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FORTBILDUNG
Neue Trends
Akzeptanz- und Commitment-Therapie im stationären psychiatrischen Setting
Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie bietet einen neuartigen Paradigmenwechsel weg von der symptombezogenen Störungsklassifikation mit dem vordergründigen Ziel der Symptomreduktion hin zu einem transdiagnostischen Krankheitsverständnis und Therapierational. Der Fokus liegt auf der Förderung psychologischer Flexibilität unter anderem durch achtsame Akzeptanz und engagiertes wertorientiertes Verhalten. Dieser Ansatz bietet sich insbesondere für chronifizierte und sogenannte therapieresistente Störungsbilder an, auf deren Behandlung sich die Abteilung Verhaltenstherapie stationär der Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel in den letzten Jahren spezialisiert hat.
Christine Bratschi Charles Benoy
von Christine Bratschi1 und Charles Benoy2
Akzeptanz- und Commitment-Therapie
D ie Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist ein Verfahren der sogenannten dritten Welle der Verhaltenstherapie. Sie erweitert klassische kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzepte (z.B. Lerntheorie, Veränderungsfokus oder operante Verfahren), indem ein weiterer Fokus auf Fertigkeiten der Achtsamkeit und der Akzeptanz gelegt wird. ACT gilt als die am besten empirisch unterstütze Therapie der dritten Welle (1). Sie bricht mit der üblichen Problem-, Störungs- und Symptomorientierung und stellt dieser ein transdiagnostisches Störungsverständnis und Therapiemodell, basierend auf einer werte-, akzeptanz- und achtsamkeitsorientierten Vorgehensweise, gegenüber (2). Vereinfacht gesagt, handelt es sich bei der ACT um ein Training basaler Fertigkeiten zur Erhöhung der psychologischen Flexibilität. Das Konzept der psychischen Flexibilität beschreibt die «Fähigkeit, als bewusster Mensch in umfassender Weise zum gegenwärtigen Augenblick in Kontakt zu treten, wobei das Verhalten, jeweils der konkreten Situation entsprechend, entweder beibehalten oder verändert wird, um als wertvoll eingeschätzte Ziele zu erreichen» (3). Die ACT konstituiert sich aus sechs gesundheitsförderlichen Fertigkeiten beziehungsweise Prozessen, denen jeweils ein nicht förderlicher Pol gegenübergestellt werden kann, die sogenannten pathologischen Prozesse. Diese sechs Prozesse werden als interagierende Faktoren angesehen. Sie beeinflussen sich wechselseitig und sind inhaltlich verbunden, weswegen sie in Form eines Hexagons dargestellt werden, des sogenannten Hexaflex. Daraus ergeben sich somit zwei Hexaflexe, einerseits das Hexaflex der sechs pathologischen Prozesse, welche ausschlag-
1 M. Sc. Christine Bratschi, Psychologin 2 M. Sc. Charles Benoy, Leitender Psychologe, Abteilung Verhaltenstherapie stationär, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
gebend für psychische Inflexibilität sind und zu psychischem Leiden führen (Abbildung 1), und andererseits das Hexaflex, das diesem sechs Fertigkeiten gegenüberstellt, welche die psychische Flexibilität fördern und ein wertvolles und erfülltes Lebens ermöglichen (Abbildung 2). Diese letzteren sechs Kernkompetenzen der ACT sollen im Folgenden kurz umschrieben werden, eine ausführlichere Darstellung mit konkreten therapeutischen Förderungsansätzen und Vorgehensweisen sowie Interventionsbeispielen ist Benoy, Bader und Schumann (2015) zu entnehmen (4).
