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trans*Menschen und ihre Behandler_innen – Von der Klarheit zur Ambivalenz
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FORTBILDUNG: TRANS*
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34889
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FORTBILDUNG
trans*Menschen und ihre Behandler_innen: Von der Klarheit zur Ambivalenz

Die Zweigeschlechterideologie stützt sich auf wirkmächtige und kaum infrage gestellte Axiome. Als Behandler_innen können wir den Behandlungssuchenden letztlich aber nur dann gerecht werden und für sie eine wirkliche Unterstützung sein, wenn es uns gelingt, den intermediären Raum zwischen den Geschlechtern denkend und (nach-)fühlend offenzuhalten und die damit verbundenen Ängste auszuhalten, zu akzeptieren und letztlich anzunehmen.

Patrick Gross

von Patrick Gross
trans* – eine Herausforderung
D ass die tief in unserer Gesellschaft verankerte binäre Konzeption von Geschlecht beziehungsweise die darunter liegenden oft unbewusst wirksamen Axiome vor unseren Sprechzimmertüren nicht haltmachen, vermag uns kaum zu erstaunen. Ganz selbstverständlich begrüssen wir unsere Klient_innen und Patient_innen mit den Worten (mit der Setzung): Guten Tag, Frau Y, guten Tag, Herr Y. Nur: Wie können wir wissen, dass das äussere Erscheinungsbild tatsächlich mit dem gefühlten Geschlecht dieser Person übereinstimmt? Wir können es nicht! In der erwähnten Begrüssungsformel wird implizit davon ausgegangen, dass der geschlechtliche Ausdruck (gender expression), also die kultur- und zeitabhängige soziale Kommunikation von Geschlecht (beispielsweise durch Kleidung, Mimik, Gestik, Sprache etc.), mit der Geschlechtsidentität (dem subjektiven Geschlechtserleben einer Person bzw. dem tief verwurzelten Gefühl einer Person, sich männlich, weiblich oder anders zu fühlen) kongruent ist. Vom Geschlechtsausdruck und der Geschlechtsidentität, die, wie wir gesehen haben, nicht notwendigerweise zusammenfallen müssen, gilt es im Weiteren abzugrenzen: die sexuelle Orientierung (die bevorzugte Sexualpartnerwahl) sowie das somatische Geschlecht oder Körpergeschlecht, das sich in verschiedene physische Korrelate wie genetisches, hormonelles oder anatomisches Geschlecht unterteilen lässt. Geschlechtlicher Ausdruck, Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung und Körpergeschlecht werden häufig ebenfalls auf reduktionistische Weise binär angeordnet (geschlechtlicher Ausdruck: männlich-weiblich; Geschlechtsidentität: Mann-Frau; sexuelle Orientierung: homosexuell-heterosexuell, Körpergeschlecht: MannFrau). Die Betrachtung und Beschreibung der Geschlechtlichkeit anhand der genannten Begriffe fällt jedoch sehr komplex aus und muss daher eher als ein

Kontinuum denn als zwei klar zu unterscheidende Pole betrachtet werden. So kann sich beispielsweise eine Person in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität zwischen den Polen «Mann» und «Frau» auch als non-binary, genderqueer oder genderfluid positionieren. Dasselbe gilt für den Geschlechtsausdruck, wo zwischen maskulin und feminin auch weitere Ausprägungen/Abstufungen (z.B. androgyn) möglich sind. In Bezug auf das Körpergeschlecht verweist die «Intersexualität» ebenfalls auf den genannten dimensionalen Aspekt, und auch bezüglich der sexuellen Orientierung greift die polare Anordnung von Homound Heterosexualität zu kurz. Der Abschied von der essenzialistischen und die Bewegung hin zu einer konstruktivistischen Betrachtung von Geschlecht verweist nicht zuletzt darauf, dass das Geschlecht keinesfalls so monolithisch betrachtet werden kann, wie wir uns das zuweilen vorstellen. Diese gendertheoretischen Überlegungen erfahren dann eine alltagspraktische Relevanz (oder Brisanz?), wenn wir als Behandler_innen in unserem Alltag auf Menschen treffen, die ihr Geschlecht nicht (oder nicht vollständig) mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht erleben. Im traditionell medizinischen (diagnostischen) Kontext wird dieses Phänomen mit dem Begriff der «Transsexualität» («Transsexualismus» nach ICD-10) beschrieben. Die Inkongruenz von körperlichen Geschlechtsmerkmalen («Sex») und der Geschlechtsidentität, der Geschlechterrolle («Gender»), wird heute als Geschlechtsinkongruenz bezeichnet. Im Unterschied zur «Transsexualität» («Transsexualismus» nach ICD-10) muss die Geschlechtsinkongruenz nicht zwingend mit einem Leidensdruck der Betroffenen verbunden sein. Leiden die Betroffenen an der individuellen Geschlechtsinkongruenz, wird im DSM-5 von «Geschlechtsdysphorie» gesprochen. Der Begriff trans* (sprich: trans Sternchen) dagegen ist kein medizinischer Begriff. In seinem schriftlichen Ausdruck verweist er auf die geschlechtliche Vielfalt und ist damit frei von einer pathologischen (klinischen) Bezugnahme.

