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FORTBILDUNG
Bedeutung der Zahn- und Mundgesundheit für Menschen mit Demenz
Die Zahn- und Mundgesundheit ist ein Stiefkind in der Betreuung von Menschen mit einer Demenz. Dabei führt die Demenz aufgrund der beeinträchtigten Kognition zu einer schlechteren Mundhygiene und abnehmenden zahnärztlichen Betreuung mit oralen Entzündungsprozessen als Folge. Diese belasten wiederum den gesamten Organismus. Der Zahnmediziner Prof. Christian E. Besimo von der Seeklinik Brunnen betreut zusätzlich zur Arbeit in seiner Abteilung und zu Lehraufträgen in Alterszahnmedizin an den Universitäten Basel und Dresden auch demenziell erkrankte Menschen in Institutionen. Im Interview gibt er Einblick in seine Arbeit und unterstreicht die Bedeutung einer frühzeitigen Einbindung des zahnmedizinischen Teams in der Betreuung von Demenzkranken.
Christian E. Besimo
Psychiatrie & Neurologie: Wie gross ist das Problem der Mundgesundheit? Prof. Christian E. Besimo: In einer eigenen Studie dokumentierten wir, dass in einer Institution für demenzkranke Menschen (1) fast 60 Prozent der Bewohner mit noch eigenen Zähnen Karies hatten. Eine Entzündung des Zahnfleisches lag bei 85 Prozent der Bewohner vor, und Entzündungen der übrigen Mundschleimhäute, beispielswiese durch Pilzinfekte, sahen wir bei 35 Prozent. Uns alarmierten diese Daten, weil die Bewohner von einer qualitativ hochstehenden Betreuung profitierten, die auch eine regelmässige Zahn-, Mund- und Prothesenhygiene umfasste. Aber auch trotz der guten Betreuung lag der letzte Zahnarztbesuch im Durchschnitt 25 Monate zurück und im Extremfall sogar über 60 Monate. Schliesslich gehen wir heute davon aus, dass mehr als 60 Prozent der demenziell erkrankten Menschen ohne Diagnose leben und somit von keiner adäquaten – auch oralen – Therapie profitieren können.
Was macht die Versorgung bei diesen Menschen so schwierig? Christian E. Besimo: In Bezug auf die zahnärztliche Versorgung vernachlässigen Menschen mit Demenz aufgrund der krankheitsbedingt wachsenden Herausforderungen die regelmässige Kontrolle der Mundgesundheit beim Zahnarzt sowie die Dental- und eigene Mundhygiene. Zudem wird der Zahnarzt nach der Diagnosestellung Demenz in der Regel nicht in das individuell zugeschnittene Betreuungskonzept einbezogen. So vergehen oft mehrere Jahre, bis diese Menschen wieder eine zahnärztliche Betreuung erhalten, meist erst als Folge von Beschwerden oder beim Übertritt in eine Institution, die eine zahnärztliche Abklärung sowie Betreuung anbietet. In der Zwischenzeit sind aber häufig Zahn- und Munderkrankungen bereits weit fortgeschritten. Wir werden oft in Pflegeinstitutionen gerufen, weil man bei einem Bewohner Schmerzen im Mund
vermutet. In diesen Fällen liegen dann vielfach ausgedehnte kariöse Läsionen an mehreren Zähnen vor. Im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz ist eine Diagnosestellung und Behandlung aufgrund der krankheitsbedingten Veränderungen wie Abnahme der Kognition aber sehr viel schwieriger und nur noch begrenzt durchführbar.
Was fördert Karies oder Paradontitis bei demenziell erkrankten Menschen? Christian E. Besimo: Durch die Demenz verändert sich das Geschmacksempfinden. Viele Betroffene nehmen vermehrt kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel zu sich, weil unter anderem die Empfindung für Süsses am längsten erhalten bleibt. Dies begünstigt die Entstehung von Karies. Zudem lässt insgesamt die Pflege der Zähne und der Mundschleimhäute nach, weil man sie vergisst, nicht mehr kann oder die Zahnpflege auch ablehnt, indem diese unbewusst als Übergriff erfahren wird. Die krankheits- und medikamentenbedingte Xerostomie erhöht die Kariesaktivität ebenfalls deutlich.
Welche gesundheitlichen Konsequenzen haben kariöse Zähne und/oder Zahnfleischentzündungen? Christian E. Besimo: Die Betroffenen essen aufgrund von Schmerzen weniger oder anders. Fleisch kann zum Beispiel nicht mehr gut gekaut werden. Zudem wissen wir aufgrund von Untersuchungen, dass orale Infektionskrankheiten wie Paradontitis auch systemische Auswirkungen haben können. So erhöht sich das Risiko für kardiale und zerebrovaskuläre Erkrankungen und von Atemwegserkrankungen. Zudem beeinflussen sich Parodontitis und rheumatische Arthritis bzw. Diabetes mellitus gegenseitig. So kann ein Diabetes-Typ-II bei gleichzeitig bestehender Parodontitis schlechter einstell- und behandelbar sein. Weiter wird die paradontale Entzündung als mitverursachender Faktor für Alzheimer-Demenz diskutiert. Experimentelle Daten weisen sogar
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darauf hin, dass eine instabile gegenseitige Abstützung der Zahnreihen beeinträchtigende Auswirkungen auf die Gangsicherheit haben kann. Auch die kognitive Leistung scheint durch eine reduzierte Kauleistung negativ beeinflusst zu werden. Insgesamt wird die Verschlechterung des Allgemeinbefindens von Menschen mit Demenz durch orale Entzündungsprozesse stark unterschätzt (2–10).
