Transkript
SYMPOSIUM
Rheinfelder Frühlingssymposium 2017
Aktuelle Therapien in der Palliativmedizin, bei Multipler Sklerose und Kopfschmerz
Im Mai fand das traditionelle Frühlingssymposium in der Reha Rheinfelden statt. In diesem Jahr standen auf neurologischer und psychiatrischer Seite die Themen Multiple Sklerose (MS), Palliativmedizin und Kopfschmerz im Fokus.
Schubrate um 45 Prozent im Vergleich zu Betaferon 1a 30 ųg bei einem vergleichbaren Sicherheitsprofil. Für Patienten ist dieses neue Präparat vor allem deshalb interessant, da es nur einmal monatlich subkutan injiziert werden muss.
Aktueller Stand der medikamentösen Behandlung bei MS
Dr. Oliver Findling, Oberarzt (mbf) und Leiter des Neurologischen Ambulatoriums am Kantonsspital Aarau, gab ein Update zum aktuellen Stand der medikamentösen Behandlung der Multiplen Sklerose (MS). Noch im Jahr 2006, so der Neurologe, standen für MS-Patienten nur Infektionstherapien zur Verfügung. Die medikamentöse Basistherapie der MS bestand mehrheitlich aus Interferonen oder Glatirameracetat und in der Eskalationstherapie aus Mitoxantron. In den letzten Jahren hingegen hat sich das medikamentöse Armamentarium stark erweitert. Und auch bei den Interferonen hat es neue Entwicklungen gegeben.
Plegidry© ist eine modifizierte, lang wirkende Form des Interferons. Der Wirkstoff Peginterferon beta-1a ist «ummantelt» und wirkt deshalb wie ein Retardprodukt. Plegidry wird alle 14 Tage injiziert und ist zur Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose indiziert. In der ADVANCE-Studie führte Plegidry zu 36 Prozent weniger Schüben. «Wir wissen allerdings nicht, ob wir die Schwangerschaftsdaten einfach auf Plegidry anwenden können», sagte Dr. Oliver Findling. Er empfiehlt daher einen Therapiestopp mit Plegidry und den Wechsel auf ein anderes Betainterferon drei Monate vor gewünschtem Schwangerschaftseintritt. Nebenwirkungen scheinen laut dem MS-Experten nach ersten Erfahrungen eher retardiert aufzutreten. Dazu zählen grippeähnliche Symptome, Reaktionen der Einstichstelle und Leberwerterhöhungen.
Alemtuzumab (Lemtrada©) ist ein gentechnologisch hergestellter, humanisierter monoklonaler IgG1κ-Antikörper, der spezifisch an das Glykoprotein CD52 auf der Zelloberfläche von normalen und malignen B- und T-Lymphozyten bindet und diese so zerstört. Bei Alemtuzumab liegt die Zulassung in der Schweiz seit 2015 vor. Speziell ist insbesondere
der Behandlungszyklus: Der erste Behandlungszyklus im ersten Jahr dauert 5 Tage (12 mg an 5 aufeinanderfolgenden Tagen); der zweite Behandlungszyklus erfolgt ein Jahr später und beinhaltet 12 mg an 3 aufeinanderfolgenden Tagen. Danach erfolgt eine Pause für bis zu 5 Jahre. Alemtuzumab ist für die Behandlung der aktiven, schubförmig remittierenden MS zugelassen. Im Vergleich zu Interferon beta-1a 44 ųg zeigte sich unter Alemtuzumab je nach Studie eine Reduktion der jährlichen Schubrate zwischen 49 und 69 Prozent. «Alemtuzumab wirkt nachhaltig oder wie ein Reset auf das Immunsystem», erklärte Dr. Findling. Allerdings führt dieser «Reset» des Immunsystems unter Umständen auch zu Komplikationen. So wurde im Langzeitverlauf über autoimmune Schilddrüsenerkrankungen und in seltenen Fällen auch über autoimmun bedingte Blutbildveränderungen berichtet. Aus diesem Grund ist Alemtuzumab trotz seiner überragenden Wirkung eher als Reservemedikament anzusehen.
Glatirameracetat wird seit Jahren als First-LineTherapie in der Behandlung der schubförmigen MS eingesetzt. Nachteilig war bisher die Tatsache, dass Glatirameracetat täglich gespritzt werden muss, was viele Patienten und auch Ärzte abschreckte. Neu ist eine höher dosierte Formulierung erhältlich, welche nur dreimal in der Woche verabreicht wird. Seit Kurzem steht in der Schweiz ausserdem ein Generikum zur Verfügung. Zwar entspricht die Zulassung der des Originalpräparats Copaxone©, da es sich beim Glatirameracetat jedoch um ein NonBiological-Complex-Drug handelt, sollten zum Beispiel die mit dem original Glatirameracetat gemachten Erfahrungen hinsichtlich Schwangerschaft nicht 1:1 auf das Generikum übertragen werden.
