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Parkinson-Komplextherapie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie: Ein multimodales, flexibles stationäres Therapieprogramm für kritische Krankheitsphasen
Die Parkinson-Komplextherapie stellt in Deutschland eine multimodale, stationäre Behandlungsmöglichkeit für Patienten mit einem idiopathischen oder einem atypischen Parkinson-Syndrom dar, welche die ambulanten und akut-stationären Behandlungsmöglichkeiten ideal ergänzt. Durch die hohe Therapieintensität und Multidisziplinarität der Behandlung können sowohl motorische als auch nicht motorische Probleme der Patienten differenziert behandelt und in den meisten Fällen eine Verbesserung des Funktionsniveaus erreicht werden. Psychiatrische und psychosoziale Probleme sollten diagnostisch erkannt und bei der Therapieplanung berücksichtigt werden, um das Ziel einer nachhaltigen Stabilisierung und Verbesserung von Krankheitsbewältigung und Lebensqualität zu erreichen.
Matthias Knop Philipp G. Sämann Martin E. Keck
von Matthias Knop, Philipp G. Sämann und Martin E. Keck
Überblick
E ine Parkinson-Erkrankung begleitet als chronische Erkrankung Betroffene viele Jahre und fordert sie immer wieder neu heraus: «Ich habe den Eindruck, die Krankheit hat in den letzten Monaten einen Schub gemacht.» Solche Aussagen sind häufig von Patienten in Bewegungsstörungsambulanzen zu hören, obwohl die Erkrankung ihren pathophysiologischen Grundlagen nach in der Regel einen langsamen, schleichenden Progress zeigt. Solche krisenhafte Verschlechterungen können zahlreiche Ursachen haben: Medikamentenumstellungen, die mit Nebenwirkungen oder Wirkungsverlust einhergehen, das neue Auftreten nicht motorischer Symptome wie Schlafstörungen, kognitiver Defizite oder vegetativer Störungen, kritische Zwischenfälle wie Stürze mit nachfolgenden verstärkten Ängsten oder eine durch andere Begleiterkrankungen oder operative Eingriffe erzwungene längere zusätzliche Immobilität mit Übungsmangel. Mit der Parkinson-Komplextherapie steht für derartige Krisen eine multimodale, multidisziplinäre, vollstationäre, meist zwei- bis dreiwöchige Behandlungsmassnahme zur Verfügung, die in vielen Versorgungsnetzen ein wichtiges Bindeglied zwischen ambulanter und akutstationärer neurologischer Behandlung darstellt. In Deutschland steht diese Therapieform in einigen Einrichtungen zur Verfügung.
Formale Kriterien und Kostenübernahme Die im Leistungskatalog für operationelle Prozeduren unter der OPS-Klassifikation 8-97d beschriebene und nach § 39 SGB V als Krankenhausleistung abrechenbare «Multimodale Komplexbehandlung bei Morbus Parkinson und atypischem Parkinson-Syndrom» wurde 2008
eingeführt und 2013 um den Zusatz «und atypisches Parkinson-Syndrom» erweitert (1). Die besondere Ausweisung von Komplexbehandlungen im Leistungskatalog erfolgte vor dem Hintergrund von Vorerfahrungen, dass unter stationären Bedingungen bei komplexen, chronischen und progressiven Erkrankungen die mittlere und obere Grenzverweildauer oft ohne befriedigenden Abschluss erreicht wird und weitere Behandlungskosten dann rasch den Krankenhausträger belasten. Eine nachhaltige Wirkung mit längerfristiger Stabilisierung bei Patienten mit solchen Erkrankungen und Beeinträchtigungen in vielen Funktionssystemen bleibt unter solchen Bedingungen daher oft aus. Um dies zu verhindern, wurde im DRG-System eine Sonderbudgetierung vereinbart: Bei Komplextherapien in der Neurologie gilt diese neben dem Indikationsbereich Morbus Parkinson und atypisches Parkinson-Syndrom unter anderem auch für die schwer behandelbare Epilepsie oder den akuten Schlaganfall. Ziel ist es, dem Behandler mithilfe eines stationären Tagessatzes – im Kontrast zur sonst etablierten stationären Fallpauschale – die Möglichkeit zu geben, das fachlich sinnvolle Behandlungssetting über eine ausreichende