Transkript
FORTBILDUNG
Psychiater, Case Manager und Rehabilitationsfachmann in der Diskussion:
Chancen und Grenzen der Arbeitsplatzintegration
Renato Marelli Thomas Lack Niklas Baer
Psychisch krank zu sein, hat grosse Konsequenzen auf den Arbeitsplatz. Bei längeren Absenzen ist mit dem Stellenverlust zu rechnen; bleibt die Arbeitsfähigkeit erhalten, dann ist krankheitsbedingt oftmals die Reintegration erschwert. Drei Experten haben sich zum virtuellen Roundtable zusammengefunden, um über Probleme und Möglichkeiten der Arbeitsintegration zu diskutieren: Der Psychiater Dr. Renato Marelli mit eigener Praxis in Basel kennt die Probleme aus Sicht des Psychiaters. Thomas Lack ist Case Manager (CM) bei den Basler Versicherungen, und Dr. Niklas Baer ist Leiter der Fachstelle Psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland.
Psychiatrie & Neurologie: Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit von Ärzten/Psychiatern und Case Managern in Bezug auf Krankheitsunfähigkeitsschreibungen bei Menschen mit einer psychiatrischen Erkrankung? Sieht man sich als Partner oder eher als «Gegner»? Dr. Renato Marelli: Im Moment ist die Zusammenarbeit zwar noch nicht ideal, aber wir sind auf gutem Weg*. Ich denke, die Anliegen sind unterschiedlich, ergänzen sich aber: Psychiater kennen die Ängste und Sorgen des Patienten sehr gut; der Case Manager kann erkennen, ob der Arbeitsplatz gefährdet ist, und kennt die Anforderungen am Arbeitsplatz. Dieses Wissen wiederum fehlt dem Psychiater. Ein Austausch wäre daher begrüssenswert. Thomas Lack: Case Manager werden zum Teil sehr gut in den Abklärungsprozess eingebunden und als Partner beziehungsweise Vermittler wahrgenommen. Es gibt aber ebenso Psychiater, die eher behandlungsorientiert sind und einer Zusammenarbeit kritisch gegenüberstehen, weil sie den Patienten «schützen» wollen. Insgesamt hat es in den letzten Jahren Fortschritte gegeben, es gibt jedoch weiterhin Verbesserungspotenzial**. Dr. Niklas Baer: Meines Erachtens wird noch zu wenig zusammengearbeitet. Es bestehen auf beiden Seiten Vorurteile. Hausärzte und Psychiater denken häufig, dass es Case Managern primär ums Geld geht und dass sie den Wiedereinstieg in die Arbeit anstreben ohne Rücksicht auf den Zustand der Patienten. Case Manager wie-
* Die SGPP hat gemeinsam mit dem Schweizerischen Versicherungsverband (SVV), der Dachorganisation der privaten Versicherungswirtschaft der Schweiz, ein Paper zur Zusammenarbeit erstellt: http://www.svv.ch/de/medizin/Personenschadenfall/zu sammenarbeit-zwischen-fachaerzten-fuer-psychiatrie ** Als Grundlage für die Zusammenarbeit dient die Empfehlung für die Zusammenarbeit zwischen Fachärzten für Psychiatrie und Case Managern der Privatversicherer (Empfehlung zwischen der Schweiz. Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie [SGPP] sowie dem Schweizerischen Versicherungsverband [SVV] vom 21.2.2014).
derum denken oft, dass Psychiater ungerechtfertigt oder unnötig lange krankschreiben. Diese Vorurteile sind schlecht, da die Zusammenarbeit zentral ist, wenn es darum geht, psychisch kranken Menschen die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu ermöglichen.
