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Entzündliche Neuropathien: Pathogenese, Diagnose und Therapie
FORTBILDUNG
Entzündliche Neuropathien sind erworbene Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die in jedem Lebensalter akut oder chronisch auftreten können. Der Verlauf ist monophasisch, wiederkehrend oder progressiv. Der folgende Artikel befasst sich mit dem klinischen Erscheinungsbild, der Pathogenese, der Diagnose und der Therapie der entzündlichen Neuropathien. Ziel ist es, den aktuellen Stand des Wissens zu präsentieren und zu diskutieren.
von Josef Finsterer
Klassifikation
D ie Gruppe der entzündlichen Neuropathien umfasst die immunmediierten Neuropathien, bei denen kein Erreger nachweisbar ist, und die erregerbedingten Neuropathien. Bei den immunmediierten Neuropathien werden autoimmune Neuropathien (abnorme Immunantwort auf einen Infekt) und dysimmune Formen (klonale Vermehrung von B-Zellen mit Antikörper-[AK-]Produktion) unterschieden. Bei den erregerbedingten Neuropathien wird unterschieden, ob es sich um eine direkte Infektion mit Viren, Bakterien oder Protozoen oder um eine durch eine Lebendimpfung induzierte Infektion handelt. Bei den akuten Formen wird der Nadir innerhalb von 4 Wochen erreicht. Chronische Formen dauern mindestens 8 Wochen.
Immunmediierte Neuropathien (Nodopathien) Die immunmediierten Neuropathien sind eine heterogene Gruppe von Erkrankungen mit gestörter Immunreaktion, die anhand von Klinik (abgeschwächte Reflexe ohne Atrophie), Verlauf und paraklinischen Untersuchungen (Nervenleitgeschwindigkeit [NLG], AK-Bestimmung, Nervenbiopsie) in verschiedene akute und chronische Subgruppen unterteilt werden. Da nodale Strukturen am häufigsten von der abnormen Immunantwort betroffen sind, spricht man auch von Nodopathien. Zu den immunmediierten Neuropathien zählen das Guillain-Barré-Syndrom (GBS, akut), die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (CIDP, chronisch), die vaskulitische Neuropathie (akut oder chronisch), die paraproteinämische Neuropathie (chronisch), die paraneoplastischen Neuropathien (chronisch) und andere immunmediierte Neuropathien (akut oder chronisch).
Guillain-Barré-Syndrom Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) wird in mehrere Subgruppen unterteilt wie die akut inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP), die akut motorische axonale Neuropathie (AMAN), die akut motorische und sensible axonale Neuropathie (AMSAN), das Miller-Fischer-Syndrom (MFS), die akut sensible Neuropathie, die akut autonome Neuropathie und die seltene pharyngeal-zervikal-brachiale Variante.
Klinik Die AIDP beginnt meist mit Parästhesien in den Zehen oder Fingern, gefolgt von meist symmetrischen Paresen zuerst der distalen und bei Progredienz auch der proximalen Extremitätenmuskulatur. Bulbäre Muskeln können im weiteren Verlauf beteiligt sein, aber auch als initiale Manifestation auftreten. Die Reflexe sind abgeschwächt oder fehlen. Zirka 90 Prozent der Patienten geben Schmerzen im Rücken an. Bei 70 Prozent ist das autonome Nervensystem mitbetroffen. Die häufigsten Komplikationen sind respiratorische Insuffizienz, autonome Instabilität, Kontrakturen, Infekte, Pulmonalembolie und Myokarditis. Ein Drittel der Patienten wird respiratorpflichtig. Bei der AMAN können die Reflexe erhalten sein.
Pathogenese In 90 Prozent der Fälle geht dem GBS ein Infekt voraus (bei 2 Drittel Campylobacter jejunii). Die Immunantwort gegen dieses Agens richtet sich dabei nicht nur gegen den Erreger, sondern auch gegen körpereigene Strukturen wie das Myelin oder Axone.