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Von der Sicherheit zur Irritation und wieder zurück Mit ihrer Transition eröffnen trans*Menschen zwangsläufig einen intermediären Raum zwischen den Geschlechtern. Schmuckli und Gross (5) weisen zu Recht darauf hin, dass auch die Behandler_innen nicht umhin kommen, sich in diesem Raum «zurechtzufinden». Dies ist kein einfaches Unterfangen, denn: «Dieses unkartographierte Tal zwischen den Geschlechtern ist häufig sowohl für die trans*Menschen selber als auch für ihre Begleiter ein ausserordentliches, und es erstaunt darum auch nicht, dass sich trans*Menschen und mit ihnen häufig auch ihre Cis-Therapeut_innen möglichst schnell von einem zum andern Gipfel bewegen möchten, nicht zuletzt, um wieder einen Überblick zu erhalten und so für sich Eindeutigkeit herstellen zu können» ([5], S.124–125). Doch was heisst das nun konkret für uns Behandler_innen, wenn wir zuweilen ganz unvermittelt eingeladen werden, den erwähnten Raum gemeinsam mit unseren Klient_innen und Patient_innen zu betreten und zu erkunden? Wie reagieren wir auf die eine Situation, in welcher das, was wir sehen, nicht dem entsprechen muss, was «tatsächlich ist»? Was löst dies in uns aus, wenn zum einen der Herr Y die Frau Y oder die Frau X eigentlich der Herr X ist? Und was löst es in uns aus, wenn sich der Herr Y oder die Frau X im Geschlechterspektrum weder als Mann noch als Frau, sondern beispielsweise als genderqueer, genderfluid oder nonbinary verortet? Diejenigen, die in ihrem beruflichen Alltag mit trans*Menschen arbeiten, werden kaum widersprechen, wenn ich behaupte, dass dies vor allem eines bedeutet: Verwirrung. Wenn unser binäres Referenzsystem dermassen dekonstruiert und infrage gestellt wird, müssen wir wohl auch mit Unsicherheiten und Ängsten rechnen. Und wo Ängste nahen, sind die entsprechenden Gegenmassnahmen (die Abwehren) nicht weit. Solche Abwehren sind vielfältig und dienen letztlich der Reduktion von Unsicherheiten, Ambivalenzen und Ängsten durch (Wieder-)Herstellung von Eindeutigkeit, Klarheit und Ordnung. trans*Menschen rühren bei den Behandler_innen tief an der Entwicklung ihrer eigenen Geschlechtsidentität, mit all ihren Brüchen und Rissen. Das «HineingeworfenWerden» in den intermediären Raum zwischen den Geschlechtern stellt für beide Seiten (die trans*Menschen und die Behandler_innen) eine grosse Herausforderung dar und ist von Abwehrbewegungen begleitet, die Volkmar Sigusch (6) als «zissexuelle Abwehr» bezeichnet. Sigusch fasst diese ubiquitäre Form der Abwehr folgendermassen zusammen: «Der transsexuelle Wunsch verwirrt (die Untersuchenden) so basal, dass sich eine totalisierende Abwehr, die Grauen und Abweichung bannen will, beinahe reflektorisch einstellt, in psychischer wie in epistemischer wie in diskursiver Hinsicht» ([7], S. 126). Nieder und Richter Appelt (3) haben in diesem Zusammenhang insbesondere die «Entweder-oder-Reaktionen» betont. Die Autor_innen weisen darauf hin, dass sich die binäre Struktur nicht nur in der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht, sondern auch in den erwähnten «Entweder-oder-Reaktionen» der Behandler_innen finden lässt. Diese «Entweder-oder-Re-