Hat es denn überhaupt genügend Zahnärzte, die sich auf die Versorgung von dementen Menschen spezialisiert haben? Christian E. Besimo: Es gibt aus meiner Sicht nicht genügend Zahnärzte, die sich in ausreichender Weise auf die Behandlung von demenziell erkrankten Menschen vorbereitet haben. Die Behandlung dieser Menschen ist sehr herausfordernd. Zudem sind Zahnärzte und ihre Teams nicht ausreichend darauf trainiert, Anzeichen kognitiver Beeinträchtigung frühzeitig wahrzunehmen und das individuelle Betreuungskonzept multidirektional den sich laufend verändernden Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer betreuenden Personen anzupassen. Diesbezügliche Aus- und Weiterbildung in allen mit Demenz befassten Fachbereichen tut not!
Welche zahnärztlichen Behandlungen sind bei demenziell erkrankten Menschen denn überhaupt noch sinnvoll? Christian E. Besimo: Zu validieren, was im Einzelfall sinnvoll und möglich ist, setzt interdisziplinäre Vernetzung sowie Zusammenarbeit voraus und ist vielfach schwierig und herausfordernd. Je fortgeschrittener die Demenzerkrankung ist, desto ausgeprägter ist die Einschränkung der funktionellen Adaptations- und Lernfähigkeit bei oralen Veränderungen. Deshalb stehen minimalinvasive therapeutische Interventionen im Vordergrund, die vorzugsweise in kleinen Schritten durchgeführt werden. So können kariöse Läsionen mit Silbernitrat inaktiviert werden, ohne dass die Entfernung von Zähnen notwendig wird.
Ist es sinnvoll, alle kariös befallenen Zähne zu entfernen? Was sind die Konsequenzen? Christian E. Besimo: Man muss sich bewusst sein, dass ein solcher Eingriff äusserst invasiv ist und bei Menschen mit Demenz, insbesondere bei nicht mehr möglicher rationaler Verarbeitung einer solchen Intervention, schwerwiegende Konsequenzen für das Wohlbefinden haben kann. Denn auch wenige Zähne verbessern die Kauleistung, den Schluckakt und das Sprechen. Vor therapeutischen Entscheidungen validieren wir gemeinsam mit den Pflegenden das Verhalten der Betroffenen sorgfältig. Ist beispielsweise das Essverhalten unauffällig und der Teller nach den Mahlzeiten leer, sind wir mit Eingriffen, die die oralen Funktionen verändern, sehr zurückhaltend.
Was haben Sie für die Zukunft geplant, um die Zahnver-
sorgung demenziell erkrankter Menschen zu verbes-
sern?
Christian E. Besimo: Interdisziplinärer Austausch, wie er
in der Lehre heute an allen vier Universitätskliniken der
Schweiz gepflegt wird, ist äusserst wirksam. In der Wei-
terbildung fehlt nicht so sehr das Angebot als vielmehr
die Nachfrage und die interdisziplinäre Vernetzung zwi-
schen den an der Betreuung von Demenzkranken
beteiligten Berufsgruppen, Institutionen und Organisa-
tionen. Die Schweizerische Zahnärztegesellschaft (SSO)
und die Schweizerische Gesellschaft für Alters- und Spe-
cial Care-Zahnmedizin (SSGS) stellen Listen mit spezia-
lisierten Zahnärzten zur Verfügung, die angefordert
werden können.
Eine Intensivierung der interdisziplinären Zusammen-
arbeit zwischen Haus- und Zahnärzten, geriatrischen
Fachärzten und Memory-Kliniken ist aber noch dringend
notwendig. Entscheidend ist der Moment der Diagno-
sestellung. Der Zahnarzt soll oder muss in das individuell
zugeschnittene Betreuungskonzept miteinbezogen
werden. Selbst bei frühen Anzeichen kognitiver Beein-
trächtigung sollte der Zahnarzt an den regelmässigen
Kontrollen beteiligt werden, um rechtzeitig präventive
Massnahmen ergreifen zu können.
G
Kasten:
Mundpflege bei demenziell erkrankten Menschen in den Institutionen
Einfache therapeutische Massnahmen können direkt in der Institution erfolgen, wie zum Beispiel die Inaktivierung kariöser Läsionen mit Silbernitrat. Dentalhygienikerinnen und/oder die Prophylaxeassistentinnen können dort nach zahnärztlicher Verordnung auch Zahnreinigungen durchführen oder Zähne und das Parodont durch Applikation von hoch konzentrierten Fluorid- beziehungsweise Chlorhexidinlacken schützen. Sie unterstützen zudem die Pflegenden bei der Etablierung einer gewissenhaften Reinigung der Zähne und der Mundschleimhäute mindestens einmal pro Woche mit hoch fluoridhaltiger Zahnpasta (5 mg/g Paste), wenn dies einmal täglich nicht möglich ist. Abnehmbarer Zahnersatz sollte einmal täglich mit pH-neutraler Seife gereinigt und nach jeder Mahlzeit abgespült werden. Abnehmbare Prothesen werden nachts besser nicht getragen und sollten dann zur Desinfektion trocken gelagert werden. Dabei werden auch Bakterienbeläge deutlicher sichtbar und können gezielter entfernt werden. Wenn die Möglichkeit besteht, lohnt es sich, abnehmbaren Zahnersatz mit Initialen und Geburtsdatum des Bewohners zu beschriften.
Sehr geehrter Herr Prof. Besimo, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo Chefarzt Orale Medizin/Zahnarztpraxis
Seeklinik Brunnen AG Gersauerstrasse 8 6440 Brunnen
E-Mail: Christian.Besimo@seeklinik-brunnen.ch Internet: www.seeklinik-brunnen.ch
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Referenzen:
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