Diagnose Die Diagnose GBS wird mittels Klinik, Liquor (dissociation cytoalbuminique), NLG (verlängerte distale Latenzen, verminderte NLG, erniedrigte SPA, Leitungsblöcke
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FORTBILDUNG
[häufig proximal], erhöhte temporale Dispersion) und des Nachweises von AK gegen C. jejunii gestellt.
Therapie Therapiert wird das GBS mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG) oder mittels Plasmapherese (PP). Beide Massnahmen sind gleich wirksam. In den meisten Ländern sind IVIG das Mittel der Wahl. Die Standarddosis beträgt 0,4 g/kg KG an 5 aufeinanderfolgenden Tagen. Der Effekt von IVIG ist 2 Wochen nach Beginn am stärksten. Bei der PP werden 200 bis 300 ml/kg, aufgeteilt auf 5 Tage, filtriert. Eine Kombination von IVIG und PP bringt therapeutisch keinen Vorteil. Die Immunadsorption bringt keinen Vorteil gegenüber der PP. Trotz Therapie kommt es bei 20 bis 30 Prozent der Patienten zu einer verzögerten oder inkompletten Remission. 2 Prozent der Patienten entwickeln eine CIDP. Trotz Intensivbehandlung sterben noch immer 5 bis 10 Prozent der Patienten. Zu den unterstützenden Massnahmen zählen die maschinelle Beatmung, die Infektprophylaxe, die Prophylaxe gegen Embolien, eine ausreichende Schmerztherapie, eine Stabilisierung der autonomen Dysbalance, die künstliche Ernährung bei bulbärer Beteiligung, die urologische Versorgung und die Kontrakturprophylaxe. Beim Miller-Fischer-Syndrom kommt es spontan oder durch Anwendung von IVIG oder PP zu einer kompletten Remission innerhalb von 6 Monaten.
Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (CIDP) Die CIDP wird unterteilt in die klassische CIDP, die distale, akquirierte demyelinisierende symmetrische Neuropathie (DADS), die multifokale, akquirierte demyelinisierende sensomotorische Neuropathie (MADSAM, auch als Lewis-Sumner-Syndrom bekannt), die chronisch immunologische sensible Polyradikuloneuropathie (CISP), die prädominante sensible CIDP, das Gangataxie, AK-assoziierte, late-onset Polyneuropathie(GALOP-)Syndrom und die multifokal motorische Neuropathie (MMN).
Klinik Die klassische CIDP ist charakterisiert durch symmetrische, sensomotorische Defizite, die proximal und distal gleich ausgeprägt sind. Die Hirnnerven sind in 5 bis 20 Prozent der Fälle mitbetroffen. In zirka zwei Drittel der Fälle ist der Verlauf chronisch progredient, bei einem Drittel remittierend. Zwei Drittel geben Schmerzen an. Die Hälfte der Patienten entwickelt eine autonome Neuropathie beziehungsweise einen Tremor. Selten kommt es zu einer Ateminsuffizienz. Die DADS manifestiert mit distalen Ausfällen, die MADSAM mit sensomotorischen, asymmetrischen Ausfällen, die CISP mit sensiblen Ausfällen und die MMN mit rein motorischen Ausfällen.
Pathogenese Die CIDP kommt idiopathisch vor oder im Rahmen von Paraproteinämien (MGUS, multiples Myelom [Plasmozytom]), M. Waldenström, Schwerkettenkrankheit, Polyneuropathie, Organomegalie, Endokrinopathie, monoklonalen AK sowie Hautveränderungen (POEMSSyndrom), Diabetes, Amyloidose, Sarkoidose, Thyreotoxikose, Autoimmunerkrankungen, Impfungen (z.B.
Tetanus) oder Malignomen. Die Pathogenese der idiopathischen CIDP ist ungeklärt, es ist aber sowohl die zelluläre Immunantwort (T-Zellen, Makrophagenaktivierung) als auch die humorale Immunantwort (Ablagerung von AK oder Kompliment) involviert. Die Demyelinisierung ist vorwiegend in den proximalen Anteilen lokalisiert.