Dauer einzusetzen. Dabei kommt dem Begriff «komplex» zweierlei Bedeutung zu: Zum einen impliziert er, dass die zu behandelnde Erkrankung komplex ist und viele Funktionssysteme betrifft; zum anderen sind die Voraussetzungen und die Umsetzung der Behandlung aufwändig. Beides führt zum entscheidenden Therapiekonzept der Komplexbehandlung, der Multimodalität, in deren Mittelpunkt der Patient mit seiner chronischen Erkrankung steht. So sollen die Patienten die Möglichkeit erhalten, neben der medizinisch-neurologischen und physiotherapeutischen Behandlung auch von Sport- und Bewegungstherapie, Ergotherapie, Logopädie, psychotherapeutischen Verfahren und einer sozialmedizinischen Mitbetreuung, gegebenenfalls unter
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Einbeziehung der Angehörigen, zu profitieren. Eine Parkinson-Komplexbehandlung kann daher nicht von jeder neurologischen Abteilung mit Parkinson-Erfahrung angeboten werden. Die formalen Grundvoraussetzungen für eine neurologische Abteilung, um eine Parkinson-Komplextherapie mit den Krankenkassen abrechnen zu können, sind daher neben der leitenden Neurologie das Vorhandensein einer Physiotherapie/ physikalischen Therapie und einer Ergotherapie. Als Mindestmerkmale (Kasten 1) müssen insgesamt 3 nicht ärztliche Therapiebereiche in die Behandlung mit einbezogen sein, die aus den zusätzlichen Bereichen Sporttherapie, Logopädie, Psychotherapie und Kunst-/Musiktherapie hinzugenommen werden können. Weitere Kriterien betreffen die Anzahl der Therapiestunden: Die gesamte Therapiezeit pro Woche muss mindestens 7½ Stunden betragen, davon mindestens 5 Stunden in Einzeltherapie. Weitere durch das Behandlungsteam zu gewährleistende Standards sind wöchentliche Teambesprechungen, einschliesslich der Dokumentation der wöchentlichen Behandlungsergebnisse und -ziele (1).
Geeignete Patientengruppen und Krankheitssituationen Im Spektrum zwischen ambulanter und akutstationärer Behandlung ist die Komplextherapie geeignet, um Patienten bei oben genannten subakuten krisenhaften Zuständen effizient zu unterstützen. Für eine ausgewogene Indikationsstellung sollten daher die ambulanten Möglichkeiten ausgeschöpft sein. Hier gilt es jedoch, mit Augenmass auch den vorbeugenden Charakter der Komplextherapie in Bezug auf die mittel- und langfristige Stabilität der Patienten zu nutzen. Die ätiologische Zuteilung des Parkinson-Syndroms, ob ein idiopathisches (IPS) oder atypisches (z.B. Multisystematrophie) Parkinson-Syndrom vorliegt, ist nicht entscheidend für die Indikationsstellung. Die unten genannten Therapiemodule sind in verschiedener Gewichtung für verschiedene Arten des Parkinson-Syndroms sinnvoll. Der Häufigkeit der Subtypen entsprechend sind die meisten Teilnehmer an der Komplextherapie Patienten mit einem IPS. Weitere, bisher nicht erwähnte, geeignete Indikationsszenarien sind (1) Umstellungen der medikamentösen Behandlung auf Spezialverfahren wie die subkutane Apomorphinpumpe oder duodenale Levodopa-Pumpen-Systeme, die eine besondere Vorbereitung und Schulung des Patienten erfordern (2), die maximale Ausschöpfung medikamentöser Verfahren vor Indikationsstellung für eine tiefe Hirnstimulation (THS) oder (3) die medikamentöse Neuanpassung nach Implantation eines THS-Systems.
Grundprinzip und Behandlungsmodule Wesentliches Kennzeichen der Parkinson-Komplextherapie ist die enge Zusammenarbeit zwischen ärztlichen und nicht ärztlichen Therapeuten, um die mit dem Patienten im ambulanten Vorfeld und Aufnahmegespräch vereinbarten Ziele zu erreichen. Kurz zusammengefasst, kann die Komplextherapie als eine Art «kondensierte Umsetzung» der Leitlinienempfehlungen betrachtet werden. Dies ist insofern relevant, als im ambulanten Behandlungssetting bestimmte Spezialbereiche wie Ergotherapie oder Logopädie erfahrungsgemäss oft erst spät im Verlauf aktiviert werden.
