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SYMPOSIUM
Jubiläumssymposium 100 Jahre MPI
Von Kraepelin bis Google: 100 Jahre Max-Planck-Institute für Psychiatrie und Neurobiologie
«Wer auf mühsamen Pfaden einem fernen Ziele zustrebt, wird gut tun, von Zeit zu Zeit seinen Blick rückwärts zu wenden.» Diesen Satz schrieb Emil Kraepelin 1918 in seinem Buch «Hundert Jahre Psychiatrie» – ein Jahr zuvor hatte er die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie gegründet. Aus ihr gingen die heutigen Max-PlanckInstitute (MPI) für Psychiatrie und Neurobiologie in München hervor. Im März 2017 nutzten beide Institute die Gelegenheit, ebenfalls einen Blick zurückzuwerfen. Sie feierten ihr 100-Jahre-Jubiläum mit einem zweitägigen Symposium und luden Forscher ein, die das Gebiet der psychiatrischen Forschung in den letzten Jahrzehnten entscheidend vorangebracht haben.
Optogenetik in der psychiatrischen Forschung
D er US-amerikanische Psychiater, Neurobiologe und Bioingenieur Prof. Karl Deisseroth von der Stanford-University, USA, entwickelte vor 12 Jahren die Optogenetik, die sich mit der Kontrolle von genetisch modifizierten Zellen mittels Licht beschäftigt. Er erforscht damit beispielsweise ängstliches Verhalten in Abwesenheit einer akuten Bedrohung. Im Tiermodell entdeckten er und sein Team die dafür ursächlichen Schaltkreise in der basomedialen Amygdala. Je nachdem, welche Schaltkreise die Wissenschaftler per Licht aktivierten, verharrte die Maus entweder in einer geschützten Ecke oder wagte sich in den offenen Raum. Das Team wies auch nach, dass das Angstverhalten über Top-down-Projektionen reguliert werden kann, die vom medialen präfrontalen Cortex in die basomediale Amygdala ziehen (1). «Wir waren überrascht, dass wir eine Projektion mit anxiolytischen Effekten fanden», berichtet Karl Deisseroth. Er betont, dass Angst ein komplexer Zustand sei und das hier beobachtete Verhalten nur einen Teilaspekt dieses Zustandes offenbare. Über die Jahre haben sein Team und Kollegen anderer Institute jedoch so viele Ergebnisse zusammengetragen, dass sich der Zustand immer besser neuronal fassen lässt. Dabei ist unter anderem der Nucleus striae terminalis in den Fokus der Forscher gerückt, ein Kerngebiet ausserhalb der Amygdala. So verhindert etwa eine Störung spezifischer Ionenkanäle in diesem Gebiet, dass eine Maus nach einer CO2Gabe vollständig erstarrt (2). Neben Schalt-
kreisen in der Amygdala spielen demnach auch Strukturen ausserhalb der Amygdala eine Rolle für das Angstverhalten. Die Optogenetik bringt die Neurowissenschaften rasant voran. Doch können die Erkenntnisse helfen, Therapien für den Menschen zu entwickeln? «Ich selbst forciere keine Patientenstudien. Wir müssen noch eine Menge lernen, bevor wir unsere Erkenntnisse erfolgreich in die Klinik überführen», betont Karl Deisseroth.
Wie ein Goldilock-Protein die Psychiatrie voranbringt Prof. Huda Zoghbi vom Baylor College of Medicine in Houston, USA, entdeckte die für das Rett-Syndrom verantwortliche MeCP2-Genmutation (3). Die Krankheit ist gekennzeichnet durch den Verlust des Sprechens, Autismus, isolierte intellektuelle Störungen und mitunter früh einsetzende Schizophrenie. Nimmt die MeCP2-Genfunktion ab, kommt es zum RettSyndrom, bei einer Zunahme zum MeCP2-Duplikationssyndrom (4). «Für eine neuronale Gesundheit ist die goldene Mitte von MeCP2 wichtig», erklärt Huda Zoghbi. MeCP2 wird daher auch Goldilock-Protein genannt. Die Symptome des Rett- und des MeCP2-Duplikationsyndroms lassen sich im Tiermodell gut reproduzieren. Interessanterweise führte eine 30-prozentige Reduktion des MeCP2-Gens zu einer Reihe neuropsychiatrischer Symptome. «Subtile Beeinträchtigungen der Genfunktion könnten möglicherweise isolierten Autismus oder psychiatrische Phänotypen auslösen», spekuliert Huda Zoghbi. Könnten diese Erkenntnisse Patienten zugutekommen? Einen
Therapieansatz bietet die Neuromodulation per Tiefenhirnstimulation. Huda Zoghbi entdeckte, dass eine Stimulation der Fimbria hippocampi im Rett-Mausmodell Lernen und Gedächtnis verbesserte (5). Sie fand Zeichen für eine Neurogenese im Hippocampus, eine bessere Synchronisierung der neuronalen Aktivität sowie eine Genexpression, die sich kaum mehr vom Wildtyp unterschied. «Das Rett-Gehirn der Maus spricht also klar auf eine Neuromodulation an», betont die Forscherin. Nun müssen noch weitere Fragen im Labor geklärt werden, bevor die erste klinische Studie starten kann. Möglicherweise findet jedoch ein Therapieansatz für ein anderes von Huda Zoghbi entschlüsseltes Syndrom noch schneller den Weg in die Klinik: das oben erwähnte MeCP2Duplikationssyndrom. Die Wissenschaftlerin testete, ob eine Normalisierung des MeCP2Spiegels die Erkrankung bei Mäusen rückgängig machen könnte. Dies gelang sowohl durch die Entfernung des Gens im erwachsenen Tier als auch durch die gezielte pharmakologische Abschwächung des Gens per Antisense-Technik: Das Sozialverhalten der Tiere besserte sich, die Angst nahm ab, und die Krampfanfälle hörten auf. Die Laborerfolge machen Huda Zoghbi und ihrem Team Mut. Die pharmakologische Therapie mit Antisense-Oligonukleotiden könnte sich zudem für eine Reihe von Erkrankungen eignen, denen eine Genduplikation zugrunde liegt, darunter auch Autismus und Down-Syndrom.