Diagnose Die Diagnose CIDP wird entsprechend den Kriterien der Europäischen Föderation Neurologischer Gesellschaften mittels Klinik, Liquor (dissociation cytoalbuminique), NLG (verlängerte distale Latenzen, verminderte NLG, Leitungsblöcke, erhöhte temporale Dispersion), Elektromyogramm (neurogen) und Magnetresonanz (Enhancement spinaler Wurzeln) gestellt.
Therapie Bei der klassischen CIDP werden üblicherweise IVIG oder subkutan applizierte Immunglobuline (SCIG), PP oder Steroide eingesetzt. Alle drei Optionen sind gleich wirksam. Bei einer Krankheitsdauer > 6 Wochen sind nur noch IVIG beziehungsweise Steroide wirksam. Steroide werden beispielsweise in Form von Prednisolon (1,5 mg/KG alle 2 Tage) verabreicht. Bei Nichtansprechen auf IVIG, PP oder Steroide können Azathioprin, Cyclophosphamid, Cyclosporin A, Interferon-β, Methotrexat, Mycophenolat, Etanercept oder Rituximab versucht werden. Generell ist die Prognose der klassischen CIDP günstig. Nur bei 15 Prozent kommt es zu einer permanenten Behinderung. Die MMN reagiert ausschliesslich auf IVIG.
Vaskulitische Neuropathien Vaskulitische Neuropathien sind insgesamt selten, treten bei primären (keine bekannte Grunderkrankung) oder sekundären (z.B. bei rheumatoider Arthritis, Virusinfektionen, Diabetes) Vaskulitiden auf und können akut oder chronisch verlaufen. Vaskulitische Neuropathien können als isolierte Neuropathie oder im Rahmen einer systemischen primären Vaskulitis (z.B. Riesenzellarteriitis, Takayasu-Syndrom, Churg-Strauss-Syndrom, Panarteriitis nodosa, Wegener-Granulomatose, Kryoglobulinämie) auftreten. Sie kommen fokal oder generalisiert vor. Die fokale vaskulitische Neuropathie manifestiert in Form einer Mononeuropathie oder einer multiplexen Neuropathie. Klinisch manifestiert die vaskulitische Neuropathie in Form von Sensibilitätsstörungen, Paresen oder Schmerzen (kann aber auch schmerzlos sein). Die Verteilung der Ausfälle ist häufig asymmetrisch und nicht längenabhängig. Die Pathogenese der vaskulitischen Neuropathie ist ungeklärt. In der Nervenbiopsie finden sich epineurale, lymphozytäre Infiltrate, Kryoglobulinablagerungen und Nekrosen. Die Diagnose der vaskulitischen Neuropathie basiert auf der Klinik, der NLG (axonal), Antikörperbestimmungen (z.B. ANA, ANCA) und der Nervenbiopsie. Therapeutisch werden vorwiegend Cyclophosphamid oder Rituximab verabreicht.
