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Multiple Sklerose: Eskalation versus Induktion
Im Rahmen der zunehmenden Vielfalt immuntherapeutischer Möglichkeiten der Multiplen Sklerose (MS) werden derzeit verschiedene Therapiestrategien wie die Induktions- versus eine Eskalationstherapie diskutiert. In diesen unterschiedlichen Konzepten kumulieren pathophysiologische Überlegungen sowie Nutzen-Risiko-Abwägungen, da hochaktive Therapeutika zum Teil mit schweren Nebenwirkungen assoziiert sein können. Im folgenden Artikel werden die zugrunde liegende Rationale und die Evidenz für die unterschiedlichen Strategien beleuchtet. Im klinischen Alltag spielen jedoch häufig weniger strategische Entscheidungen eine Rolle als eine Abwägung individueller Substanzen in Abhängigkeit von der jeweiligen Patientensituation.
Robert Hoepner Anke Salmen Andrew Chan
Robert Hoepner1, Anke Salmen1, Andrew Chan
Einleitung
I n Ermangelung kurativer Therapieansätze zielt die sogenannte verlaufsmodifizierende Immuntherapie der MS auf eine Verhinderung künftiger Krankheitsaktivität sowie der Akkumulation von Behinderung ab. In den ersten Jahren dieses Jahrtausends hat sich die frühzeitige prophylaktische Immuntherapie, teilweise bereits nach einem ersten Krankheitsschub, durchgesetzt. Ein substanzieller Anteil der mit Erstlinienmedikamenten behandelten Patienten kann allerdings über die Zeit sowohl klinisch als auch paraklinisch (Magnetresonanztomografie, MRI) weitere Krankheitsaktivität erleiden (1). In solchen Situationen wurde bis vor einiger Zeit unter anderem in den deutschsprachigen Leitlinien das Konzept der Eskalationstherapie verfolgt (2). Hiermit ist der Einsatz potenziell wirksamerer Medikamente erst nach Versagen von sogenannten Erstlinienmedikamenten gemeint. Im Gegensatz hierzu beschreibt das Konzept der Induktionstherapie den Einsatz eines hochpotenten Medikamentes, welches potenziell wie auch substanziell und langfristig in das Immunsystem eingreift, früh im Erkrankungsverlauf, gegebenenfalls auch ohne Vortherapie («hit hard and early»).
Rationale und Evidenz der unterschiedlichen Strategien Obwohl das Konzept der Eskalationstherapie inhärent davon ausgeht, dass einige Substanzen anderen Medikamenten über- beziehungsweise unterlegen sind, lag
initial kaum eine hochgradige Evidenz in Form direkter Vergleichsstudien vor (3). So existierten für die ersten sogenannten Eskalationstherapeutika Mitoxantron (Mitoxantron® Sandoz, Novantron®) und später Natalizumab (Tysabri®) im deutschsprachigen und europäischen Raum vor allem plazebokontrollierte Studien. Daher war letztlich auch die Zulassung dieser Substanzen als Eskalationstherapeutika bei aktiver MS und Versagen der Erstlinienmedikamente wie Interferon (z.B. Avonex®, Betaferon®, Plegidry®, Rebif®) oder Glatirameracetat (Copaxone®, Glatiramer-Mepha®, Glatiramyl®) in besonderen Risikoabwägungen für diese Substanzen begründet. Erst 2011 wurde für Fingolimod (Gilenya®) in einer direkten Vergleichsstudie mit dem intramuskulär applizierten Interferon-beta 1a eine zusätzliche Reduktion der Krankheitsaktivität demonstriert. Im weiteren Verlauf folgten eine Reihe weiterer zulassungsrelevanter Studien, die beispielsweise für Alemtuzumab (Lemtrada®), Daclizumab (Zinbryta®*) und Ocrelizumab eine Überlegenheit gegenüber aktiven Kontrollen (Interferon beta 1a i.m. oder s.c.) zeigten. Obwohl das Konzept der Induktionstherapie rezent wieder in den Blickpunkt des Interesses gerückt ist, ist es nicht notwendigerweise an neuere Substanzen, wie zum Beispiel Biologicals, gebunden. So wurde beispielsweise bereits für das Anthracendion Mitoxantron, welches langjährig in der MS in Gebrauch ist, der Vorteil einer Induktionstherapie belegt. Demonstriert wurde in einer italienisch-französischen Studie die klinische Überlegenheit einer 6-maligen Gabe von Mitoxantron jeweils im Abstand von 4 Wochen und danach Interferon-beta 1b gegenüber einer ausschliesslicher Interferontherapie von Beginn an (4). Zuvor wurde empirisch für das Mitoxantron eine das Therapieende
1 Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Universitätspital Bern.
* Zulassung in der Schweiz seit diesem Jahr vorliegend.