Kasten 1:
Mindestmerkmale: Multimodale Komplexbehandlung bei Morbus Parkinson und atypischem Parkinson-Syndrom
1. Team unter neurologischer Behandlungsleitung. 2. Wöchentliche Teambesprechung mit wochenbezogener Dokumentation bishe-
riger Behandlungsergebnisse und weiterer Behandlungsziele. 3. Vorhandensein mindestens folgender Therapiebereiche: Physiotherapie/
physikalische Therapie, Ergotherapie. 4. Einsatz von mindestens 3 nicht ärztlichen Therapiebereichen (Physiotherapie/
physikalische Therapie, Ergotherapie, Sporttherapie, Logopädie, künstlerische Therapie [Kunst- und Musiktherapie], Psychotherapie), patientenbezogen in unterschiedlichen Kombinationen. 5. Mindestens 7½ Therapiestunden pro Woche, davon 5 Stunden in Einzeltherapie. 6. Einer der eingesetzten 3 nicht ärztlichen Therapiebereiche aus den Bereichen Physiotherapie/physikalische Therapie oder Ergotherapie.
Ärztliche Aufgaben Diese Aufgaben umfassen neben der pharmakologischen Behandlungsoptimierung die kritische neurologische Differenzialdiagnostik neuer Beschwerden und die Abstimmung im multidisziplinären Behandlungsteam. Eine ausreichende medikamentöse Einstellung ist Grundvoraussetzung für die Physiotherapie – umgekehrt ist eine Physiotherapie beim medikamentös insuffizient eingestellten Patienten frustran und daher potenziell schädlich. Die medikamentöse Therapie ist meist polypharmakologisch, sodass Interaktionen zwischen den Parkinson-Medikamenten und zwischen diesen und internistisch indizierten Medikamenten oder Analgetika beachtet werden sollten. Häufig führt beispielsweise eine Erhöhung der dopaminergen Medikation zu einer zusätzlichen Blutdrucksenkung, sodass Antihypertensiva angepasst werden müssen. Kasten 2 gibt eine kurze Übersicht über typische Fragestellungen zur medikamentösen Parkinson-Behandlung, die im Rahmen einer Komplextherapie angegangen werden können. Eine ausreichende Aufklärung des Patienten in Bezug auf Strategien der medikamentösen Behandlung – im Sinn einer partizipativen Entscheidungsfindung – ist für die Arzt-Patienten-Beziehung und die Adhärenz meistens die geeignete Herangehensweise. Auf die wichtigen psychiatrischen Aspekte nicht motorischer Parkinson-Symptome, welche die Lebensqualität erheblich einschränken können, wird weiter unten eingegangen.
Physiotherapie Die Physiotherapie verfolgt in der Regel das Ziel, den Patienten nach einer Evaluation der motorischen Defizite an ein gezieltes Trainingsprogramm heranzuführen: Wichtige Ziele sind die Verbesserung von Bewegungstempo und -amplitude (Bradykinese, Hypokinese), die Verbesserung der posturalen Instabilität mit dem Effekt einer Sturzprävention, die Korrektur dystoner Fehlhaltungen wie Anteklination (vornübergebeugte Haltung), Seitabkippung (Kamptokormie) oder Pisa-Syndrom (Schiefhaltung im Stehen) und das Einüben von Kompensationsmethoden bei Freezing und Engpassschwie-
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Kasten 2:
Spezielle pharmakologische Problemstellungen
1. Spricht der Patient auf L-Dopa an?
2. Welcher Dopaminagonist (DA) ist für den Patienten geeignet?
3. Veränderung einer pulsatilen L-DopaTherapie hin zu Dopaminagonisten, Monoaminooxidase-(MAO-)B-Hemmern, Catechol-O-Methyltransferase-(COMT-) Hemmern und Amantadin 4. Indikationsprüfung für ergoline Dopaminagonisten 5. Medikamentöse Optimierung nächtlicher Parkinson-assoziierter Symptome 6. Medikationsassoziierte Fluktuationen
7. Eignung für Anticholinergika
Bezug zur Komplextherapie Obwohl definitionsgemäss Teil der Erstdiagnostik, ist die Frage der L-Dopa-Response häufig nicht abschliessend geklärt. Die Kurztests (L-Dopa und Apomorphintest) werden hierbei zunehmend durch längere L-Dopa-Behandlungen abgelöst, um zu einem validen Ergebnis bezüglich der Differenzialdiagnose und der Frage einer langfristigen dopaminergen Behandlung zu gelangen. Obwohl im Wesentlichen ähnlich im Profil, zeigt die praktische Erfahrung, dass Wirkung und Verträglichkeit interindividuell stark verschieden sind, ohne dass klare Prädiktoren zur Verfügung stehen. Im Alter > 65 Jahre und bei Komorbiditäten sind DA besonders sorgfältig abzuwägen. Schlechte Vorerfahrungen mit DA seitens des Patienten erfordern eine vertrauensvolle Mitarbeit, um Therapieoptionen nicht zu versäumen. Die Reduktion einer pulsatilen L-Dopa-Medikation (hin zu den erwähnten Klassen) ist zur Behandlung motorischer Fluktuationen essenziell, für den Patienten jedoch oft nicht intuitiv und nebenwirkungsbehaftet, sodass eine engmaschige Betreuung und wiederholte Psychoedukation sinnvoll sind. Ergoline DA dürfen nur eingesetzt werden, wenn nicht ergoline DA nicht wirksam sind. Letzteres muss ausreichend geprüft und dokumentiert sein. Die Möglichkeit des Pflegepersonals, nächtliche Probleme im Rahmen eines stationären Aufenthalts direkt zu beobachten, erleichtert deren differenzialdiagnostische Einordnung und Behandlung. Motorische Selbstbeobachtungsprotokolle können während einer Komplextherapie mit der Fremdbeobachtung abgeglichen werden. Die geregelte Einnahme der Medikamente ist während eines stationären Aufenthalts klarer gewährleistet. Im höheren Alter und bei Komorbidität ist der Einsatz von Anticholinergika kritisch, daher ist auch hier eine engmaschige Beobachtung und gegebenenfalls eine formale neuropsychologische Testung sinnvoll.
rigkeiten. Eine gute Evidenz für Wirksamkeit und Retention von Effekten für 3 bis 6 Monate besteht beispielsweise für die LSVT-BIG Technik, die ein standardisiertes Übungsprogramm mit einem Schwerpunkt auf Ganzkörperbewegungen mit grossen Amplituden darstellt (2). Die Zahl kontrollierter Studien auch zu anderen Verfahren der Physiotherapie nimmt jedoch stetig zu (3). Der Transfer eines Teils des Übungsprogramms in den Alltag zu Hause im Sinne eines täglichen Übungsprogrammes ist hierbei ein besonders wichtiges Teilziel für die Nachhaltigkeit. Inzwischen steht der Stellenwert einer regelmässigen Physiotherapie als wichtigstes nicht medikamentöses Verfahren ausser Frage (4). Häufig berichten Patienten, auch nach längerem Krankheitsverlauf, dass sie erst im Rahmen der Komplextherapie den Nutzen einer intensiven Physiotherapie erlebt haben. Darüber hinaus können physiotherapeutische Techniken wie Massagen und Lymphdrainage zur symptomatischen Beschwerdelinderung eingesetzt werden, insbesondere wenn die Möglichkeit für aktive Übungen stark eingeschränkt ist. In der Teamarbeit sind
ausserdem die Beobachtungen der Physiotherapeuten in Bezug auf Motorik einschliesslich motorischer Schwankungen wertvoll, um die medikamentöse Therapie zu optimieren.
Sporttherapie Sport in therapeutischer Form ist eine ideale Erweiterung der Physiotherapie und wird während des stationären Aufenthalts unter Anleitung durchgeführt. Kernziele hierbei sind die Steigerung der kardiovaskulären Ausdauerfähigkeit, Verbesserung der Bewegungsökonomie, Wiedergewöhnung an körperliche Belastung und die hieraus resultierende Steigerung der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit im Alltag. Nicht zu unterschätzen sind auch die positiven Begleiteffekte auf psychische Symptome, wie beispielsweise die depressive Antriebsstörung oder auch kognitive Leistungen (5). Sporttherapie wird als Einzeltherapie oder in der Gruppe angeboten und umfasst je nach Kliniksetting ein breites Spektrum, beispielsweise Nordic Walking, Aquajogging, Wirbelsäulengymnastik, ver-
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schiedene Ballsportarten, Pilates oder Tanztherapie. Nicht zuletzt kann ein Transfer von Elementen der Sporttherapie in den Alltag helfen, soziale Isolation zu durchbrechen.