Was sind Faktoren, die bei der Zusammenarbeit unterstützend wirken, welche erschweren die Zusammenarbeit und damit auch die Rückkehr des Patienten an den Arbeitsplatz? Renato Marelli: Die Kommunikation müsste systematisch verbessert werden. Es sollte standardisierte Vorgaben geben, und die einzelnen Partner sollten die einzelnen Aufgaben der anderen kennen. Im besten Fall und am sinnvollsten erfolgen die Zusammenarbeit und Aufklärung via Fortbildungen. Thomas Lack: Der Patient steht im Zentrum. Wie stark erklärt er sich dazu bereit, sich auf die Zusammenarbeit einzulassen? Welche Chancen und Grenzen sieht er selber? Was kann er dazu beitragen, wo braucht es Unterstützung? Der Patient kennt die Anforderungen nebst dem Vorgesetzten am Arbeitsplatz am besten. Je genauer er sagen kann, welche Schwierigkeiten er sieht, desto besser kann die Arbeit geplant werden. Entscheidend ist, dass der Arbeitgeber beziehungsweise der Vorgesetzte in den Rückkehrprozess so früh wie möglich eingebunden wird und die Rückkehr auch aktiv unterstützt. Umso offener können wir auch auf das Team zugehen – gerade bei vorliegenden Arbeitsplatzkonflikten. Oftmals erleben wir, dass der Patient in einem Konflikt in die Krankschreibung gegangen ist, weil durch belastende Situationen am Arbeitsplatz psychische Erkrankungen aufgetreten sind. Je früher der Patient für eine Veränderung der Situation bereit ist, desto einfacher ist die Zusammenarbeit auch mit dem Arbeitgeber und dem gesamten Arbeitsteam. Dann ist die Mitarbeit des Psychiaters mitentscheidend: Wie stark lässt sich dieser in den Prozess zur Rückkehr an den Arbeitsplatz ein. Sind wir als Case Manager Gegner oder Partner? Ohne die Zusammenarbeit mit dem Psychiater können
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wir keine Erfolge erzielen, da es ein Zusammenspiel von Arbeitgeber, Patient, Psychiater und dem Versicherungssystem braucht. Das oberste Ziel ist der Arbeitsplatzerhalt. Niklas Baer: Auch für mich ist der wichtigste Faktor, dass Patienten, Ärzte, Case Manager und Arbeitgeber sich über die Art der Arbeitsprobleme und das weitere Vorgehen einigen. Gerade bei psychisch kranken Patienten ist die Rückkehr an die Arbeit oft gefährdet durch ängstliches Vermeidungsverhalten, Unsicherheiten oder auch durch fehlende Unterstützung am Arbeitsplatz. Solche Krisen können nur aufgefangen werden, wenn alle an einem Strick ziehen. Zudem bedarf es auch Leitoder Richtlinien, bei welchen Beeinträchtigungen und in welchen Situationen jemand länger, kürzer oder gar nicht arbeitsunfähig geschrieben werden sollte. Solche Leitlinien fehlen bis anhin. Momentan ist die Situation so, dass Dauer und Grad der Arbeitsunfähigkeit sehr stark von der jeweiligen individuellen Erfahrung des einzelnen Arztes abzuhängen scheinen. Es wäre dringend nötig, dort eine gemeinsame Basis zu erarbeiten.
Hat sich die Zusammenarbeit denn in den letzten Jahren verbessert? Renato Marelli: Auf beiden Seiten hat sich die Zusammenarbeit klar verbessert. Seit 14 Jahren geben wir Kurse für Eingliederungsverantwortliche der IV, seit einigen Jahren auch für den SVV. Zu Beginn berichteten die Teilnehmer von geringem Interesse seitens der Psychiater für berufliche Aspekte, die Zusammenarbeit war schwierig. Das hat sich sehr zum Positiven verändert. Niklas Baer: Ja, die Zusammenarbeit hat sich verbessert. Wichtig ist es aber auch weiterhin, dass beide Seiten die gegenseitigen Rollen respektieren. Case Manager sollten sich beispielsweise bei fachlichen Aspekten der Behandlung raushalten. Es kommt immer wieder vor, dass sie dem Betroffenen dazu raten, den Arzt zu wechseln. Solch ein Vorgehen ist immer schlecht, wenn es um Vertrauensbildung geht. Allerdings müssen Psychiater und Hausärzte anerkennen, dass CM die Fachpersonen für den Wiedereinstieg sind und meist einen besseren Überblick über die Gesamtsituation haben. Thomas Lack: Ich kann dem zustimmen. Die Zusammenarbeit und das gegenseitige Verständnis haben sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Trotzdem besteht noch Handlungsbedarf auf beiden Seiten, wenn es darum geht, vermehrt aufeinander zuzugehen, um die gegenseitigen Synergien in der Zusammenarbeit besser nutzen zu können.