aktionen» der Behandler_innen zeigen sich sowohl in diagnostischer Hinsicht (psychische Störung oder Normvariante; gesund oder krank; «echte» oder «nicht echte» Transsexuelle) als auch in Bezug auf behandlungstechnische Fragen (Psychotherapie oder Operationen; Begleitung oder Psychotherapie; «Reparation» oder Annahme; für oder gegen geschlechtsangleichende Operationen; frühe oder späte Interventionen bei Jugendlichen; Warten oder Intervenieren) und schlagen sich auch in ätiologischen Überlegungen nieder (Biologie oder Psychologie; Körper oder Psyche; Anlage oder Umwelt).
Kasten:
Die Zweigeschlechterideologie stützt sich auf wirkmächtige und kaum infrage gestellte Axiome, welche – trotz gegenläufiger, öffnender Kräfte – durch starke gesellschaftliche Tendenzen gestützt und aktiv aufrechterhalten werden (nach [4]):
1. Es gibt nur zwei Geschlechter. 2. Jede_r hat nur ein Geschlecht. 3. Das Geschlecht ist unveränderbar. 4. Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität stimmen überein. 5. Geschlechtswechsel ist nur als temporäres Ritual akzeptabel. 6. Genitalien sind die essenziellen Indizien des Geschlechts. 7. Jede Person muss einem Geschlecht zuzuordnen sein. 8. Die Dichotomie männlich/weiblich ist natürlich.
Auch die Geschichte der Transidentität ist geprägt von den genannten Reaktionen. Diese durchziehen den historischen Verlauf wie ein roter Faden (vgl. dazu [3], Nieder und Richter-Appelt, 2011). Sophinette Becker (1) hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Tendenz zur (Wieder-)Herstellung von Eindeutigkeit bis tief in das medizinische und in das rechtliche System hineingreift: «Die Medizin und (nachfolgend) die Rechtsprechung und Gesetzgebung haben sich auf den Geltungsanspruch der Transsexuellen eingelassen und sind ihrem Verlangen nach Geschlechtswechsel beziehungsweise Geschlechtsumwandlung (wenn auch mit Vorbehalten, Bedenken und entsprechenden Hürden) entgegengekommen. Medizin und Rechtsprechung haben durch ihr Entgegenkommen das transsexuelle Verlangen weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht, nicht zuletzt im Interesse der Aufrechterhaltung der traditionellen Geschlechterordnung» ([1], S. 155). Im psychiatrischen Kontext zeigt sich diese Stabilisierung des binären Systems anhand der Diagnostik eindrücklich: Bei dem Begriff des «Transsexualismus», wie er in der ICD-10 verwendet wird, handelt es sich im Grunde um eine Chimäre aus diagnostischen Kriterien der Geschlechtsdysphorie und der Präferenz für ein bestimmtes Therapiemodell beziehungsweise «Lösungsschema». Diese Verknüpfung des «Wunsches» nach somatomedizinischen Massnahmen mit der eigentlichen Diagnose im Sinne eines Zirkelschlusses beziehungsweise die Verschränkung der Diagnose mit der Intervention (transsexuell ist, wer anhaltend und überzeugend «geschlechtsumwandelnde» Operationen anstrebt – bei Vorliegen einer Transsexualität sind «ge-

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schlechtsumwandelnde» Operationen indiziert ) ist meines Wissens eine Ausnahme in der psychiatrischen Diagnostik und steht nicht zuletzt im bereits erwähnten Dienst der Stabilisierung der tradierten heteronormativen Zweigeschlechterordnung. Die angebotenen somatomedizinischen Lösungsmöglichkeiten beziehungsweise die diagnostische Selektion geeigneter Patient_innen zementierten die binäre heteronormative Ordnung, indem sie den Raum zwischen den Geschlechtern als unbewohnbares Niemandsland deklarierten. Zugang zu den erwähnten Massnahmen hätten so nur Personen, die von «Mann zu Frau» oder von «Frau zu Mann» «wechselten», ein Stehenbleiben oder gar Verweilen wäre in diesem diagnostischen Rahmen nicht möglich.
Fazit für die Praxis Wenn wir nun mit Judith Butler (2) davon ausgehen, dass Geschlechtsidentität nichts Gegebenes ist, sondern in einem stetigen (und niemals abgeschlossenen) innerpsychischen und sozialen Prozess hergestellt, gestützt und ausreichend stabil gehalten werden muss,
Merkpunkte:
G Geschlechtsidentität ist nach Butler (2) nichts Gegebenes, nichts Statisches, sondern sollte prozesshaft verstanden werden. Die Begegnung mit trans*Menschen kann eine nicht unerhebliche Störung dieses Prozesses bedeuten. Die dadurch entstehenden Irritationen und Verwirrungen führen nicht selten zu «Gegenbewegungen» der Behandler_innen und haben damit einen direkten Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln.
G Die Kenntnisnahme der aktuellen, emotional stark aufgeladenen gesellschaftlichen Veränderungen einer paradoxen und komplexen Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz ist eine wesentliche Voraussetzung für das Verstehen von und das Einfühlen in die Schwierigkeiten von trans*Personen.
G Als Behandler_innen können wir den Behandlungssuchenden letztlich nur dann gerecht werden und für sie eine wirkliche Unterstützung sein, wenn es uns gelingt, den intermediären Raum zwischen den Geschlechtern denkend und (nach)fühlend offenzuhalten und die damit verbundenen Ängste auszuhalten, zu akzeptieren und letztlich anzunehmen.

