Transkript
&K U R Z B Ü N D I G
Aktuelle Studien – kurz gefasst
IncobotulinumtoxinA bei Spastizität der oberen und unteren Gliedmassen: Sicherheit und Wirksamkeit bei höherer Dosierung
Die Dosiseskalation von IncobotulinumtoxinA erlaubt eine effektivere Behandlung von Patienten mit chronischer Spastizität der Gliedmassen aufgrund zerebraler Läsionen. Das zeigt eine Studie von Wissel et al. (1), ohne dabei die Sicherheit oder die Verträglichkeit zu beeinträchtigen.
Laut Richtlinien sind Injektionen mit Botulinumtoxin Typ A (BoNT-A) eine Behandlungsoption für chronisch fokale Spastizität der oberen und unteren Extremitäten. Das derzeitige Problem: Bei multifokaler, schwerer Spastizität sind wahrscheinlich höhere Gesamtdosierungen erforderlich als derzeit zugelassen. Über den sicheren Einsatz einer nicht zugelassenen höheren Dosierung von BoNT-A wurde bereits berichtet, so die Autoren, jedoch fehlen bislang noch Daten aus grossen, prospektiven klinischen Trials sowie Daten zu Langzeitrisiken wie Immunogenität und Resistenz, die bei höheren Dosierungen möglicherweise häufiger auftreten können. Aus Phase-III-Studien ist bekannt, dass IncobotulinumtoxinA in einer Dosierung von 400 U (Xeomin®) effektiv und gut verträglich ist; dieser Wirkstoff galt damit als geeignete BoNT-A Formulierung für eine Untersuchung von Dosierungen von 400 bis zu 800 U.
Sicherheit, Verträglichkeit, Effektivität Dies unternahmen nun die Autoren der TOWER-Studie (Titration Study in Lower and Upper Limb Spasticity, [1]): Sie untersuchten in der prospektiven Single-Arm-Titrationsstudie Sicherheit und Effektivität von IncobotulinumtoxinA bei Patienten mit Spastizität aufgrund zerebraler Läsionen. Bei diesen Patienten galten Gesamtdosierungen von 800 U pro Injektionszyklus als erforderlich.
Die Ergebnisse kurz gefasst: Die eskalierende Dosierung bis zu 800 U
G beeinträchtigte weder Sicherheit noch Verträglichkeit
G erlaubte die Behandlung einer grösseren Zahl spastischer Muster
G ist mit erhöhter Effektivität, verbessertem Muskeltonus und Erreichen von Behandlungszielen assoziiert.
Keine erhöhte Nebenwirkungsrate, keine Antikörperbildung Zu Studienbeginn waren 155 Patienten im Alter zwischen 18 und 80 Jahren in die prospektive Dosistitrierungsstudie eingeschlossen. Die Behandlung umfasste drei aufeinanderfolgende Injektionszyklen mit IncobotulinumtoxinA 400 U, 600 U und 600 bis 800 U, jeweils gefolgt von einem Beobachtungszeitraum von 12 bis 16 Wochen. Die untersuchten Endparameter waren unerwünschte Ereignisse (AE), Antikörpertests sowie Scores auf zwei Skalen: der REPAS-Skala (Resistance to Passive Movement = die Summe der Ashworth-SkalaScores verschiedener Muskelgruppen) und der Goal-Attainment-Skala. 137 Patienten beendeten die Studie. Unter der Dosiseskalation war keine erhöhte Inzidenz behandlungsbezogener AE und keine behandlungsassoziierten schweren AE zu beobachten. Die häufigsten AE insgesamt waren Stürze mit 7,7 Prozent, gefolgt von Nasopharyngitis, Arthralgie und Diarrhö (jeweils 6,5%). Die häufigsten behandlungsassoziierten Nebenwirkungen waren Schmerzen in den Extremitäten (1,9%), Dysphagie (1,3%) sowie Muskelschwäche (d.h. Muskelschwäche, die über die Behandlungswirkung hinausging: 1,3%); und diese AE waren nicht nur selten, sie bildeten sich zudem nach vier bis sechs Wochen wieder zurück. Kein Patient entwickelte ein sekundäres Nichtansprechen aufgrund neutralisierender Antikörperbildung.
Zur Effektivität: Insgesamt wurden im ersten Injektionszyklus 608 klinische Muster behandelt, im zweiten Zyklus 743 und im dritten Zyklus 811 Muster. Verbesserungen von ≥ 1 Punkt auf der Ashworth-Skala zwischen Injektion und vierwöchigem Kontrollbesuch wurden bei 59,9 Prozent der Patienten im ersten Zyklus sowie jeweils 58,0 und 66,2 Prozent der Patienten im zweiten und dritten Zyklus beobachtet. Die mittleren REPAS-Scores verbesserten sich kontinuierlich nach jedem Zyklus: –4,6 im ersten, –5,9 im zweiten und –7,1 im dritten Zyklus (p < 0,0001 für alle). Der Anteil derjenigen Patienten, die ≥ 3 Behandlungsziele von 4 möglichen erreichten (goal attainment), stieg ebenfalls nach jedem Zyklus an, auf jeweils 25,2 Prozent, 50,7 Prozent sowie 68,6 Prozent. Klinische Relevanz bestätigt Die vorliegende Studie sei der bislang grösste prospektive Trial zur Evaluierung höherer Gesamtdosierungen von IncobotulinumtoxinA in der Behandlung einer schweren multifokalen Spastizität gewesen, betonen die Autoren. Die Eskalation der Gesamtdosierungen erlaubte die erfolgreiche Behandlung einer grösseren Anzahl spastischer Muster mit Verbesserungen des Muskeltonus; und rund zwei Drittel der Patienten erreichten mit den erhöhten Dosierungen ≥ 3 von 4 vorab definierten Behandlungszielen. Die Behandlung war gut verträglich, und neue Sicherheitsbedenken traten nicht auf. Dass sowohl Ärzte als auch Patienten eine verbesserte globale Effektivität angaben, sehen die Autoren als Bestätigung der klinischen Relevanz einer Dosiseskalation von IncobotulinumtoxinA. Dr. med. Lydia Unger-Hunt Freie Journalistin 1. Wissel J et al.: Safety and efficacy of IncobotulinumtoxinA doses up to 800 U in limb spasticity. The TOWER study; Neurology 2017; 88: 1321–1328. 3/2017 PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE 15