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überdauernde klinische Wirksamkeit beschrieben, die hypothetisch unter anderem auch auf die lange Gewebehalbwertszeit der Substanz zurückzuführen ist. In der aktuellen Diskussion des Konzeptes der Induktionstherapie nimmt der Wirkmechanismus depletierender Antikörper eine zentrale Rolle ein. So sind für den monoklonalen Antikörper Alemtuzumab (anti CD52) für einen Grossteil der Patienten auch nach Ende der 2-jährigen aktiven Therapiephase anhaltende klinische und paraklinische Effekte beschrieben. Diese werden darauf zurückgeführt, dass auf die Depletion vor allem CD52tragender Lymphozyten eine Repopulation mit Zellen eines deutlich veränderten immunologischen Phänotyps folgt (5). Verschiedene Daten deuten darauf hin, dass ein solches Wirkprinzip relativ früh während der Erkrankung eingesetzt den grössten Nutzen entfalten kann. Epidemiologische Arbeiten zeigen auf, dass die Dynamik der Behinderungsprogression in den frühen Behinderungs-/Krankheitsstadien besonders hoch ist und während dieser Phase einer Immuntherapie besonders zugänglich sein könnte. Demgegenüber scheint es ab einem bestimmten hypothetischen Schwellenstadium zu einer relativ gleichartigen Behinderungsprogression zu kommen (6). Dies wird mit einem Überwiegen neurodegenerativer, einer Immuntherapie schwer zugänglicher Mechanismen erklärt. Ein solches therapeutisches «Window of Opportunity» wurde rasch für das Alemtuzumab postuliert, nachdem gezeigt werden konnte, dass chronische Verläufe kaum durch die Substanz beeinflusst werden (7). Spätere zulassungsrelevante Studien fokussierten im Folgenden auf relativ frühe Erkrankungsstadien. Ein solchermassen theoretisch möglicher Einsatz als «Induktionstherapeutikum» widerspiegelt sich auch in der offenen Zulassung des Alemtuzumab im EMA-Raum, die auch den potenziellen Einsatz als Erstlinienmedikament bei Aktivität einer schubförmigen MS umfasst. Im Gegensatz dazu ist das Medikament durch die FDA aufgrund dortiger NutzenRisiko-Abwägungen erst bei Versagen anderer Therapieoptionen zugelassen, also im Sinne einer Eskalationsstufe. Dieses und andere Beispiele (wie beispielsweise auch beim Daclizumab) illustrieren besonders die teilweise regional unterschiedlichen Nutzen-Risiko-Abwägungen für neuere Substanzen – sogar durch Zulassungsbehörden.
Herausforderungen und Limitationen Eine wesentliche Herausforderung für beide Therapiestrategien ist die geeignete Weise, Krankheitsaktivität zu erfassen. Das Konzept «No Evidence of Disease Activity» (NEDA) zielt sowohl auf die klinische (Schübe oder Behinderungsprogression) als auch die paraklinische Krankheitsaktivität (MRI-Progress) ab, welche jeweils mit einer ungünstigen Prognose assoziiert sind (8). Allerdings sind diese Parameter nur unzureichend und erfassen verschiedene relevante klinische und paraklinische Aspekte nicht. Weder neuropsychologische und/oder kognitive Defizite oder die Lebensqualität werden miteinbezogen noch weitere MRI-Marker mit klinischer Relevanz, wie die spinale MRI-Last oder die Hirnatrophie. Auch ist unklar, ob allen Elementen des NEDA-Konzepts die gleiche Wertigkeit zukommt, oder ob es einen residuellen Grad an Aktivität gibt, der zum Beispiel bildgebend toleriert werden kann (9). Aufgrund
der teilweise hochgradig unterschiedlichen Wirkmechanismen mag diese hypothetische, residuell tolerierbare Aktivität auch substanzspezifisch sehr unterschiedlich sein. Daneben sind Therapiesequenzen sowohl für eine «Eskalation» als auch eine «Deeskalation» – zum Beispiel nach einer Induktionstherapie – aufgrund der mannigfaltigen Substanzen und potenzieller immunologischer Interaktionen zunehmend verkompliziert. Wesentlich ist auch das Nebenwirkungspotenzial der eingesetzten Substanzen, wobei insbesondere Langzeitnebenwirkungen der chronischen Immuntherapie relevant sind. Zu unterscheiden ist zwischen Nebenwirkungen, die aus dem Wirkmechanismus der Substanz selber abzuleiten sind (z.B. Kardiotoxizität bei Mitoxantron), und Nebenwirkungen, die zuvor nicht antizipiert wurden. So folgte die Entwicklung verschiedener monoklonaler Antikörper dem Wunsch nach einer «magic bullet», die hochspezifisch in relevante Pathomechanismen eingreift, aber andere Mechanismen, die mit Nebenwirkungen assoziiert sind, unangetastet lässt. Das Auftreten der letztlich nicht pathogenetisch geklärten progressiven multifokalen Leukenzephalopathie unter Natalizumab oder der sekundären Autoimmunerkrankungen bei Alemtuzumab sind ein Beweis dafür, dass viele der Mechanismen bis heute unverstanden sind.