Paraproteinämische Neuropathien (Paraprotein-Neuropathien) Paraproteinämische Neuropathien sind selten. Die meisten Paraproteinopathien sind monoklonale Gammopa-
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Kasten:
Erreger, die mit einer entzündlichen Neuropathie einhergehen können
Direkte Infektion
Viren
Zoster, HIV, Hepatitis, Entero, Influenza, HTLV-1, West Nile,
Zika, Dengue, Chikungunya, Humanes Papilloma-Virus, Polio,
Masern, Epstein-Barr-Virus
Bakterien
Treponema pallidum, Corynebacterium dipht., Ehrlichia,
Leptospiren, Brucella, Mycobacterium tuberculosis,
Scrub-Typhus, Mycobacterium leprae
Protozoen
Borrelien, Trypanosoma cruzii
Post-Vakzine Rabies, Influenza
thien von ungesicherter Signifikanz (MGUS). Die häufigste Neuropathie bei Paraproteinämien ist die IgMκAK-(MAG-)assoziierte, demyelinisierende Neuropathie (Anti-MAG-Neuropathie, zirka 50% der IgM-Paraproteinämien), die langsam progredient verläuft, vorwiegend mit distalen, sensiblen Ausfällen einhergeht und auf IVIG oder alternativ auf Cyclophosphamid, Fludarabin, Rituximab oder PP anspricht. Die MGUS mit IgG- oder IgAParaprotein verläuft wie eine CIDP und wird mit Steroiden, IVIG oder PP behandelt. Alternativ werden Chlorambucil, Fludarabin beziehungsweise Rituximab empfohlen. Immunsuppressiva sind meist ineffektiv. Die Neuropathie bei MGUS mit IgM-Paraprotein spricht weniger gut auf die CIDP-Therapie an, aber auf Rituximab und andere Immunsuppressiva. Die chronisch ataktische Neuropathie mit Ophthalmoplegie, IgM-Paraprotein, Kälteagglutininen und Disialo-Gangliosid-AK (CANOMAD) ist eine seltene Paraprotein-Neuropathie, die klinisch der MMN ähnelt und auch gut auf IVIG anspricht.
Merksätze:
G Entzündliche Neuropathien sind erworbene Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die in jedem Lebensalter akut oder chronisch auftreten können.
G Die Gruppe der entzündlichen Neuropathien umfasst die immunmediierten Neuropathien, bei denen kein Erreger nachweisbar ist, und die erregerbedingten Neuropathien.
Paraneoplastische Neuropathien Paraneoplastische Neuropathien sind ebenfalls selten und betreffen meist sensible oder autonome, selten motorische Fasern. In der NLG finden sich Zeichen der Demyelinisierung. Klinisch kann der Neuropathie ein generalisierter Juckreiz vorausgehen. Die Diagnose basiert auf der Klinik und der NLG. Sie wird durch Bestimmung antineuronaler AK, zum Beispiel Anti-Yo, Anti-Hu (ANNA1), Anti-Ri (ANNA2), Microtuble-Associated-Protein (MAP), unterstützt. Therapeutisch steht die Therapie der Grundkrankheit im Vordergrund. In Einzelfällen können IVIG beziehungsweise Steroide effektiv sein. Eine spezielle Form eines paraneoplastischen Syndroms ist das POEMS-Syndrom, bei dem die Neuropathie (distal betont, symmetrisch, demyelinisierend, langsam progredient) im Vordergrund steht. Das POEMS-Syndrom reagiert manchmal auf Steroide, Azathioprin, Cyclophosphamid, Melphalan, Lenalidomid, Bortezomib, Thalidomid oder die Stammzelltherapie.
Andere Zu den anderen immunmediierten Neuropathien zählen die Neuropathie bei Sarkoidose (akut, chronisch), die Plexopathie bei Diabetes, die Neuropathie bei Zöliakie und Neuropathien bei Autoimmunkrankheiten (z.B. systemischer Lupus erythematodes, Sjögren-Syndrom).
Erregerbedingte Neuropathien
Erreger, die zu infektassoziierten Neuropathien führen
können, sind im Kasten zusammengefasst. Die häufigs-
ten infektassoziierten Neuropathien werden durch
Borrelien oder neurotrope Viren wie Herpes, Polio oder
HIV verursacht. Andere Erreger führen seltener zu einer
entzündlichen Neuropathie. Die häufigste vakzinindu-
zierte Neuropathie ist die Post-Rabies-Vakzine-Neuropa-
thie. Die Diagnose der erregerbedingten Neuropathien
basiert auf der Klinik, der NLG und dem Erregernachweis.
Die Therapie basiert auf der Eradikation des Erregers oder
symptomatischen Massnahmen.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Josef Finsterer
Postfach 20
Krankenanstalt Rudolfstiftung
A-1180 Wien
E-Mail: fifigs1@yahoo.de
Der Autor gibt an, keine Interessenkonflikte zu haben.
Literatur beim Verfasser.
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