kann die Begegnung mit trans*Menschen eine nicht

unerhebliche Störung dieses Prozesses bedeuten. Die

dadurch entstehenden Irritationen und Verwirrungen

führen nicht selten zu den beschriebenen «Gegenbe-

wegungen» der Behandler_innen und haben damit

einen direkten Einfluss auf unser Denken, Fühlen und

Handeln.

Vor dem Hintergrund der aktuellen, emotional stark auf-

geladenen gesellschaftlichen Veränderungen einer para-

doxen und komplexen Gleichzeitigkeit von Wandel und

Persistenz ist es nicht unwichtig, dass wir uns dieser Me-

chanismen bewusst sind (bewusst werden) und diese

(selbst)kritisch reflektieren können. Denn die Kenntnis-

nahme dieser Entwicklungen stellt eine wesentliche Vor-

aussetzung für das Verstehen von und das Einfühlen in

die Schwierigkeiten von trans*Personen dar.

Das Wissen um die Macht der eigenen «Entweder-oder-

Reaktionen», die Entwicklung einer Ambiguitätstoleranz

(Aushalten von Differenzen, Unsicherheiten und Ambi-

valenzen) und das Lernen, mit Differenzen und Parado-

xien umzugehen, stellen dabei fundamentale Voraus-

setzungen beziehungsweise Notwendigkeiten dar,

damit wir auf trans*Menschen nicht (bewusst/unbe-

wusst) normativ, sondern individuell reagieren können.

Als Behandler_innen können wir den Behandlungssu-

chenden letztlich nur dann gerecht werden und für sie

eine wirkliche Unterstützung sein, wenn es uns (im Sinne

eines «tertium datur») gelingt, den mehrfach erwähnten

intermediären Raum zwischen den Geschlechtern den-

kend und (nach)fühlend offenzuhalten, und wenn es uns

gelingt, die damit verbundenen Ängste auszuhalten, zu

akzeptieren und letztlich anzunehmen.

G

Korrespondenzadresse:

lic. phil. Patrick Gross

Freie Strasse 88

4051 Basel

Literatur:
1. Becker, S (2004): Transsexualität Geschlechtsidentitätsstörung. In: Kokkott, G und E-M, Fahrner (Hrsg.): Sexualstörungen. Stuttgart, New York: Thieme Verlag.
2. Butler, J (1991 [1990]): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
3. Nieder, TO, Richter-Appelt, H (2011). Tertium Non Datur – Either/Or Reactions to Transsexualism amongst Health Care Professionals: The Situation Past and Present, and its Relevance to the Future. Psychol Sex; 2: 224–243.
4. Schweizer, K und H Richter-Appelt (Hrsg.): Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. Giessen: Psychosozial Verlag, 2012
5. Schmuckli, L, Gross, P: Der Herr ist nicht Frau in seinem eigenen Hause: psychoanalytische Fragmente zur Thematik der trans*Identität. Psychotherapie-Wissenschaft 2016, Bd. 6, Nr. 2: 122–129.
6. Sigusch, V: Transsexueller Wunsch und zissexuelle Abwehr. Psyche 1995; 49(9/10).
7. Sigusch, V (2011). Zissexuelle und Transsexuelle: Über ein Neogeschlecht. In: Zugig V (Hrsg.): Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit (S. 124–144). Frankfurt a.M./New York: Campus.

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