Daclimazumab (Zinbryta©) ist ein monoklonaler Antikörper, der erst in diesem Jahr zugelassen wurde. In der DECIDE-Studie zeigte Daclimazumab eine Reduktion der jährlichen
PML-Stratifizierung: Neuigkeiten hat es auch in der Risikostratifizierung der PML (progressiven multifokalen Leukenzephalopathie) gegeben. Ein Sicherheitsupdate berücksichtigt nicht nur, ob ein Patient positiv für die auslösenden JCViren ist, sondern auch die Höhe des Antikörpertiters. Hier zeigt sich, dass Patienten mit einem Antikörpertiter über 1,5 ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer PML haben, welches mit zunehmender Dauer der Therapie weiter zunimmt. Patienten mit einem niedrigen oder negativen Antikörpertiter profitieren jedoch weiterhin von einem guten Wirksamkeitsprofil und einer guten Verträglichkeit.
Weitere Neuzulassungen: In diesem Jahr ist mit weiteren Neuzulassungen zu rechnen. Mit Ocrelizumab befindet sich ein Wirkstoff in der Zulassungsphase, der erstmals bei Patienten mit primär progredienter MS einen Effekt auf die Entwicklung der Behinderung zeigt. In den USA wurde das Präparat mittlerweile zugelassen. Der gleiche Wirkstoff zeigte in Studien auch eine sehr gute Wirkung bei Patienten mit schubförmiger MS bei einem guten Verträglichkeitsprofil, sodass man auch für diese Indikation die Zulassung erwartet.
Im Zulassungsverfahren befindet sich auch Cladribrin. Das ist ein antineoplastisch und immunmodulierender Wirkstoff, der bei bestimmten Blutkrebsformen eingesetzt wurde. Neuere Sicherheitsdaten zeigen ein akzeptables Sicherheitsprofil bei guter Wirkung. Interessant für den Patienten ist der Einnahmemodus: Das Präparat wird nur zweimal im Jahr über eine kurze Periode als Tablette eingenommen.
Insgesamt, so Dr. Findling, ist die Entscheidung, welches MS-Medikament für welchen Patienten geeignet ist, heute schwierig zu treffen, da zum Beispiel Biomarker fehlen, welche vorhersagen, ob ein Patient auf ein Medikament besonders gut anspricht oder nicht. Neurologen werden deshalb in der Therapiefindung auch dadurch geleitet und beeinflusst, welche Ne-
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SYMPOSIUM
benwirkungen das jeweilige MS-Medikament hat und welche Konsequenzen dies in der Überwachung der Medikation hat.
Medikamentöse Symptomkontrolle in der Palliativmedizin Im Mittelpunkt der Palliativmedizin steht die Behandlung und Begleitung von Patienten mit einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei begrenzter Lebenserwartung, wie zum Beispiel Tumorerkrankungen, AIDS oder bei chronischen internistischen Erkrankungen. «Ziel der Palliativmedizin ist der möglichst lange Verbleib zu Hause», so Hagen Scheerle, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin (FMH) und M.Sc. Palliative Care, Praxis Oberdorf in Möhlin, «und ein möglichst normales Sterben, ohne den Sterbeprozess zu verzögern oder zu beschleunigen.» Zentral ist die Schmerzlinderung. Hagen Scheerle rät dazu, sich am WHO-Stufenschema zu orientieren und so lange wie möglich die orale Form zu versuchen. «Für einen gleichmässigen und guten Wirkstoffspiegel des Analgetikums ist es auch wichtig, die immer gleichen Zeitabstände einzuhalten.» Die Stufe 2 überspringt Scheerle häufig, da sich diese Medikamente in der Praxis meist nicht bewähren und die Schmerzlinderung zu wenig stark ist. Da Opioidpräparate der Stufe 3 häufig zu Übelkeit führen, bietet sich präventiv eine Symptomkontrolle mit Haldol an. Zusätzlich kann, wenn nötig, Metoclopramid oder Domperidon gegeben werden. Eine komplette Schmerzlinderung sei laut Scheerle trotzdem nicht immer zu 100 Prozent zu erzielen: «Aber es soll eine Stufe erreicht werden, in der die Schmerzreaktion bei fortgeschrittener Erkrankung für den Patienten erträglich ist.» Aus eigener Praxiserfahrung rät er – wenn möglich – zur kontinuierlichen Schmerzbehandlung über eine Schmerzmittelpumpe, da Opioide teilweise schlecht transdermal aufgenommen werden, insbesondere bei den oftmals kachektischen Patienten. Die Angst vor Ersticken und vor zu wenig Flüssigkeit ist ebenfalls ein häufig diskutiertes Thema unter medizinischen Fachpersonen. Liegt Atemnot vor, rät Scheerle zu einer guten An-
amnese und Ursachensuche. Letztere kann iatrogen bedingt sein, psychisch oder auch aufgrund von zu viel Flüssigkeit. Wenn einmal Sauerstoff verabreicht wird, sei es schwierig, so der Palliativmediziner, den Patienten vom Sauerstoff wegzubringen. Um die Atemnot zu lindern, sei es – ausser bei einer COPD und Hypoxie – zum Beispiel hilfreicher, Fenster und Türen zu öffnen und für einen Luftzug zu sorgen, als Sauerstoff zu verabreichen. Zudem trocknet Sauerstoff die Mundschleimhäute stark aus und verstärkt dadurch das Durstgefühl. Mehr Flüssigkeit wird dann nachgegeben, ohne das Durstgefühl lindern zu können. Denn der Durst entsteht aufgrund der trockenen Schleimhäute, und da sei eine gute Mundpflege essenziell. «Im Sterbeprozess reicht meist ein Viertelliter Flüssigkeit täglich aus, um das Durstgefühl zu nehmen», erklärte Scheerle.