Wissen Arbeitgeber und auch Ärzte, wo sie sich informieren können, und wie gut ist die Unterstützung dann? Renato Marelli: Manche Psychiater wie auch Arbeitgeber wissen nicht, wo sie sich informieren können. Die diesbezüglichen Websites sind wenig bekannt. Am besten läuft meines Erachtens aber die Information über Fortbildungen. Und schliesslich dürften auch positive Erfahrungen hüben und drüben hilfreich sein. Thomas Lack: Das Wissen um die Arbeit von Case Managern ist bei grösseren Arbeitgebern heute besser und stärker verankert, da diese Betriebe eine HR-Abteilung haben, welche sich der Bedeutung der Unterstützung der Mitarbeiter bei lang dauernder Arbeitsunfähigkeit
bewusst sind. In der Schweiz gibt es aber noch viele kleine KMU ohne HR-Abteilung. Dort ist das Wissen um das Case Management weniger gut etabliert. Dabei ist es besser, uns so früh wie möglich einzuschalten. Im KMU-Bereich bietet die IV-Stelle oder ihr Versicherer nützliche Informationen zur Früherkennung an. Weitere Informationen bietet das Informationsportal Compasso***. Viele Arbeitgeber und Ärzte wissen beispielsweise nicht, dass Arbeitnehmer auch an einem Freitag wieder anfangen können zu arbeiten oder nicht auch erst an einem Monatsende beziehungsweise am Wochenanfang. Niklas Baer: Am besten wäre eigentlich, wenn sie dazu den gegenseitigen Kontakt suchen würden. Dann würden die Ärzte erfahren, wie sich die Arbeitssituation des Patienten aus Vorgesetztensicht darstellt, und die Arbeitgeber würden Hinweise erhalten, wie sie den Mitarbeiter unterstützen können. Leider sucht bisher nur eine Minderheit der Arbeitgeber wie der Ärzte den Kontakt. Der Hinweis, dass Patienten einen solchen nicht erlauben, trifft so allgemein nicht zu und scheint mir oft vorgeschoben. Für eine solche Koordination wäre zudem der CM da. Wenn dieser aber nicht eingeschaltet wird, fehlt wieder die Verknüpfung untereinander.
Was ist schwieriger bei der Reintegration von psychisch Erkrankten im Vergleich zu physisch Erkrankten für Arbeitgeber? Thomas Lack: Körperliche Beschwerden lassen sich klar zuordnen und sind sichtbar. Psychische Probleme sind unsichtbar und oft stigmatisiert. Man redet nicht gern darüber, und das Wissen darum ist häufig diffus. Deshalb ist es für ein Team auch schwieriger, mit Kollegen umzugehen, die psychisch krank sind. Warum ist beispielweise der Kollege mit Depression so unkonzentriert, weniger belastbar und so weiter? Tut dieser vielleicht nur so? Es gibt viel Misstrauen und Unwissenheit in diesem Bereich, deshalb ist auch die Reintegration bei psychischen Erkrankungen schwieriger. Renato Marelli: Bei psychischen Erkrankungen ist oft das Verhalten beteiligt. Das macht es im Umgang mit dem Betroffenen und der Wiedereingliederung schwieriger. Oftmals wird deshalb jemand entweder ganz arbeitsfähig oder ganz arbeitsunfähig geschrieben, anstatt dass man Teilarbeitsfähigkeiten definiert. Niklas Baer: Eine psychische Erkrankung ist von aussen nicht sichtbar und daher auch nicht die Beeinträchtigung, die mit einer solchen Erkrankung einhergeht. Eine Folge davon ist, dass der Arbeitgeber Mühe hat, das Können und die Bedürfnisse des Erkrankten einzuschätzen. So entstehen häufig Vorurteile, oder/und die Akzeptanz fehlt, wenn der Arbeitnehmer plötzlich Arbeiten gar nicht mehr oder einfach schlecht ausführt. Es wäre sehr wichtig, über diese Unsicherheiten zu reden.
