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Schlaf und psychische Resilienz
FORTBILDUNG
Ein erholsamer Schlaf ist wichtig für Wohlbefinden und psychische Gesundheit. Die neurobiologische Forschung hat Hypothesen entwickelt, die die physiologische Hirnaktivität im Schlaf mit essenziellen homöostatischen Prozessen in Verbindung bringen. Daraus lassen sich auch Erklärungen ableiten, warum Schlafstörungen psychische Funktionen beeinträchtigen.
Thorsten Mikoteit Martin Hatzinger
von Thorsten Mikoteit und Martin Hatzinger
Einleitung
E in Drittel der Lebenszeit verbringt der Mensch im Schlaf. Obwohl der Schlaf so viel Raum einnimmt, sind seine physiologischen Funktionen bisher nur wenig verstanden. Schon Aristoteles vermutete, dass der Schlaf wichtig sei für die Erholung des Gehirns. Aber erst mit Erfindung der Elektroenzephalographie (EEG) durch Hans Berger 1929 und der Beschreibung der Schlaf-EEG-Stadien 1937 durch Alfred L. Loomis begann man, die Gehirnaktivität im Schlaf eingehender zu erforschen. Im Gegensatz zur Annahme, dass das Gehirn im Schlaf in einem inaktiven Ruhezustand sei, lässt sich anhand des Schlaf-EEG nachweisen, dass das Gehirn phasenweise ähnlich dem Wachzustand hoch aktiv ist (Kasten 1). Die funktionelle Bedeutung des Schlafs ist nach wie vor rätselhaft. In den letzten Jahren wurden aber verschiedene Hypothesen entwickelt, die bereits durch zahlreiche Studien unterstützt werden.
Schlaf und Neuroplastizität Tononi und Cirelli formulierten 2006 die synaptische Homöostasehypothese (1), nach der Schlaf der Preis sei für die Neuroplastizität des Gehirns. Konkret bedeutet es, dass durch Lernprozesse im Wachzustand Stärke und Zahl der Synapsen stetig anwachsen bis zu einem Sättigungspunkt, und im darauffolgenden Schlaf kommt es dann zu einer Herunterregulierung der Synapsen. Dadurch werden schwache Synapsen wieder aufgelöst und Energie und Platz geschaffen für neue Synapsenbildungen am nächsten Tag. Durch diesen nächtlichen Säuberungsprozess werden auch Lernvorgänge unterstützt, indem durch ein verbessertes Signal-Rausch-Verhältnis relevante Netzwerke unterstützt werden und irrelevante verschwinden.
Lernen im Schlaf Zahlreiche Studien belegen die aktive Gedächtniskonsolidierung im Schlaf (2). Das bedeutet, dass explizite Lerninhalte, die am Tag gelernt wurden, im Schlaf verstärkt werden, sodass der Abruf des Gelernten nach dem Schlaf besser ist als unmittelbar nach dem Einprägen. Diese Gedächtniskonsolidierung findet vor allem im Tiefschlaf statt, wobei durch eine Reaktivierung temporärer hippocampaler Netzwerke im Schlaf Gedächtnisspuren in stabile kortikale Netzwerke übertragen werden (Kasten 2): Für diesen Prozess sind die günstigen Offline-Bedingungen des Tiefschlafs entscheidend, wo minimale Acetylcholin- und Kortisolkonzentrationen hippocampale Netzwerke enthemmen und neuroplastische Prozesse im Neokortex durch ein synchrones Zusammenspiel von Slow Oscillations, Sharp Wave/ Ripple-Events und thalamokortikalen Spindeln unterstützt werden. Die Bedeutung des Tiefschlafs für das deklarative Gedächtnis konnte zum Beispiel in einer Studie nachgewiesen werden, als visuell-räumliche Stimuli beim Lernen mit einem Geruch gekoppelt wurden und dieser Geruch im Tiefschlaf erneut dargeboten wurde. Dadurch konnte eine spezifische, tiefschlafassoziierte Gedächtniskonsolidierung mit Hippocampusaktivierung beobachtet werden. Am nächsten Tag war der Abruf der Gedächtnisinhalte tatsächlich besser als ohne spezifische Geruchsexposition (4).
