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Daclizumab – Ein neuer Wirkstoff in der MS-Therapie
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FORTBILDUNG

Daclizumab: Ein neuer Wirkstoff in der MS-Therapie
Die Palette der medikamentösen Therapien in der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) wird immer grösser. In diesem Jahr erhielt Daclizumab (Zinbryta®) die Zulassung in der Schweiz. Daclizumab ist ein humanisierter Antikörper zur Behandlung der schubförmigen MS bei Erwachsenen. Prof. Roland Martin, Leitender Arzt in der Neuroimmunologie und der MS-Forschung am Universitätsspital Zürich, gibt im Interview Auskunft über den zukünftigen Stellenwert des Medikaments.

Roland Martin

Psychiatrie & Neurologie: Die Palette an MS-Medikamenten wird immer grösser. Braucht es ein neues Medikament wie Daclizumab überhaupt? Prof. Roland Martin: Das neue MS-Medikament braucht es, weil nach wie vor Bedarf an neuen Substanzen besteht, die für den Patienten von der Einnahme her günstig sind und einen neuen Wirkmechanismus haben. Die oralen Substanzen waren diesbezüglich bereits ein Fortschritt, Daclizumab ist ein weiterer. Der Vorteil liegt darin, dass man es nur einmal im Monat subkutan applizieren muss. Die einfache Verabreichung, die der Patient auch selbst übernehmen kann, und auch die niedrige Frequenz sind für den Patienten bequem. Weiterhin benötigen wir mehr Medikamente mit der richtigen Kombination aus guter Verträglichkeit und hoher Wirksamkeit. Auch hier erscheint Daclizumab attraktiv. Einige der derzeit zur Verfügung stehenden Medikamente kommen beispielsweise aufgrund von Komplikationen wie Veränderungen im Blutbild oder Infekten nicht infrage. Für diese Patienten ist Daclizumab eine Bereicherung.
Wie unterscheidet sich der Wirkmechanismus von Daclizumab zu anderen MS-Medikamenten? Roland Martin: Im Bereich der MS-Medikamente gibt es viele depletierende Medikamente, zum Beispiel die Anti-CD20-Antikörper (Rituximab, Ocrelizumab), die B-Lymphozyten beseitigen, oder das Anti-CD52 (Alemtuzumab), das sogar T- und B-Lymphozyten über lange Zeit wirksam eliminiert. Unter den depletierenden Therapien und denjenigen, die zu Blutbildveränderungen führen, wie Fingolimod oder Fumarat, kann es zu Lymphopenien kommen. Bei Daclizumab ist der Wirkmechanismus anders. Der Wirkstoff ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der selektiv an die alpha-Untereinheit CD25 des hochaffinen Interleukin-2-Rezeptors bindet. Der Wirkmechanismus von Daclizumab besteht in der Blockade der Aktivierung autoreaktiver T-Zellen. Die Substanz führt zu einer Vermehrung von sogenannten natürlichen Killer-(NK-)Zellen, die in der Immunregulation eine wichtige Rolle spielen, beispielsweise in der Plazenta der schwangeren Frau, sodass der eigene Fetus nicht abgestossen wird, oder in der Abwehr von bestimmten Viren und auch Tumoren. Das heisst, man vermehrt mit Daclizumab nicht nur eine Immunzellpopulation, die regulatorisch auf das Immunsystem wirkt, sondern löst auch schützende Effekte aus, während andere Therapien, die genauso wirksam oder wirksamer sind, Immunzellen beseitigen oder supprimieren. Dies betrachte ich als wichtigen Vorteil.

Daclizumab scheint auch einen Einfluss auf die Kognition zu haben und diese zu verbessern. Was halten Sie von diesem Studienergebnis? Roland Martin: Die Kognition wurde in der Studie als eine neurologische Funktion untersucht. Das ist ein Novum. Wir wissen aber nicht, wie es zu dieser Verbesserung der kognitiven Leistungen gekommen ist, ob die NK-Zellen im ZNS-Kompartiment hierzu beitragen oder welche Faktoren genau eine Rolle spielen. Im Moment würde ich das bei Daclizumab als ein Plus ansehen, aber nicht als therapeutischen Kernaspekt. Denn diese Daten sind in weiteren Studien zu erhärten und weiterzuverfolgen.
Haben Sie mit Daclizumab bereits Erfahrungen im klinischen Alltag sammeln können? Wie sind diese ausgefallen? Roland Martin: Wir beginnen gerade erst, Daclizumab in der Praxis einzusetzen. Derzeit haben wir vermehrt Patienten, die von Natalizumab auf Daclizumab wechseln, weil sie ein erhöhtes Risiko für eine progressive multifokale Leukenzephalopathie haben. Daclizumab kommt aber auch als Erstlinientherapie für viele Patienten infrage. Bei Patienten mit einer höheren Krankheitsaktivität würden wir beispielswiese Betainterferone und Copaxone gar nicht mehr geben, sondern gleich zu Beginn unter anderem Daclizumab. In der Wirksamkeit vergleichen wir es mit Natalizumab oder Rituximab, obwohl derzeit keine Studiendaten mit einem direkten Vergleich vorliegen. Bei MS-Patienten mit einer Sehnervenentzündung, wenigen Läsionen und geringer Krankheitsaktivität hingegen bleibt es bei Betainterferon, Copaxone oder auch Teriflunomide als Erstlinientherapie. Auf jeden Fall ist die Form der Behandlung aber mit dem Patienten zu besprechen, auch die Nebenwirkungen und welche Kontrollen es braucht. Unter Daclizumab sind beispielsweise die Leberwerte zu kontrollieren. Im Vergleich zu anderen Substanzen ist die Abklärung aber einfacher. Daher ist Daclizumab eine gute Ergänzung zu den anderen Medikamenten. Wie häufig wir es in Zukunft einsetzen, lässt sich noch nicht sagen.
Daclizumab ist ein Medikament zur Behandlung von MS mit höherer Krankheitsaktivität. Im Beitrag auf Seite 19 stellen Sie Daten zur autologen hämatopoietischen Stammzelltransplantation (aHSCT) bei MS vor, einem möglichen Verfahren bei einem sehr schweren Krankheitsverlauf. Das Verfahren wird von einigen Neurologen kritisiert, weil meist Beobachtungsstudien und zudem Open-Label-Studien mit nur einem Studienarm durchgeführt wurden. Wie ordnen Sie das Verfahren in den klinischen Alltag ein?