Logopädie Sprech- und Artikulationsstörungen sind sehr prävalent und vielfältig: Das Sprechen wird insgesamt leiser und rauer, die Sprachmelodie monotoner, das Sprechtempo gegen Ende des Satzes schneller und unkontrolliert mit Auslassen von Worten (sog. Festination), der Tonumfang reduziert sich, und die Sprechinitiierung kann bis zu Sprechblockaden gestört sein. Die familiäre Kommunikation und die soziale Teilhabe sind hierdurch oft stark gestört. Bei berufstätigen Patienten sind Sprechstörungen, die unter psychischem Stress exazerbieren können, ähnlich stigmatisierend wie motorische Symptome. Ähnlich wie bei anderen, unmittelbar motorischen Symptomen ist eine ausreichende medikamentöse Behandlung meist Grundvoraussetzung für eine Verbesserung der Artikulation, jedoch bestehen der klinischen Erfahrung nach auch Dissoziationen beider Komplexe. Therapieprogramme wie das LSVT®LOUD (6) sind hierfür durch gute Evidenz besonders geeignet und für die Verbesserung der Sprechfähigkeit zum Leitlinienstandard geworden. Eine logopädische Behandlungsmöglichkeit sollte daher im Rahmen der Komplextherapie mit angeboten werden. Ein weiteres Arbeitsgebiet für eine logopädische Mitbehandlung sind Schluckstörungen: Diese sind sehr häufig und können erhebliche Komplikationen wie Aspirationsgefahr, unzureichende Medikamentenwirkung oder Mangelernährung nach sich ziehen. Standardisierte Fragebögen und klinische Schluckuntersuchungen helfen, Schluckstörungen zu erkennen. Spätestens beim Auftreten von Schluckstörungen sollte eine Logopädin diagnostisch und therapeutisch hinzugezogen werden (3).
Ergotherapie Inzwischen besteht Konsens, dass Patienten mit einem Parkinson-Syndrom Zugang zu einer ergotherapeutischen Behandlung haben sollten (3). Eine Ergotherapie kann in geeigneter Weise im Rahmen der Komplextherapie begonnen werden, auch um festzustellen, ob Elemente hieraus für die ambulante Weiterbehandlung sinnvoll sind. Der Auftrag an die Ergotherapie ist breit und muss individuell spezifiziert werden: Übergeordnetes Ziel ist der Erhalt der beruflichen und familiären Rollen, des Arbeitsplatzes, der allgemeinen Versorgung und von Freizeitaktivitäten. Der Erhalt von Aktivitäten des täglichen Lebens wie Essen, Trinken, Ankleiden, sowie Küchen-, Haushalts- und Einkaufsaktivitäten durch Feinmotorik- und Schreibtraining und Koordination von Bewegungsabläufen steht daher oft im Mittelpunkt. Es bestehen Überlappungen mit Zielen der Physiotherapie beim Thema des Transfers und der Mobilität sowie mit sozialdienstlichen Aspekten beim Thema Sicherheit und Hilfsmittelberatung.
Psychosoziale und sozialrechtliche Beratung Die psychosozialen Belastungen für Parkinson-Patienten sind hoch, da die Krankheit eine dauerhaft veränderte Lebenssituation mit sich bringt, sich hierdurch soziale Beziehungen und die Situation am Arbeitsplatz verän-
dern können sowie familiäre Belastungen, Partnerschaftskonflikte und finanzielle Probleme entstehen können. Eine psychosoziale und sozialrechtliche Beratung sollte daher in allen Erkrankungsstadien, angepasst an die individuelle Situation, zu allgemeinen Themen, wie Beantragung einer Pflegestufe, Anerkennung einer Schwerbehinderung, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, berufliche Umschulung oder auch behindertengerechte Umgestaltung des Wohnumfeldes, angeboten werden. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) erwähnt soziale Arbeit explizit als Bestandteil der multidisziplinären Behandlung und stellt die Gründe hierfür ausführlich dar (3). Eine ausreichende Behandlung der Bewegungsstörung, einschliesslich der Dokumentation des Krankheitsstatus, ist Voraussetzung für solche Antragsstellungen, sodass sich der Zeitraum einer Komplextherapie anbietet, um solche Prozesse gemeinsam mit dem Patienten in die Wege zu leiten. Dies betrifft auch persönliche Entscheidungen wie die Regelung von Vorsorgevollmachten oder einer Patientenverfügung.