Schlaf ist wichtig für Emotionsverarbeitung Für das emotionale Gedächtnis scheint der REM-Schlaf von besonderer Bedeutung zu sein (5). Durch Aktivierung von Netzwerken emotionaler Gedächtnisinhalte im REM-Schlaf können bei gleichzeitiger Hemmung der Amygdala emotionale Gedächtnisinhalte als deklaratives Gedächtnis abgespeichert werden, während das dazugehörende emotionale Arousal durch die besondere Hemmung der Amygdala im REM-Schlaf langsam
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verblasst. Es findet quasi eine emotionale «Entmantelung» des Gedächtnisses statt, was besonders für traumatische Erinnerungen von besonderer, quasi therapeutischer Bedeutung ist (6).
Schlaf wirkt neuroprotektiv Schliesslich wird dem Schlaf auch eine gewebereinigende Wirkung nachgesagt (7). Im Schlaf nehmen glymphatische Konvektionsströme durch den interstitiellen Raum des Gehirns zu und schwemmen damit Metabolite und Abfallprodukte aus dem Gehirn aus. Dies trifft auch für Amyloidproteine zu, wie sie bei der Entstehung der Alzheimer-Demenz von Bedeutung sind (8). In diesem Zusammenhang wird vermutet, dass eine chronische Insomnie die Selbstreinigung des Gehirns relevant beeinträchtigt und damit auch die Hirnalterung begünstigt (9).
Schlaf ist wichtig für die kindliche Entwicklung Für die kindliche Hirnreifung scheint Schlaf eine besondere Bedeutung zu haben. So ist der Zusammenhang zwischen gutem Schlaf und Emotionen und Verhalten bei Kindern und Adoleszenten besonders ausgeprägt (10, 11). In einer Kohortenstudie an Kindergartenkindern konnte gezeigt werden, dass dieser Zusammenhang auch prädiktiv ist für die spätere emotionale Resilienz und mentale Stärke (12, 13). Daher darf der Schlaf auch als Quelle von Biomarkern mentaler Gesundheit angesehen werden. Es konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Schlafspindeln bei Fünfjährigen, welche Indikatoren für eine gute Konnektivität sind, mit funktionellerem Stresscoping und prosozialem Verhalten korrelieren und auch longitudinal positives emotionales Verhalten vorhersagen können (14, 15).
Schlaf dient der Stressverarbeitung Stressbelastungen jeglicher Art können den Schlaf stören. Der Schlaf hat andererseits aber eine stressverarbeitende oder puffernde Wirkung. In Studien an Gesunden konnte gezeigt werden, dass ein guter Schlaf davor schützt, dass Stressbelastungen am folgenden Tage zu negativem Affekt führen (16, 17). Eine weitere therapeutische Wirkung des Schlafes ist eine Verbesserung der Impulskontrolle (18, 19). Auch die kognitive Flexibilität, wie sie in der Acceptance & Commitment-Therapie (ACT) gestärkt wird, scheint von gesundem Schlaf zu profitieren (20).
Auswirkungen von schlechtem Schlaf Schlafentzug oder eine chronische Insomnie führen in der Regel zu einem negativen Bias von Kognitionen und Evaluationen (21, 22). Personen mit einem Schlafdefizit gewichten neutrale und positive Stimuli geringer, während sie negative Stimuli gleich werten wie ausgeschlafene Personen (23). Dadurch gibt es eine Verzerrung hin zu negativen Wertungen. Die Auswirkungen von schlechtem Schlaf auf die Emotionsregulation haben Palmer et al. in einer integrativen Übersichtsarbeit differenziert dargestellt (24): Menschen mit Insomnie nehmen weniger oft an positiven Aktivitäten teil, sodass sie eher unter einem Verstärkerdefizit leiden. Insomnie beeinträchtigt die Möglichkeiten, positiv auf Situationen einzuwirken, da die Entscheidungsfähigkeit, die Impuls-
Kasten 1: Spezifische Schlafstadien Mittels Schlaf-EEG, bestehend aus Elektroenzephalogramm (EEG), Elektromyogramm (EMG) und Elektrookulogramm (EOG) lassen sich vier spezifische Schlafstadien identifizieren (siehe links): Für den Rapid Eye Movement-(REM-)Schlaf sind die maximale Muskelatonie und die raschen Augenbewegungen charakteristisch. Der Non-REM-Schlaf wird in oberflächlichen S1-Schlaf, stabilen S2-Schlaf und niedrigfrequenten (Slow Wave Sleep) Tiefschlaf (früher S3 und S4) eingeteilt.