Schlussfolgerung Die neu aufgeflammte Diskussion um die autologe hämatopoietische Stammzelltransplantation (AHSTC) widerspiegelt ebenfalls einige der Aspekte der Diskussion um die verschiedenen Therapiekonzepte. So steht eine in einigen Fällen lange überdauernde Stabilität bis Besserung einem nennenswerten periprozeduralen Risiko mit Mortalität gegenüber. Dabei scheinen eher frühere aktive Stadien einen grösseren Nutzen aufzuweisen. Eine abschliessende Bewertung im Sinne einer Studie nach höchsten Qualitätskriterien ist diesbezüglich bis anhin nicht vorliegend. Neuere Daten deuten eine immuntherapeutische Behandelbarkeit auch späterer oder chronisch progredienter Stadien an. So konnten für den monoklonalen Antikörper Ocrelizumab in einer zulassungsrelevanten Phase-III-Studie erstmalig auch positive Therapieeffekte bei der primär chronisch progredienten MS gezeigt werden (12). Kürzlich wurde das Medikament unter dem Handelsnamen Ocrebus auch durch die FDA in dieser Indikation sowie für die schubförmige MS zugelassen. Eine Entscheidung für die Schweiz wird zeitnah erwartet. Daneben wurden auch positive Phase-III-Studien-Daten zu Siponimod bei sekundär chronisch progredienter MS berichtet (13). Hierbei handelt es sich um eine Weiterentwicklung des oralen Fingolimod. Aufgrund dieser und histopathologischer Befunde ist die strikte Dichotomie des «Zwei-Phasen-Modells» nicht unumstritten (10). Eine Behandelbarkeit auch späterer Stadien im Sinne eines Eskalationsansatzes wird durch Daten unserer Gruppe angedeutet. So sprechen neurokognitive Defizite bei sekundär chronisch progredienter MS auf eine Therapie mit Mitoxantron an (11), wobei das Ansprechen mit stärkeren immunsuppressiven Effekten assoziiert war. Im klinischen Alltag spielen individuelle, am spezifischen Nutzen-Risiko-Profil bezüglich der Substanz, aber auch des Krankheitsverlaufes orientierte Therapiestra-
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tegien die tragende Rolle. Bessere prognostische
Marker, auch Biomarker zu Ansprechen und Nebenwir-
kungen von Medikamenten, könnten die klinische
Entscheidung einer Therapiestrategie im Sinne einer Es-
kalation versus Induktion massgeblich erleichtern. Kan-
didaten wie zum Beispiel MRI-basierte Parameter oder
Neurofilamente sind vielversprechend, leider aber bis
jetzt kaum im klinischen Alltag anwendbar.
G
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Andrew Chan
Stv. Chefarzt Leiter ambulantes Neurozentrum
Leiter neurologische Poliklinik Freiburgstrasse 4, 3010 Bern
E-Mail: andrew.chan@insel.ch
Merkpunkte:
Eskalationstherapie: G Strategie: Früher Therapiebeginn mit einem
«milden» Medikament und anschliessende Umstellung auf ein hochaktives Präparat. G Herausforderung: Monitoring der Patienten, um den Zeitpunkt für die Umstellung nicht zu verpassen. G Problem: Im Fall der zu späten Therapieeskalation insuffiziente Therapie mit Krankheits- und Behinderungsprogress.
Induktionstherapie: G Strategie: Induktion mit einem hochaktiven
Präparat, gegebenenfalls mit anschliessender «Deeskalation». G Herausforderung: Präzise Selektion der Patienten anhand von Risikofaktoren für einen aggressiven Erkrankungsverlauf. G Problem: «Übertherapie»mit potenziell bedrohlichen Nebenwirkungen.
Interessenkonflikte:
Dr. Robert Hoepner hat Kongress- und Forschungsunterstützung von Novartis und Biogen erhalten.
Dr. Anke Salmen hat persönliche Kompensationen als Sprecherin von Almirall, Novartis, Sanofi, Merck und Roche erhalten.
Prof. Dr. med. Andrew Chan hat persönliche Kompensationen als Sprecher/Advisory-Board-Mitglied sowie Forschungsunterstützung von Bayer, Biogen, Genzyme, Merck, Novartis, Roche, Teva und UCB erhalten.
Literaturverzeichnis:
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2. Leitlinien DGN, Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose. www.dgn.org
3. Martinelli C, Comi M: Induction versus escalation therapy. Neurol Sci 2005; 26: S193–S199.
4. Edan G, Comi G, Le Page E, Leray E, Rocca MA, Filippi M: FrenchItalian Mitoxantrone Interferon-beta-1b Trial Group. Mitoxantrone prior to interferon beta-1b in aggressive relapsing multiple sclerosis: a 3-year randomised trial. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2011; 82: 1344–1350.
5. Dörr J, Baum K: Alemtuzumab in the treatment of multiple sclerosis: patient selection and special considerations. Drug Des Devel Ther 2016; 10: 3379–3386.
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7. Coles AJ, Wing MG, Molyneux P, Paolillo A, Davie CM, Hale G, Miller D, Waldmann H, Compston A: Monoclonal antibody treatment exposes three mechanisms underlying the clinical course of multiple sclerosis. Ann Neurol. 1999 Sep; 46(3): 296–304.
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