In England wird beispielswiese nicht mehr von einer «sick-note», sondern von einer «fit-note» bei Erstellung
*** Auf der Website www.compasso.ch finden Arbeitgeber Informationen zur beruflichen Integration. Die Dokumentendatenbank etwa enthält Leitfäden für Arbeitgeber bei Absenzen, im Umgang mit Arztzeugnissen und so weiter. Checklisten helfen bei der Erstellung eines Anforderungsprofils oder der Gestaltung des Arbeitsplatzes.
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eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses (AuF) gesprochen. Wäre das aus rehabilitativer Sicht auch in der Schweiz hilfreich, um den Erkrankten möglichst schnell wieder in den Arbeitsalltag zu integrieren? Renato Marelli: Da bin ich skeptisch! Ich denke, es ist einfacher und auch sinnvoller, zuerst zu beschreiben, was nicht geht. Um eine fit-note schreiben zu können, müsste dem Psychiater in einem zweiten Schritt genau bekannt sein, was die Anforderungen am Arbeitsplatz sind. Dann wäre die Beschreibung der Ressourcen jedoch sehr sinnvoll. Thomas Lack: Je genauer ein AuF ist, desto besser können wir Arbeitnehmer und Arbeitgeber unterstützen. Oftmals wird uns aber wirklich nur ein «Zettel» mit wenigen Informationen zur Verfügung gestellt. Das macht den Aufwand für uns grösser. Einfacher wäre es, wenn der Psychiater aufgrund des vorhandenen Arbeitsplatzprofils des Patienten dessen noch vorhandene Möglichkeiten beschreiben könnte. Das bedeutet im ersten Moment für ihn mehr Aufwand, aber das Wissen darüber ist eine Ressource für die Wiedereingliederung. Hilfreich wäre auch eine fachspezifische Abklärung mit Angaben zur Prognose. Sie erfolgt in der Regel immer noch zu spät und oft erst dann, wenn jemand danach fragt. Auch dies fördert lange Arbeitsplatzabsenzen. Niklas Baer: Ich sehe in einem erweiterten AuF-Zeugnis nur Vorteile! 1. Es wäre ein wahrer Kulturwandel, wenn man zuerst
beschreiben müsste, was jemand trotz Krankheit allenfalls noch leisten kann, und nicht nur aufschreibt, wozu jemand nicht fähig ist. 2. Ein veränderter Fokus auf nach wie vor bestehende Fähigkeiten könnte den Anteil an Fällen mit TeilzeitAuF erhöhen. Dies wäre wichtig, damit die Patienten den Kontakt zum Arbeitsplatz nicht verlieren, vor allem bei längeren AuF. 3. Arbeitgeber und Arzt haben Kontakt zueinander, denn der Arzt müsste detaillierter beschreiben, was der Arbeitnehmer noch kann und was nicht. Eine solche Beschreibung kostet den Arbeitgeber derzeit rund 60 Franken. Umgekehrt kann der Arbeitgeber dem Arzt eine Arbeitsplatzbeschreibung zusenden, damit dieser präzisere Angaben machen kann. Es kostet also Geld und Zeit, aber dafür hat der Arzt eine Idee, welche Fähigkeiten der Arbeitsplatz voraussetzt und wo der Arbeitnehmer steht. Und der Arbeitgeber erhält Informationen, wie er den Mitarbeiter allenfalls einsetzen kann. Allerdings ersetzt dieses detaillierte Zeugnis einen Kontakt zwischen Arzt und Arbeitgeber nicht. Psychische Krankheiten dauern oftmals lange an, deshalb ist es so wichtig, dass sich der Arbeitgeber und der Arzt verstehen – auch unabhängig von Absenzen.