Unordnung, die Bedeutung schafft Für den Nobelpreisträger Prof. Richard Axel von der Columbia University in New York, USA, lautet die zentrale Frage: Wie interpretiert das Gehirn die Welt? Er geht davon aus, dass unsere Wahrnehmungen, etwa von Farben, Tönen und Düften, vom Gehirn als eine Abstraktion repräsentiert werden. Das Gehirn muss dieser Abstraktion erst eine Bedeutung zuordnen. Richard Axel erforscht das Riechsystem. Duftmoleküle binden an Rezeptoren, und deren Neurone leiten die Information zum Bulbus olfactorius weiter. Alle Neuronen mit einem bestimmten Rezeptor projizieren an einen bestimmten Ort im Bulbus. Daher entsteht dort eine geordnete anatomische Karte. Von dort ziehen Projektionen in fünf Regionen. In der kortikalen Amygdala wird die anatomische
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Ordnung grob beibehalten. Beim Weg vom Bulbus in den piriformen Cortex wird die Ordnung jedoch vollständig verworfen. Aus einer anatomisch korrekten Karte entsteht ein Zufallsprodukt. Ein Duft aktiviert im piriformen Cortex rund 10 Prozent der Neurone – in ungeordneter Weise. Das Erregungsmuster ist möglichweise in einer Maus konstant, unterscheidet sich jedoch von Maus zu Maus. «Wenn sich die Repräsentation des gleichen Duftes zwischen Individuen unterscheidet, kann ihr keine Bedeutung innewohnen», schlussfolgert Axel. Er wies in der Maus nach, dass die kortikale Amygdala auf die Gerüche reagiert, die ein angeborenes Verhalten auslösen. Der piriforme Cortex vermittelt dagegen erlerntes Verhalten (6). Auf die Frage, ob diese Strukturlosigkeit nicht genau die Voraussetzung für Lernen sei, weil sie Neuronen ermöglicht, Verbindungen herzustellen, die nicht vorhersehbar sind, ergänzt Prof. Axel: «Ja, die meisten sensorischen Stimuli haben keine Bedeutung für einen Organismus. Der Repräsentation eines Stimulus muss Bedeutung zugeordnet werden. Das gilt meiner Meinung nach übrigens auch für visuelle Stimuli.»
Das Zeitalter der Beschleunigung Unser aktuelles Zeitalter der Beschleunigung, so der Neurowissenschaftler Dr. Tom Insel von Verily (früher Google Life Sciences), wird von drei Revolutionen gleichzeitig befeuert: Geno-
Der Nobelpreisträger Prof. Richard Axel von der Columbia University in New York, USA: «Viele Gebiete höherer Hirnfunktion sind so konstruiert, dass eine unstrukturierte Repräsentation die Freiheit erhält, durch Lernen verändert zu werden.»
mik, Neurowissenschaften und Informationstechnologie. Kostete es beispielsweise 2006 noch 22 Millionen Dollar, ein menschliches Genom zu entziffern, reichen dafür heute 1000 Dollar. Waren 2006 erst knapp 10 Assoziationen zwischen bestimmten Genvariationen und psychiatrischen Erkrankungen gesichert, so sind es heute über 150. Der Blick auf die IT-Revolution sei schwindelerregend. Laut aktuellen Daten schaut die Menschheit täglich 1,8 Milli-
«Wir kennen die Prinzipien – allerdings nur im Tier»
Interview mit Prof. Karl Deisseroth von der Stanford-University, USA, anlässlich des Jubiläumssymposiums am Max-Planck-Institut für Psychiatrie und Neurobiologie in München.
