelnen Kapitel im Leitliniengruppenplenum hatte jedes Mitglied die Möglichkeit, sowohl Verständnis- als auch kritische Fragen zu den ursprünglichen Text-, Statement- und Empfehlungsvorschlägen zu stellen. Ebenso konnten zu diesem Zeitpunkt Werke ergänzt werden, welche bis dato keinen Zugang ins jeweilige Kapitel gefunden hatten. Das Resultat dieser Fachdiskussionen führte in den meisten Fällen zu Textänderungen, welche eher der Gruppenals der Haltung des Kapitelverantwortlichen als Einzelperson entsprachen. In Situationen, wo die Gruppe trotz längerer Auseinandersetzungen zu keinem fachlichen Konsens fand, wurde beschlossen, die verschiedenen Meinungen transparent zu machen, indem sie im Text separat Erwähnung fanden. Zeitgleich wurden die definitiven Leitlinienstatements und -empfehlungen gemäss dem AWMF-(Abstimmungs-)Regelwerk (9) konsentiert. Während des gesamten Prozesses wandte sich die Leitliniengruppe zweimal im Sinne eines partizipativen Feedbackverfahrens an die lokalen trans*Organisationen. So hatten trans*Personen im Rahmen von zwei «Anhörungen» die Möglichkeit, zuerst die vorgeschlagenen Evidenzbewertungskriterien und später auch eine erste Endversion des Leitlinientextes kritisch zu kommentieren. Nachdem die Inputs dieser Anhörungen in die Leitlinie eingeflossen waren, wurde diese vom 06.03.17 bis zum 02.04.17 einem öffentlichen Hearing unterstellt. Hierbei hatten alle interessierten Personen die Chance, alle Texte, Statements und Empfehlungen einzeln oder im Block zu kommentieren. Ebenso bestand die Möglichkeit, Ergänzungen der Leitlinie vorzuschlagen.
Ausblick Momentan befindet sich der Leitlinientext in der Schlussredaktion. Auch wenn die definitiven Veränderungen in den Behandlungsempfehlungen von trans* Personen erst durch die Leitlinienpublikation Gültigkeit erhalten, zeichnen sich bereits jetzt verschiedene «Trends» ab, welche die Gesundheitsversorgung von trans*Personen zukünftig prägen werden: G Innerhalb der Medizin bedarf es einer differenzier-
teren Auseinandersetzung mit dem Thema «Geschlecht». Es braucht eine Überwindung der bis anhin vorherrschenden essenzialistischen Geschlechtermodelle, welche infolge ihrer normativen Kraft Personen zur Reproduktion binärer Geschlechterkategorien zwingen. Die Leitlinie zeigt Möglichkeiten auf, fachkompetent, flexibel und individuell auf die Transitionsbedürfnisse der Behandlungssuchenden zu reagieren. G In der Fachwelt herrscht Einigkeit darüber, dass das Phänomen der Geschlechtervarianz keine Pathologie, sondern den offensichtlichsten Ausdruck menschlicher geschlechtlicher Diversität darstellt. Dementsprechend wird der in der ICD-11 intendierte Ausschluss der Geschlechtsinkongruenz aus dem Kapitel der psychiatrischen Störungen von den beteiligten Fachgesellschaften begrüsst. Diese entpathologisierende Haltung ermöglicht zum ersten Mal, das Prinzip der geschlechtlichen Selbstbestim-
mung von geschlechtervarianten Menschen innerhalb einer Geschlechtsdysphorie- beziehungsweise Geschlechtsinkongruenz-Leitlinie zu verankern. G Diese paradigmatischen Veränderungen führen zu einem Abbau der historisch gewachsenen (stigmatisierenden) Kontrollmechanismen, welchen trans* Menschen bis vor einigen Jahren unterstellt waren. Eine Abkehr von diesem früheren «Begutachtungsdenken» in Richtung medizinischer Beratung, Begleitung und Behandlung ist seit einigen Jahren im Gang (4, 7). Gemäss Leitlinie muss sie allerdings nach wie vor systematisch vorangetrieben werden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Ent-
wicklung einer evidenzbasierten Leitlinie im Bereich der
Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie
einen wichtigen und längst fälligen Schritt darstellt. Die
systematische Zusammenführung des vorhandenen
Wissens in diesem Gebiet wird zur Verbesserung der Be-
ratung und Behandlung von trans*Personen führen.
Gleichzeitig löst die Leitlinie nicht sämtliche Probleme,
welche sich bei der medizinischen Versorgung der
trans*Bevölkerung stellen. Hierzu wird es weitergehen-
den Massnahmen seitens der Aus-, Weiter- und Fortbil-
dungsinstitution bedürfen.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. D. Garcia Nuñez
Schwerpunkt für Geschlechterdysphorie
Universitätsspital Basel
Spitalstrasse 21
4031 Basel
E-Mail: David.Garcia@usb.ch
Literatur:
1. Winter S., M. Diamond, J. Green et al.: Transgender people: health at the margins of society. The Lancet, 2016: 10–20.
2. Nieder T.O. and H. Richter-Appelt: Tertium non datur–either/or reactions to transsexualism amongst health care professionals: the situation past and present, and its relevance to the future. Psychology & Sexuality, 2011. 2(3): 224–243.
3. Hamm J.A. and A.T. Sauer: Perspektivenwechsel: Vorschläge für eine menschenrechts-und bedürfnisorientierte Trans*-Gesundheitsversorgung. Zeitschrift für Sexualforschung, 2014. 27(1): 4–30.
4. Garcia Nuñez, D. and T.O. Nieder: Geschlechtsinkongruenz und-dysphorie. Gynäkologische Endokrinologie, 2017. 15(1): 5–13.
5. Hepp U. and C. Buddeberg: Abklärung und Behandlung des Transsexualismus. Schweiz Rundsch Med Prax, 1999. 88(48): 1975–1979.
6. Becker S., H.A.G. Bosinski, U. Clement, et al., Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen. Sexuologie, 1997. 4: 130–138.
7. Garcia Nuñez, D., P. Gross, M. Baeriswyl et al.: Von der Transsexualität zur Gender-Dysphorie – Beratungs- und Behandlungsempfehlungen bei TransPersonen. Swiss Medical Forum, 2014. 14(19): 382–387.
8. Muche-Borowski C. and I. Kopp: Wie eine Leitlinie entsteht. Zeitschrift für Herz-, Thorax-und Gefässchirurgie, 2011. 25(4): 217–223.
9. AWMF (Ständige Kommission «Leitlinien» der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften). AWMFRegelwerk «Leitlinien». 2012; Available from: http://www.awmf.org/ leitlinien/awmf-regelwerk.html
10. Murad M.H., M.B. Elamin, M.Z. Garcia et al.: Hormonal therapy and sex reassignment: a systematic review and meta-analysis of quality of life and psychosocial outcomes. Clinical Endocrinology, 2010. 72(2): 214–231.
11. American Psychiatric Association, Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM 5). 2013: American Psychiatric Association.
12. World Health Organization, ICD-11 beta draft, in World Health Organization. 2015: http://apps. who. int/classifications/icd11.
13. Schardt C., M.B. Adams, T. Owens et al.: Utilization of the PICO framework to improve searching PubMed for clinical questions. BMC medical informatics and decision making, 2007. 7(1): 16–21.
14. Encke A., I. Kopp, H.K. Selbmann et al.: Das Deutsche Instrument zur methodischen Leitlinien-Bewertung (DELBI). Deutsches Aerzteblatt, 2005. 102: A1912–1913.
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