Krankschreibungen bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern mit einer psychischen Störung gehören zu den längsten überhaupt, bei Depressionen zum Beispiel rund 5 Monate. Wie ist das zu erklären, respektive ist das nachvollziehbar? Und welche Folgen können solch lange AuF haben? Niklas Baer: Die Dauer ist ein riesiges Problem. Bereits nach 3 Monaten AuF ist es für den Arbeitnehmer deutlich schwieriger, wieder an den Arbeitsplatz zurückzu-
kehren. Nach 5 Monaten wackelt der Arbeitsplatz in der Regel. Umso wichtiger wären Teilzeit-AuF, damit der Kontakt bestehen bleibt. Für mich geht es in Richtung «Kunstfehler», wenn bei längeren Ausfällen weder an eine Teilzeit-AuF noch an einen Kontakt zum Arbeitgeber gedacht wird. Renato Marelli: Gerade bei der Depression könnte man beschreiben, welche psychischen Funktionen eingeschränkt sind, zum Beispiel das Denken, die Konzentration und so weiter Und dann ist vielleicht auch ein Teilzeitpensum möglich. Aber die Dauer einer depressiven Störung und deren Verlauf ist im Einzelfall sehr unterschiedlich. Hilfreich könnte der Einsatz eines erweiterten AuF-Zeugnisses sein, das ist jedoch sehr aufwendig und müsste entsprechend abgegolten werden. Thomas Lack: Ich denke, bei differenzierten AuF-Zeugnissen nimmt die Dauer der Krankschreibung ab. Denn je differenzierter aufgeschrieben ist, was jemand kann, desto einfacher ist es, ihn am Arbeitsplatz gezielt für Arbeiten einzusetzen. Zudem wäre es dann auch möglich, ihn zu Beginn Teilzeit arbeiten zu lassen und dann das Pensum langsam zu erhöhen. Das erlaubt dem Patienten, sich wieder ins Berufsleben einzugliedern, und kann vor Kündigung schützen. Je länger aber jemand vom Arbeitsplatz weg ist, desto schwieriger wird die Reintegration.
Können Sie Kriterien benennen, die für eine kurze oder eher langfristige Krankschreibung respektive für eine Vollzeit-AuF oder eher Teilzeit-AuF sprechen? Und in welchen Situationen sollte man tendenziell am besten gar nicht krankschreiben? Renato Marelli: Sinnvoll kann beispielsweise sein, keine Arbeitsunfähigkeit zu attestieren, wenn jemand aus Angst etwas vermeidet. Oder nur kurze Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen, wenn es um Verhaltensauffälligkeiten geht. Denn man könnte versuchen, den Arbeitsplatz beziehungsweise die diesbezüglichen Anforderungen anzupassen oder das Team besser zu informieren. Aber wenn viele psychische Funktionen ausfallen, dann kann es auch zu langen Arbeitsunfähigkeiten kommen. Absolut geltende generelle Kriterien aufzustellen, ist sehr schwierig. Denn jeder Fall ist individuell. Niklas Baer: Eine Psychose oder eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis ist meist mit einer langfristigen Arbeitspause verbunden. Bei einer Depression hingegen ist der Grad der Erkrankung wichtig. Oftmals ist auch ein Teilzeit-AuF möglich oder eine volle Krankschreibung, aber mit gleichzeitiger Präsenz am Arbeitsplatz. Bei Persönlichkeitsstörungen sehe ich die Notwendigkeit einer AuF nicht immer, hier wird aus meiner Erfahrung zu oft und zu lange krankgeschrieben. Entscheidend ist für mich aber vor allem, wann nicht krankgeschrieben werden soll! Beispielsweise wenn: G Konflikte am Arbeitsplatz durch Arbeitsunfähigkeit
noch verstärkt werden; G die Absenz die typische Problemlösungs-«Strategie»
des Patienten ist und diesem deswegen an früheren Stellen auch schon gekündigt wurde; G der Patient das AuF wünscht, weil er wegen eines Vorfalls am Arbeitsplatz oder wegen Kündigung gekränkt ist.