Die sechs Kernkompetenzen, die im ACT-basierten psychotherapeutischen Prozess gefördert werden: 1. Akzeptanz und Bereitschaft ist die Fähigkeit, sich
auch für schmerzhafte Gefühle und Gedanken zu öffnen, ohne diese zu bekämpfen oder zu beeinflussen. Sie beschreiben eine Haltung der Offenheit, der Gegenwartsorientierung, des Mitgefühls, der Güte und der Bereitschaft in Bezug auf die eigenen Erfahrungen. 2. Kognitive Defusion beschreibt die Fähigkeit, sich aus der Verstrickung mit Gedanken und Gefühlen zu lösen, Gedanken nicht als Tatsachen anzusehen und folglich die direkte Reizfunktion von Gedanken auf das konkrete Handeln bewusst zu kontrollieren. 3. Achtsamkeit beziehungsweise das Im-Hier-undJetzt-präsent-Sein ist die Fertigkeit, die eigene Aufmerksamkeit bewusst auf den gegenwärtigen Moment zu richten und in der jetzigen Situation präsent zu sein. Dies bedeutet, sich nicht in vergangenen oder zukunftsgerichteten Konzeptualisierungen oder Befürchtungen zu verlieren, sondern die eigene Aufmerksamkeit bewusst auf das zu lenken, was gerade passiert, und dies wahrzunehmen, ohne es zu bewerten. 4. «Selbst als Kontext» oder «Beobachter-Selbst» beschreibt die Fähigkeit zum flexiblen, auf sich selbst gerichteten Perspektivenwechsel. Dabei geht es vor allem um das konzeptualisierte Selbst, also um alle
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Abbildung 1
Abbildung 2
Überzeugungen, Gedanken, Vorstellungen, Annahmen, Erinnerungen, Gefühle über sich selbst. Im Gegensatz zum rigiden Festhalten an einem starren Selbstkonzept fördert der Prozess «Selbst als Kontext» stattdessen die Fähigkeit, solche Konzeptualisierungen zu beobachten und wahrzunehmen, um weiterführend, über einen Perspektivenwechsel, einen flexibleren Umgang mit diesen zu ermöglichen. 5. Der Prozess Werte ist die Fertigkeit, sich für frei gewählte Lebensziele, an denen wir unser Verhalten ausrichten wollen, zu entscheiden und mit ihnen im Kontakt zu sein, das heisst, auch in schmerzhaften Situationen das eigene Handeln nach diesen längerfristigen Werten auszurichten (ausführliche Darstellung in [5]). 6. Engagiertes Handeln ist die Fähigkeit zum engagierten, entschlossenen und persistenten Handeln in Richtung wertebezogener Ziele.
Die Förderung der sechs Kernkompetenzen findet in der ACT überwiegend mithilfe von erlebnisorientierten Techniken, Metaphern, Paradoxien (Bewusstsein für widersprüchliche Regeln, wie z.B. etwas kontrollieren zu wollen, was nicht kontrollierbar ist) sowie einer intensiven therapeutischen Beziehungsgestaltung statt, wobei der zentrale Fokus auf die konkrete, neu nach eigenen Werten orientierte Verhaltensänderung gelegt wird. Die Kernkompetenzen werden nicht in einer festgelegten Reihenfolge abgearbeitet, sondern im therapeutischen Prozess je nach Gegebenheit und Bedürfnis des Patienten flexibel durch den Therapeuten eingebracht, vermittelt und gefördert (ausführliche Beschreibung in [4]).
Die Umsetzung von ACT im stationären psychiatrischen Setting Aufgrund diverser störungsspezifischer und -unspezifischer Aspekte ist eine ambulante psychiatrische und/oder psychotherapeutische Behandlung gegebenenfalls nicht ausreichend, weshalb fall- und patientenbezogen eine Indikation für eine intensivere und umfänglichere stationäre Behandlung mit hochfrequenter therapeutischer Begleitung indiziert ist (siehe weitere Ausführungen bzgl. der Indikation einer stationären Behandlung in [6]).