Konkrete Durchführung der Komplextherapie am MPIP Die Behandlung als Ganzes setzt sich aus den Mindestkriterien (s. o.), vorgegeben durch den OPS-Katalog, und den individuell je nach Beschwerdebild angepassten Therapiemodulen zusammen. Die Mindestkriterien bilden dabei die Grundlage für die Vergütung als Komplextherapie; das individuell angepasste Therapiekonzept wird zusätzlich durch die Möglichkeiten der jeweiligen Einrichtung beeinflusst. Daraus resultiert ein individuell für jeden Patienten massgeschneiderter Behandlungsplan, der im Rahmen der engmaschigen Teambesprechungen kontinuierlich angepasst wird. In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Neurologie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie (MPIP) findet diese Anpassung in einem erweiterten multidisziplinären Team statt. So besteht in unserer neurologischen Abteilung durch unmittelbare Nachbarschaft der psychiatrischen Abteilungen die Möglichkeit, aus einem zusätzlichen grossen Gruppentherapieangebot (z. B. Entspannungsverfahren, Akupunktur, Gruppentherapie i. R. der Diät- und Ernährungsberatung, spezielle Teile der Sporttherapie wie Frühaktivierung) sowie Einzeltherapien auswählen zu können. Letztere umfassen auch eine psychotherapeutische Mitbehandlung, in enger Absprache und Betreuung durch das Komplextherapieteam. Um die Effizienz und Mitarbeit des Patienten optimieren zu können, legen wir grossen Wert darauf, dass das Therapeutenteam während einer individuellen Komplexbehandlung möglichst nicht wechselt. Nach der bei der Erstvorstellung notwendigen fachärztlichen Anmeldung für die Komplextherapie wird im Vorfeld der Aufnahme die Dauer der Behandlung vorläufig festgelegt. Zuweiser sind niedergelassene Fachärzte und unsere Ambulanz für Bewegungsstörungen. Bereits am Aufnahmetag erfolgt durch unser Komplexteam die Erstellung des individuellen Behandlungsplans. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Mindestdauer von 14 Tagen ohne Unterbrechung empfehlenswert ist, um die spezielle Tagesvergütung zu erlangen. Häufig sind zwei Wochen nicht ausreichend, um bestimmte Behand-
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wertszeit (typischerweise Dopaminagonisten), die mit einer Latenz von Tagen noch zu einer Verschlechterung motorischer Symptome führen kann; G das Monitoring motorischer Fluktuationen in einem längeren, repräsentativen Zeitraum; G die Teilnahme an Physio- und Sporttherapie, wenn diese Angebote ambulant aus verschiedenen Gründen nicht erreichbar sind; G die Prüfung der Alltagstauglichkeit der Einstellung durch eine Belastungserprobung zu Hause. Üblich sind in unserer Klinik 14 bis 21 Tage in stationärer Behandlung. Vor Entlassung finden ausführliche Gespräche mit Patienten und Angehörigen statt. Die weitere Abstimmung mit dem ambulanten Weiterbehandler beziehungsweise einweisenden Arzt ist selbstverständlich. Wie erläutert, ist die fachärztliche Diagnose eines idiopathischen oder atypischen Parkinson-Syndroms Grundvoraussetzung für eine Komplextherapie. Bei differenzialdiagnostischer Unsicherheit sollte im Vorfeld einer Komplextherapie eine neurologische Diagnostik zur Klärung durchgeführt werden. Zusätzlich können im Rahmen der Komplexbehandlung weitere parkinsonassoziierte Symptome einschliesslich psychiatrischer Syndrome diagnostisch beurteilt werden, gegebenenfalls unter Einsatz der kraniellen Magnetresonanztomografie (MRT) einschliesslich 1H-MR-Spektroskopie, Neurosonografie, Liquoranalytik, elektrophysiologischer Untersuchungen (EEG, NLG/EMG, EVP), kardiovaskuläre Untersuchungen (Herzultraschall, Langzeit-EKG und -blutdruckmessungen) und neuropsychologischer Testung. Diese Zusatzuntersuchungen erfolgen zeitnah nach Aufnahme, sodass auffällige Ergebnisse bei der Behandlung berücksichtigt werden können.