Kopfschmerzen in der Praxis Im Workshop von Dr. Manuela Gaggiotti, Neurologisches Ambulatorium, Reha Rheinfelden, und von Dr. Heiner Brunnschweiler, Stv. Chefarzt, Reha Rheinfelden, wurden die häufigsten Kopfschmerzformen, aber auch Spezialfälle vorgestellt. Die Einteilung von Kopfschmerzen erfolgt nach der Klassifikation IHS (International Headache Society). Eine Migräne kann mit oder ohne Aura auftreten, ist oft einseitig und periorbital, kann stechend, pochend auftreten und ist meist intensiv über Stunden. Die Migräne kann mit Nausea, Vomitus, Foto- und Fonophobie einhergehen. Ein Spannungskopfschmerz hingegen ist meist beidseitig, oft temporal, frontal oder holocephal und kann dumpf, ziehend, drückend sein. Im Vergleich zur Migräne kann unter Spannungskopfschmerzen gearbeitet werden. Therapeutisch bieten sich bei Migräne Analgetika mit einem Antiemetikum oder Triptane an. Beim Spannungskopfschmerz sind es einfache Analgetika wie nicht steroidale Antirheumatika. Eine Intervalltherapie mit Physiotherapie, die Arbeitsplatzergonomie und auch verhaltenstherapeutische Massnahmen sind zu bedenken. Im Allgemeinen ist bei Kopfschmerzen zu
überprüfen, wie häufig und in welchem Zeitraum Medikamente eingenommen werden. Denn nach längerer Medikamenteneinnahme kann ein analgetikainduzierter Kopfschmerz auftreten. Als gefährlicher Kopfschmerz werden laut SNOOP4 folgende Symptome (red flags) bezeichnet: G Systemische Symptome wie Fieber oder
Gewichtsverlust G neurologische Zeichen oder Symptome G ein abrupter Beginn (onset) G Alter über 50 Jahre (older) G progressiv zunehmende Kopfschmerzen
posture: Beeinflussung durch die Position previous Headache = Symptome anders als sonst Papillenödem.
Gefährlicher Kopfschmerz (symptomatischer
Kopfschmerz) ist mit einer höheren Morbidität
und Mortalität assoziiert, so die beiden Exper-
ten. Bei einem Donnerschlag-Kopfschmerz
kann beispielsweise die Ursache eine Sub-
arachnoidalblutung sein.
Wichtig sei es auch, dem Patienten genau zu-
zuhören und sich nicht darauf zu verlassen,
dass die Schmerzsymptome hinlänglich be-
kannt sind. Denn dann besteht die Gefahr, dass
eine wichtige Veränderung übersehen wird.
Dies war beispielsweise bei einer Pflegefach-
frau im Alter von 35 Jahren mit bekannter Mi-
gräne der Fall, die nach einem Betriebsausflug
plötzlich starke Kopfschmerzen hatte, die als
Migräne gedeutet wurden, da sie unter dieser
seit Jahren leidet. Wie sich später herausstellte,
hatte eine Subarachnoidalblutung die starken
Schmerzen verursacht.
Es sei deshalb immer wichtig, so die Experten,
eine ausführliche Anamnese der Kopfschmer-
zen zu erheben und zu überprüfen, ob bei be-
kannten Kopfschmerzen eine Veränderung
aufgetreten ist – was auf einen symptomati-
schen und dann gefährlichen Kopfschmerz
hinweisen könnte.
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Annegret Czernotta
Quelle: Rheinfelder Frühlingssymposium, 4.5.2017
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