Die Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel haben diesbezüglich 2012 eine Voreiterrolle eingenommen und als erste deutschsprachige Klinik überhaupt ACT als therapeutische Grundorientierung für eine ihrer psychotherapeutischen Abteilungen gewählt: die Abteilung Verhaltenstherapie stationär (VTS). Für ACT spricht nicht nur das transdiagnostische und wissenschaftlich fundierte Ätiologie- und Behandlungsmodell, das breite, flexibel handhabbare und primär auf die Förderung von Kernkompetenzen fokussierte Methodenspektrum, sondern auch die übergreifende Anwendbarkeit auf die verschiedenen stationären Behandlungskontexte. Das Stationskonzept sieht vor, dass alle an der Behandlung eines Patienten Beteiligten von einem gemeinsamen ACT- Fallkonzept ausgehen und im Rahmen ihrer Betreuungs- und Therapieangebote einen Beitrag zur Förderung der sechs Kernkompetenzen leisten. Alle Mitarbeitenden des multidisziplinären Teams (Psychologen, Ärzte, Pflegefachpersonen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten u.a.) sind in die ACT eingeführt und werden fortlaufend weiterqualifiziert. Stationsinterne Dienstübergaben, Fallbesprechungen, Inter- und Supervisionen orientieren sich an den ACT-Prinzipien. Dies ist essenziell, damit alle am therapeutischen Prozess beteiligten Fachpersonen dem Patienten gegenüber die «gleiche Sprache» sprechen und somit ein umfassendes Störungs- und Therapieverständnis ermöglichen. In täglichen transdiagnostischen psychotherapeutischen Gruppentherapien werden die sechs zentralen Grundfertigkeiten nach ACT vermittelt. Die transdiagnostische Herangehensweise ermöglicht eine Übertragung über die eigenen Symptombereiche hinaus, vermittelt ein allgemeines Wissen bezüglich der Förderung psychischen Wohlbefindens, wirkt entstigmatisierend und ermöglicht einen maximalen Austausch zwischen Patienten. Zudem ermöglicht es eine rasche eigene Bezugnahme und fördert über das transdiagnostische Modell ein maximales Krankheitsverständnis und eine maximale Krankheitseinsicht. In mehrmals wöchentlich stattfindenden Einzeltherapien werden die sechs Prozesse vertieft und auf die konkreten Problembereiche des Patienten übertragen. In pfle-
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Fallbeispiele:
G Der 38-jährige ledige Patient, Herr A., welcher zur Behandlung einer seit mehr als 20 Jahren bestehenden chronifizierten Zwangsstörung in Form von Kontrollund Ordnungszwängen an die Abteilung VTS der UPK Basel überwiesen wurde, wünschte sich in unserem Setting vor allem, den eigenen Handlungsspielraum und Bewegungsradius ausweiten zu können. Er schien hauptsächlich von den ACT-Prozessen kognitive Defusion und Achtsamkeit profitiert zu haben. Dies ermöglichte es ihm, Zwangsgedanken achtsam wahrzunehmen, diese als solche zu erkennen und zu benennen sowie deren direkten Einfluss auf sein Verhalten zu reduzieren. Er schaffte es, Gedanken nicht mehr ausschliesslich als Tatsachen anzusehen, sondern sich flexibel von Gedankeninhalten zu lösen, wenn dies einem wertorientierten Handeln entsprach.
G Die 56-jährige verheiratete Frau B. wurde zur Behandlung eines seit fünf Jahren bestehenden Schmerzsyndroms mit im Vordergrund stehenden Rückenschmerzen sowie Migräneanfällen von ihrem Hausarzt in unser Setting überwiesen. Nach eigenen Angaben fühle sie sich durch die Schmerzen in ihrem Alltag zunehmend belastet, eingeschränkt und ohnmächtig. Im Laufe der Behandlung schien sich vor allem der Wertebezug (Werte und engagiertes Handeln) günstig auf ihre Selbstwirksamkeitserfahrung und ihre subjektiv empfundene Belastung ausgewirkt zu haben. Sie lernte, ihre Energie nicht mehr auf den Kampf gegen den Schmerz zu lenken, sondern ihre Ressourcen gezielt und zunehmend persistent für selbst gewählte Lebensziele einzusetzen. Der Perspektivenwechsel weg vom Symptom hin zu Werten und Ressourcen schien sowohl entstigmatisierend als auch kompetenz- und motivationsfördernd zu wirken und einen positiven Effekt auf das Selbstbild und die Selbstsicherheit von Frau B. zu haben.
Merkpunkte:
G Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) erweitert klassische kognitivverhaltenstherapeutische Konzepte, indem ein weiterer Fokus auf Fertigkeiten der Achtsamkeit und der Akzeptanz gelegt wird.
G Insgesamt werden sechs Kernkompetenzen im ACT-basierten psychotherapeutischen Prozess gefördert: Akzeptanz und Bereitschaft, kognitive Defusion, Achtsamkeit, «Selbst als Kontext», Werte, engagiertes Handeln.
G Diese Förderung findet überwiegend mithilfe von erlebnisorientierten Techniken, Metaphern, Paradoxien sowie einer intensiven therapeutischen Beziehungsgestaltung statt, wobei der zentrale Fokus auf die konkrete, neu nach eigenen Werten orientierte Verhaltensänderung gelegt wird.