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Dies sind alles Vermeidungsstrategien, die man nicht einfach so akzeptieren, sondern zumindest intensiv mit dem Patienten abwägen sollte.
In einigen Ländern ist es vorgeschrieben, dass es nach spätestens 2 Monaten Krankschreibung zu einem Kontakt zwischen Arbeitnehmer, Arbeitgeber, behandelndem Arzt und involviertem Case Manager/finanzierender Behörde kommen muss. Wäre das auch für die Schweiz sinnvoll? Renato Marelli: Das halte ich für sinnvoll, aber bezüglich einer generellen Frist von 2 Monaten bin ich eher zurückhaltend. Ich bin ein Verfechter rascher Interventionen, wenn das sinnvoll und möglich ist, aber 2 Monate können auch zu kurz sein. Gerade bei psychischen Erkrankungen braucht es manchmal länger als 2 Monate Zeit. Grundsätzlich finde ich die Kontaktaufnahme aber gut. Thomas Lack: In der Schweiz findet das in Einzelfällen statt. Vor allem bei anstehenden, lang andauernden Arbeitsabsenzen. Aber prinzipielle Roundtablegespräche sind sehr aufwändig und finden deshalb nicht systematisch statt. Und sie sollten auch nur stattfinden, wenn sie ein Potenzial zur Verbesserung des Wiedereingliederungsprozesses nach sich ziehen. Aber mehr oder weniger zwangsweise nach 2 Monaten zusammenzusitzen, halte ich für wenig sinnvoll. Niklas Baer: Das wäre sinnvoll. Ja! Es braucht aber ein verbindliches Prozedere, sonst funktioniert das nicht. Auch die 2 Monate sind relativ zu betrachten. In Norwegen sitzt man bereits nach 6 Wochen zusammen. Denn je früher der Arbeitnehmer an den Arbeitsplatz zurückkehrt, umso besser sind die Chancen, dass er im Job bleibt. Dauert die AuF länger an, beginnt ängstliches Vermeidungsverhalten und so weiter.
In den Niederlanden, einem Land, das früher massive Probleme mit Arbeitsabsenzen hatte, schreiben nicht die behandelnden Ärzte krank, sondern Arbeitsmediziner im Sold der Unternehmen. Wäre das auch für die Schweiz sinnvoll? Renato Marelli: Das niederländische Modell kenne ich nur rudimentär. In der Schweiz können behandelnde Ärzte bei Schwierigkeiten in der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit unabhängige «ZAFAS-Ärzte» beiziehen. Der zertifizierte Arbeitsfähigkeitsassessor (ZAFAS) beherrscht die Instrumente und Prozesse der Einschätzung und der Dokumentation im Arbeitsfähigkeitsassessment und verrichtet seine Arbeit neutral. Dieses Instrument respektive die Möglichkeit dazu, wird aber von den Behandlern noch wenig genutzt, obwohl es im Zweifelsfall empfehlenswert ist. Thomas Lack: Ich denke, derzeit wäre ein solches Vor-
Zu den Personen
G Der Basler Psychologe Dr. Niklas Baer leitet die Fachstelle für psychiatrische Rehabilitation der Kantonalen Psychiatrischen Dienste Baselland. Die Fachstelle betreibt praxisbezogene Forschung, Beratung und Schulungen.