&24 3/2017
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

Roland Martin: Die aHSCT wird seit Anfang oder Mitte der 1990er-Jahre experimentell angewendet. Es sind mittlerweile deutlich über 2000 Menschen mit MS transplantiert worden. Diese Transplantationen sind registriert und werden weiterverfolgt. In Basel sammelt die EBMT (European Group for Blood and Marrow Transplantation), in den USA das CIBMTR (Center for International Blood and Marrow Transplant Research) Daten. Beide Gruppen registrieren und protokollieren diese Fälle. Bei den Hämatologen ist die aHSCT eine absolute Standardtherapie. In der Behandlung der MS gab es in den letzten Jahren eine Reihe von publizierten Studien, in denen konsistent gezeigt wurde, dass Patienten mit einem schweren Verlauf über lange Zeit krankheitsfrei sind, das heisst keinen Schub und auch keine Läsionen haben, die im Kenspintomogramm erkennbar sind. Die Skepsis hält sich deshalb, weil diese Daten noch immer nicht ausreichend bekannt und Neurologen insgesamt damit zu wenig vertraut sind. Um die häufig erwähnten Risiken anzusprechen: Das Risiko war früher hoch. In einem 2008 in «Lancet Neurology» erschienenen Artikel wurde eine Mortalität von 7 Prozent bis ins Jahr 2000 beschrieben. Das ist ein eher hohes Risiko. In der Zeit von 2000 bis 2007 lag das Risiko bei 1,2 Prozent. Seit 2011 hat es einen Todesfall bei einer registrierten aHSCT bei MS gegeben. Das entspricht einem Risiko von ungefähr 0,3 Prozent! Dies ist für Patienten mit aggressiver MS ein akzeptables Risiko, trotzdem muss man die Patienten auf jeden Fall über dieses Risiko aufklären und auch darüber, dass es eine sehr invasive Therapie ist.
Sehen Sie in der Schweiz eine Zukunft für dieses Verfahren? Roland Martin: Von der Wirksamkeit her zeigen die Studiendaten, dass die aHSCT wirksamer ist als alles andere, was wir in der Behandlung der MS bisher einsetzen. Für Patienten mit einem aggressiven Krankheitsverlauf ist die aHSCT eine sehr gute Option, die wir in der Schweiz zur Verfügung haben sollten. Bald wird es eine internationale Zulassungsstudie geben; vermutlich wird es aber bis zum Start noch 2 bis 3 Jahre dauern. Es dauert so lange, eine derartige Studie vorzubereiten, weil soge-

nannte Zulassungsstudien sehr viel Geld kosten und öf-

fentliche Geldgeber, wie der Schweizer Nationalfonds,

solch hohe Beiträge nicht vergeben können. Für Pharma-

firmen ist die aHSCT uninteressant, da mit dieser Behand-

lung kein Geld verdient werden kann. Wir sollten aber

verhindern, dass unsere Patienten in der Schweiz in an-

dere Länder fahren und sich dort auf eigene Kosten einer

aHSCT unterziehen. Aber wie oben angesprochen: Es be-

steht grosser Bedarf an fundierten Informationen, um

dieses Verfahren noch ausführlicher bekannt zu machen.

Auch bei den monoklonalen Antikörpern hat es einige

Zeit gedauert, bis diese in der Neurologie breit eingesetzt

wurden, weil man mit dieser Art von Behandlung nicht

vertraut war. Heute sind sie selbstverständlich. Ich hoffe,

es wird ähnlich bei der aHSCT sein.

G

Sehr geehrter Herr Prof. Martin, wir bedanken uns für das Gespräch!

Das Interview führte Annegret Czernotta.

Korrespondenzadresse:
Prof. Roland Martin
Leitender Arzt
Neuroimmunologie und MS Forschung
Klinik für Neurologie
Universitätsspital Zürich
Frauenklinikstrasse 21
8091 Zürich
E-Mail: Roland.Martin@usz.ch
Referenzen: 1. Kappos L, Havrdova E, Giovannoni G, Khatri BO, Gauthier SA, Green-
berg SJ, You X, Wang P, Giannattasio G: No evidence of disease activity in patients receiving daclizumab versus intramuscular interferon beta-1a for relapsing-remitting multiple sclerosis in the DECIDE study. Mult Scler. 2016 Dec 1:1352458516683266. doi: 10.1177/ 1352458516683266. [Epub ahead of print] 2. Benedict RH, Cohan S, Lynch SG, Riester K, Wang P, Castro-Borrero W, Elkins J, Sabatella G: Improved cognitive outcomes in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis treated with daclizumab beta: Results from the DECIDE study. Mult Scler. 2017 May 1:1352458517707345. doi: 10.1177/1352458517707345. [Epub ahead of print]