G Im stationären Setting ist ACT bei schweren, komplexen und chronifizierten Angststörungen, Zwangsstörungen, Depressionsstörungen und somatoformen Störungen wirksam, aber auch bei deutlichen sozialen Kompetenzdefiziten oder ausgeprägtem Vermeidungsverhalten im Rahmen anderer psychischer Störungen.
gerischen Bezugspersonengesprächen werden die Patienten weiterführend darin unterstützt, die Grundfertigkeiten im Alltag anzuwenden und ein engagiertes lebenszielorientiertes Handeln im stationären Alltag und Zusammenleben zu entwickeln. Die Patienten werden unterstützt und gegebenenfalls dabei begleitet, problembezogene (z.B. angstauslösende) Situationen aufzusuchen, wobei die klassischen Konfrontationsverfahren, welche sich in der Verhaltenstherapie als besonders wirksam erwiesen haben, ebenfalls in nach ACT modifizierter Form eingesetzt werden. Das Stationsprogramm wird durch diverse Gruppenangebote ergänzt, welche die psychische Flexibilität ebenfalls fördern: the-
rapeutische Singgruppe, Meditations- und Bewegungs-
gruppe, Gestaltungstherapie, Basic-Body-Awareness-
Gruppe,
Yoga,
Aromatherapie
sowie
milieutherapeutische Kochgruppe. Alle Angebote ori-
entieren sich an den beschriebenen ACT-Prozessen und
ergänzen sich wechselseitig.
Bereits vor Eintritt, im Rahmen des Indikationsgesprä-
ches, werden die Patienten mit den Prinzipien und The-
rapieinhalten der Station vertraut gemacht und anhand
eines schriftlichen Leitfadens auf ihren Aufenthalt vor-
bereitet.
Die Abteilung VTS hat sich dabei auf die Behandlung
folgender Störungsbilder spezialisiert:
G schwere, komplexe und chronifizierte Angststörun-
gen
G schwere und chronifizierte Zwangsstörungen
G chronische, therapieresistente oder rezidivierende
Depressionsstörungen
G somatoforme Störungen.
Zusätzlich erweist sich eine Behandlung auf der Abtei-
lung VTS bei deutlichen sozialen Kompetenzdefiziten
oder ausgeprägtem Vermeidungsverhalten im Rahmen
anderer psychischer Störungen als indiziert. Um ein
möglichst flexibles, situations- und patientenangepass-
tes sowie therapeutisches Setting anbieten zu können,
wurde das Angebot der Abteilung VTS mit der Möglich-
keit eines teil- beziehungsweise tagesstationären Set-
tings ergänzt.
Das stationäre ACT-Konzept der Abteilung VTS wird
zudem in einer durch den schweizerischen National-
fonds geförderten Begleitstudie wissenschaftlich evalu-
iert. Hierzu werden zusätzlich zu Prä-, Post- und
Follow-up-Messungen wöchentliche Selbst- und Fremd-
ratings durchgeführt, um Veränderungen auf der Pro-
zess- und der Symptomebene zu registrieren. Neben
der Beurteilung der Effektivität soll festgestellt werden,
ob und vor allem wie sich die sechs ACT-Fertigkeiten
während der Therapie tatsächlich verbessern und ob
diese Veränderungen entscheidend zur Linderung des
Leidens und zur Verbesserung der Lebensqualität bei-
tragen, wie es das ACT-Störungsmodell vorhersagt. G
Korrespondenzadresse:
M.Sc. Charles Benoy
Leitender Psychologe
Verhaltenstherapie stationär VTS
Zentrum für spezielle Psychotherapie
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27
4002 Basel
E-Mail: Charles.Benoy@upkbs.ch
Literatur:
1. Hayes, S. C., Masuda, A., Bissett, R., Luoma, J., Guerrero, L. F: DBT, FAP, and ACT: How empirically oriented are the new behavior therapy technologies? Behavior Therapy, 2005; 35(1), 35–54.
2. Hayes, S. C., Strosahl, K. D., Wilson, K. G. (1999). Acceptance and commitment therapy: An experiential approach to behavior change. Guilford Press.
3. Luoma, J., Hayes, S. C., Walser, R. D. (2009). ACT-Training: Handbuch der Acceptance & Commitment Therapie. Ein Lernprogramm in zehn Schritten. Paderborn: Junfermann Verlag GmbH.
4. Benoy, C., Bader, K., Schumann, I: Akzeptanz- und Commitment-Therapie: Ein transdiagnostischer Ansatz. PSYCH up2date, 2015; 9(04), 237–255.
5. Benoy, C., Schumann, I: Werte und Ziele in der Therapie von Patienten mit Zwangsstörungen. Leading Opinions Neurologie & Psychiatrie, 2014; 6, 42–45.
6. Benoy, C., Schumann, I: Behandlung von Zwangserkrankungen: Zur Indikation eines stationären Settings. Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie und Neurologie, 2015; (4), 13–15.
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