G Thomas Lack ist Leiter Case- und Netzwerk-Management bei den Basler Versicherungen.
G Dr. Renato Marelli ist Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie mit eigener Praxis in Basel und Vizepräsident der Swiss Insurance Medicine (SIM).
gehen äusserst schwierig, denn das derzeitige System ist in der Schweiz fest verankert. Die Betreuung des Patienten erfolgt hier über die behandelnden Hausärzte und Psychiater und nicht über Arbeitsmediziner. Und von Letzteren hat es in der Schweiz zu wenig, und das wird sich aufgrund meiner Einschätzung auch in Zukunft nicht ändern. Im Vergleich zu den Niederlanden ist aber der Kündigungsschutz in der Schweiz weniger gut. Deshalb ist hier wohl auch die Angst grösser, dass eine Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten Konsequenzen hat. Niklas Baer: Längere Arbeitsunfähigkeiten können die therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient belasten. Eine Zuweisung der AuF-Abklärung an externe Ärzte bei (vorausssichtlich) längerer AuF könnte durchaus helfen.
Wenn Ärzte künftig «strikter», das heisst kürzer, krank-
schreiben würden – welche Voraussetzungen ergäben
sich daraus aufseiten der Arbeitgeber?
Renato Marelli: Es wäre wichtig, dass Arbeitgeber ak-
zeptieren, dass Arbeitnehmer nur teilarbeitsfähig sein
können, und zum Beispiel Teilzeitpensen ermöglichen
oder auch bereit sind, qualitative Einbussen zu akzeptie-
ren. Bei einem Arbeitnehmer mit Kundenkontakt würde
das beispielsweise bedeuten, dass er eine gewisse Zeit
den Kundenkontakt nicht wahrnehmen kann.
Thomas Lack: Das Commitment muss vorhanden sein.
Das heisst, Arbeitnehmer gezielter einzusetzen, und
nicht nur bei Gesundheit. Das setzt eine Anpassung am
Arbeitsplatz voraus. Aber ich denke, wir müssen in die-
ser Richtung umdenken. Wir haben heute mehr ältere
Arbeitnehmer als früher, und aufgrund der demografi-
schen Entwicklung wird dieser Anteil zunehmen. Mit
einer Abnahme von psychischen Krankheiten bezie-
hungsweise Krankschreibungen ist nicht zu rechnen,
und dem müssen wir Rechnung tragen. Ich merke aber,
dass das Interesse und die Sensitivität für diese Themen
vonseiten der Arbeitgeber zugenommen haben.
Niklas Baer: Die Hoffnung ist, dass sich Arbeitgeber
dann mehr einlassen müssten. Denn sie wären aktiv an
der Wiedereingliederung beteiligt und müssten sich
vermehrt Gedanken machen, mit welchen Arbeitsan-
passungen und Unterstützungsmassnahmen der Mit-
arbeiter trotz noch bestehender Beeinträchtigung
wieder einsteigen kann. Zudem müsste sichergestellt
werden, dass die kürzere Arbeitsunfähigkeit nicht dazu
missbraucht wird, dass früher gekündigt wird. Damit das
alles funktionieren kann, braucht es ein für alle Beteilig-
ten verbindliches Prozedere und Spielregeln. Denn ich
glaube, auf einer rein freiwilligen Basis wird das nie pas-
sieren. Das heisst, es braucht Anreize, vielleicht auch
Sanktionen.
G
Sehr geehrter Herr Dr. Baer, Herr Lack und Herr Dr. Marelli, vielen Dank für das Interview.
Das Gespräch führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Annegret Czernotta Redaktorin
Schaffhauserstrasse 13, 8212 Neuhausen a. Rhf. E-Mail: a.czernotta@rosenfluh.ch
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