Quelle: Pan, Shing-Tai & Kuo, Chih-En & Zeng, Jian-Hong & Liang, Sheng-Fu. (2012). A transition-constrained discrete hidden Markov model for automatic sleep staging. Biomedical engineering online. 11. 52. doi: 10.1186/1475-925X-11-52.
Kasten 2: Das Konzept der Gedächtniskonsolidierung im Schlaf Im Tiefschlaf werden unter Off-line-Bedingungen und minimalen Acetylcholin- und Kortisolspiegeln Gedächtnisspuren temporärer hippocampaler Netzwerke reaktiviert und in dauerhafte kortikale Netzwerke übertragen. Die dazu notwendigen neuroplastischen Veränderungen im Neokortex werden durch Langzeitpotenzierung (LTP) induziert. Diese hängen von hippocampalen Sharp-Wave/Rippleevents und thalamokortikalen Spindeln ab, welche durch kortikale langsame Oszillationen synchronisiert auftreten (nach [3]).
kontrolle, die Produktivität, die Kreativität und die Frustrationstoleranz geschwächt sind. Insomnie führt zu einer negativen Verschiebung der Aufmerksamkeit mit dem besagten Bias. Schliesslich kommt es häufiger zur Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Diese nachteilige Entwicklung von Schlafstörungen auf die emotionale und kognitive Leistungsfähigkeit erhöht das Risiko, eine Depression zu entwickeln. Nicht zuletzt wirken sich diese Störungen auch auf zwischenmenschliche Beziehungen negativ aus. Als Beispiel sei die verzögerte Entwicklung der postpartalen Mutter-
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Kind-Bindung schlafdeprivierter postpartaler Mütter genannt (25).
Zusammenfassung
Der Schlaf scheint für das psychische Wohlbefinden und
die Leistungsfähigkeit von essenzieller Bedeutung zu
sein. Schlaf dient der Psychohygiene, der Bereitstellung
notwendiger Ressourcen, verbessert die Stressbewälti-
gung und unterstützt wichtige Lern- und Anpassungs-
prozesse. Er dient der Emotionsverarbeitung und hat
damit auch therapeutische Wirkungen. In klinischen Zu-
sammenhängen sollte Schlaf als wichtige Ressource be-
rücksichtigt werden und die Förderung oder
Wiederherstellung von gesundem Schlaf eine hohe
Priorität haben.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Thorsten Mikoteit
Psychiatrische Dienste Solothurn
Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Weissensteinstrasse 102
4503 Solothurn
E-Mail: thorsten.mikoteit@spital.so.ch
Interessenkonflikte: keine.
Literatur:
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5. Van der Helm, Walker MP: Sleep and emotional memory processing. Sleep Med Clin 2011; 6: 31–43.
Merkpunkte:
G Schlaf dient der Homöostase und Regeneration des Gehirns.
G Lernprozesse werden durch den Schlaf unterstützt.
G Schlaf ist wichtig für die Emotions- und Stressverarbeitung.
G Erholsamer Schlaf ist eine wichtige Ressource und sollte in der klinischen Praxis unbedingt gefördert werden.
6. Van der Helm E, Yao J, Dutt S et al.: REM sleep depotentiates amygdala activity to previous emotional experiences. Curr Biol 2011; 21: 2029–2032.
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