P&N: Was wissen Sie heute über psychiatrische Erkrankungen, was Sie vor 15 Jahren noch nicht wussten? Prof. Karl Deisseroth: Wir kennen einige der Prinzipien und Schaltkreise, die soziales Verhalten regulieren. Das gilt für Angst, Drogenabhängigkeit, depressives Verhalten oder andere psychiatrische Erkrankungen. Das Problem: Wir kennen sie nur im Tier. Inzwischen gibt es aber erste Studien, die mithilfe der Erkenntnisse aus dem Tiermodell Therapien für Patienten testen, etwa für Kokainabhängige.
Das klingt reduktionistisch, als entstünden Angst und Abhängigkeit allein in den Nervenzellen. Karl Deisseroth: Optogenetik ist kein Instrument, um komplexe Psychodynamiken zu verstehen. Es ist eine andere Frage, wie es zu diesen Zellaktivitäten gekommen ist. Dabei können Gene, traumatische Erfahrungen oder Drogen eine Rolle spielen. Verstehen wir aber die zugrunde liegenden neuronalen Muster für das Verhalten, können wir aus diesem Wissen heraus besser einordnen, wie die anderen Einflüsse auf das Gehirn einwirken.
Erwarten Sie, dass die Optogenetik auch direkt beim Menschen zum Einsatz kommt? Karl Deisseroth: Ja, ich denke, dass es in den nächsten Jahren die ersten Studien dazu geben wird. Es wird jedoch vermutlich über 15 Jahre dauern, bis sie als erfolgreiche Therapie etabliert ist.
arden Stunden Youtube-Videos. «In dieser Zeit hätten die Ägypter zweimal die Pyramide von Gizeh bauen können», merkt Tom Insel an. Wer diesen Verlauf weiterdenkt, kann erahnen, was in den nächsten Jahrzehnten auf die Menschheit zukommen wird. Tom Insels Ausblick ist jedoch positiv: «Die grosse Revolution geschieht dabei gar nicht so sehr im Bereich der Neurowissenschaften, sondern auf der Seite des Verhaltens, des Phänotyps», stellt er klar. Smartphones, Fitnessuhren und ihre Sensoren geben sekundengenaue Einblicke in unser Verhalten. Wie gut schlafen wir? Wie häufig rufen wir Freunde an? Laut einer 2016 veröffentlichten Pilotstudie der Northwestern University lässt sich anhand der GPS-Daten eines Smartphones eine Depression bereits Wochen vor ihrem Ausbruch erkennen (7). Viele Menschen seien beunruhigt über den möglicherweise schädlichen Einfluss der technologischen Revolution auf unsere psychische Gesundheit, meint der Neurowissenschafter. Er sieht die Entwicklung allerdings weniger als Problem, sondern als Lösung. Laut Tom Insel befinden wir uns kurz vor der logarithmischen Explosion technologischer Entwicklungen. «An dieser Stelle geschehen die Dinge so schnell, dass bekannte Regeln nicht mehr gelten. Es gibt keinen Präzedenzfall, der uns helfen könnte, den Verlauf vorherzusagen.» Es sei eines der Ziele von Verily, Hard- und Software zu entwickeln, die bei der Diagnose und Behandlung von psychischen Erkrankungen helfen. Doch die Ambitionen gehen über die Lebenswissenschaften hinaus. «Letztlich», so Tom Insel, ehemals Direktor der National Institutes of Mental Health, «wollen wir das Gesundheitswesen umkrempeln, und zwar global.» G
Dr. Fabienne Hübener
freie Wissenschaftsjournalistin
Referenzen: 1. Adhikari A et al.: Basomedial amygdala mediates top-
down control of anxiety and fear. Nature 2015; 527: 179– 185. 2. Taugher RJ et al.: The Bed Nucleus of the Stria Terminalis Is Critical for Anxiety-Related Behavior Evoked by CO2 and Acidosis. J Neurosci. 2014; 34: 10247–10255. 3. Amir RE et al.: Rett syndrome is caused by mutations in X-linked MeCP2, encoding methyl-CpG-binding protein 2. Nature Genetics 1999; 23: 185–8. 4. Lombardi LM et al. MeCP2 disorders: from the clinic to mice and back. J Clin Invest. 2015; 125: 2914–23. 5. Hao S et al.: Forniceal deep brain stimulation rescues hippocampal memory in Rett syndrome mice. Nature 2015; 526: 430–434. 6. Gore F et al.: Neural Representations of Unconditioned Stimuli in Basolateral Amygdala Mediate Innate and Learned Responses. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26140594Cell 2015; 162: 134–45. 7. Saeb S et al.: The relationship between mobile phone location sensor data and depressive symptom severity. PeerJ 2016; Sep 29; 4: e2537.
Quelle: Wissenschaftliches Jubiläumssymposium: Hundert Jahre MaxPlanck-Institute für Neurobiologie und für Psychiatrie, 13. und 14. März in München (D).
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