Ausreichende Beachtung nicht motorischer Symptome Die ausreichende Beachtung und gegebenenfalls gezielte anamnestische Eruierung und Untersuchung nicht motorischer Symptome bei Parkinson-Syndromen ist inzwischen weitgehend Standard gegenüber der früheren Praxis, überstark auf motorische Symptome zu fokussieren – trotzdem können im ambulanten Bereich diese Themengebiete oft nicht ausreichend berücksichtigt werden. Durch den elektiven Charakter der Parkinsonkomplextherapie können diese bei der Einweisung durch niedergelassene Kollegen oder Spezialambulanzen besser thematisiert werden: Hierzu gehören beispielsweise Schlafstörungen (einschliesslich Diagnostik und Therapie der REM-Schlaf-Verhaltensstörung), autonome Funktionsstörungen (z. B. Blutdruckregulationsstörung, neurogene Blasenstörung), kognitive Defizite (Diagnostik und Behandlung), Depression oder Angststörungen, Tagesmüdigkeit und Schmerzsyndrome. Neben einer Behandlung der Kernsymptome können diese Bereiche zu einem zweiten Schwerpunkt der Komplextherapie gemacht werden, soweit die enge Zusammenarbeit mit anderen Fachgebieten (beispielsweise der Inneren Medizin) und spezielle Zusatzangebote wie psychotherapeutische Verfahren, Aku-
punktur oder neuropsychologisch fundierte Therapien gewährleistet sind.
Spezielle psychiatrische Aspekte Psychiatrische Aspekte der Parkinsonerkrankung sind vielfältig, sodass eine nervenheilkundliche beziehungsweise fachpsychiatrische Mitbehandlungsmöglichkeit sehr sinnvoll ist. Beispiele hierfür sind neben der häufigen Komplikation einer dopaminergen Behandlung durch psychotische Symptome das Erkennen und Behandeln depressiver Syndrome, Absetzeffekte bei der Reduktion dopaminerger Medikamente in Form von Angstzuständen oder affektiver Labilität oder die Indikationsprüfung für Antidementiva.
Depression Die Depression (Prävalenz beim idiopathischen Parkinson-Syndrom um 40% [3] mit Hauptsymptomen Anhedonie und Antriebsverlust) bei einer Parkinsonerkrankung ist oft durch die allgemeine psychomotorische Verlangsamung verdeckt oder durch die psychotrope Wirkung von Dopaminergika auf Antrieb und Hedonie teilkompensiert und maskiert. Dies erschwert häufig zunächst die Diagnosestellung, in die daher auch immer eine Fremdanamnese einbezogen werden sollte. Bei der psychopharmakologischen Behandlung müssen auf der anderen Seite Beschränkungen der Medikamentenauswahl und Interaktionen berücksichtigt werden. Sowohl trizyklische Antidepressiva als auch SerotoninReuptake-Inhibitoren (SSRI) und Venlafaxin sollen beim Parkinson-Syndrom eingesetzt werden (3).
Schlafstörungen Ein ebenfalls umfangreiches Themengebiet sind Schlafstörungen beim Parkinson-Syndrom, da diese neben einer depressiven Störung vielfältige andere Ursachen haben können, die mehr oder weniger direkt mit der Grunderkrankung zusammenhängen: G Nykturie als Ausdruck einer neurogenen Blasenstö-
rung G nächtliche Akinese G frühmorgendliche Muskelkrämpfe und schmerz-
hafte Dystonien G dopaminerg verstärkte nächtliche Unruhe, lebhafte
Träume und Halluzinationen G Traumschlafverhaltensstörung als parkinsonassozi-
ierte spezifische Schlafstörung G Restless-Legs-Syndrom als häufige komorbide Er-
krankung. Eine adäquate Therapieempfehlung muss sich daher auf eine gezielte Anamnese zur Differenzierung dieser Faktoren stützen.
Dopamin-Dysregulations-Syndrom (DDS) Eine besondere fachübergreifende Herausforderung stellt das Dopamin-Dysregulations-Syndrom (DDS) mit seiner komplexen und interindividuell heterogenen, oft larvierten psychopathologischen Präsentation dar (7): Hier entwickelt sich trotz motorisch ausreichender dopaminerger Versorgung eine habituelle Überdosierung mit Impulskontrollstörung, Exekutivstörung, Tagesmüdigkeit und verstärkten Fluktuationen. Eine adäquate Dosisreduktion gelingt ambulant häufig nicht, da engmaschige Beobachtungs- und Eingriffsmöglichkeiten
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fehlen. Im Rahmen der stationären Struktur kann schneller erkannt werden, dass Dosisreduktionen vom Patienten nicht vertragen werden, da sie psychische Symptome verstärken oder da Patienten die als extrem aversiv erlebten Off-Phasen auf jeden Fall vermeiden wollen. Objektive Untersuchungen der Motorik, wiederholte Psychoedukationen und Medikamentenumstellungen mit sofortiger Hilfestellung bei Komplikationen können dann in günstiger Weise zusammenwirken, um den Teufelskreis der stärker werdenden Fluktuationen zu durchbrechen. Obwohl das DDS in seiner Akutausprägung meist im stationären Rahmen überwunden werden kann, bleiben Symptome wie Anhedonie, depressive Stimmungslage, Affektlabilität oder auch Medikamenten-Craving oft länger bestehen und erfordern daher eine weiterführende ambulante Konsolidierung.
Organisatorische Herausforderungen Neben der Hürde der Mindestanforderungen zur Etablierung einer Parkinson-Komplexbehandlung in einer neurologischen Abteilung ergeben sich weitere organisatorische Herausforderungen im Alltag, speziell in
Merkpunkte:
G Die Parkinson-Erkrankung ist im Kern eine chronisch-pogressive Erkrankung, bei der es jedoch zu krisenhaften Verschlechterungen kommen kann.
G Mit der Parkinson-Komplextherapie steht für derartige Krisen eine multimodale, multidisziplinäre, vollstationäre, meist zwei- bis dreiwöchige Behandlungsmassnahme zur Verfügung.
G Wesentliches Kennzeichen der Parkinson-Komplextherapie ist die enge Zusammenarbeit zwischen ärztlichen und nicht ärztlichen Therapeuten.
G Als Mindestmerkmale müssen mindestens insgesamt 3 nicht ärztliche Therapiebereiche in die Behandlung mit einbezogen sein. Die gesamte Therapiezeit pro Woche muss mindestens 7½ Stunden betragen, davon mindestens 5 Stunden in Einzeltherapie.
kleinen Abteilungen. So muss gewährleistet sein, dass
auch im Falle von Krankheit oder Urlaubszeiten die
Mindestversorgung mit 7½ Wochenstunden und 3 ver-
schiedenen Therapiedisziplinen aufrechterhalten wer-
den kann. Sind die Fallzahlen zu hoch oder die
Therapeutenkapazitäten eingeschränkt, kann es rasch
zu Engpässen kommen – eine Erfüllung der Mindest-
merkmale mag dann noch gelingen, wird zumeist je-
doch den Bedürfnissen des Patienten nicht mehr
ausreichend gerecht. Die wöchentlichen Teamsitzun-
gen inklusive Dokumentation sind obligat. Klare zeitli-
che Strukturen und einheitliche Dokumentations-
systeme können hierbei helfen, die Effizienz zu steigern
und die Arbeitsbelastung aller Beteiligten, insbesondere
auch der Abrechnungsverantwortlichen, zu reduzieren.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Parkinson-
Komplextherapie bei vielen behandelnden Ärzten und
Betroffenen nur unzureichend bekannt ist. Neben der
individuellen Aufklärung im ambulanten und stationä-
ren Rahmen sind daher regelmässige Fortbildungsver-
anstaltungen für Ärzte und Informationstage für
Patienten und Angehörige sinnvoll.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Dr. Martin E. Keck
Direktor der Klinik und Chefarzt
Max-Planck-Institut für Psychiatrie
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie,
Psychosomatik und Neurologie
Zentrum für Nervenheilkunde
Kraepelinstrasse 2–10
D-80804 München-Schwabing
E-Mail: keck@psych.mpg.de
Literatur:
1. OPS-Katalog 2017; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, https://www.dimdi.de
2. Ebersbach G, Ebersbach A, Edler D, Kaufhold O, Kusch M, Kupsch A, Wissel J: Comparing exercise in Parkinson’s disease – the Berlin LSVT(R)BIG study. Mov Disord 2010; 25: 1902–1908.
3. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Leitlinie «Idiopathisches Parkinsonsyndrom», Entwicklungsstufe: S3, Aktualisierung 2016, AWMFRegister-Nummer: 030-010.
4. Borrione P, Tranchita E, Sansone P, Parisi A: Effects of physical activity in Parkinson’s disease: A new tool for rehabilitation. World J Methodol. 2014; 4: 133–143.
5. Lauzé M, Daneault J, Duval C: The Effects of Physical Activity in Parkinson’s Disease: A Review. Journal of Parkinson’s Disease, 2016; 6: 685–698.
6. Ramig LO, Fox C, Sapir S: Parkinson’s disease: speech and voice disorders and their treatment with the Lee Silverman Voice Treatment. Semin Speech Lang 2004; 25: 169–180.
7. Tanwani P, Fernie BA, Nikčević AV, Spada MM: A systematic review of treatments for Impulse Control Disorders and related behaviours in Parkinson’s disease. Psychiatry Res 2015; 225: 402–406.
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