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SYMPOSIUM
MS-Symposium 2016
«Die Schwelle zur Behandlung von aktiver Krankheit niedriger setzen»
Die aktuellen Multiple-Sklerose-(MS-)Medikamente können bei vielen Patienten einen Teil der Krankheitsschübe verhindern und das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen – allerdings nicht bei allen Betroffenen. Neue Medikamente sind in der Zulassung oder der Entwicklung. Aber die Anwendung wirft Fragen auf. Am MS-Symposium der Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich (USZ) diskutierten Experten über den Einsatz einer Induktions- oder Eskalationstherapie und die Bedeutung der bildgebenden Verfahren.
In den vergangenen Jahren gab es in der Behandlung und der Diagnostik der Multiplen Sklerose rasante Entwicklungen. Trotzdem seien noch viele Fragen ungeklärt, sagte einleitend Prof. Roland Martin, Leitender Arzt an der Klinik für Neurologie am USZ. «Selbst unter der besten Therapie sind nur 50 Prozent der Patienten entzündungsfrei», so Prof. Martin. Eine wichtige Frage sei zudem, ob bereits bei einem radiologisch isolierten Syndrom (klinisch stille Läsionen) behandelt wird oder «erst» bei einem klinisch isolierten Syndrom (CIS) mit einer ersten Episode neurologischer Symptome. Am Symposium stellten Experten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich aktuelle Probleme und Entwicklungen in der Behandlung der MS vor.
Behandlungsüberblick Univ.-Prof. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Allgemeine Neurologie am Universitätsklinikum in Münster, gab einen Behandlungsüberblick über die medikamentöse Therapie der MS. Statt von Eskalation, so der Experte einleitend, sei es besser, von einer Optimierung zu sprechen. «Meist stellen wir uns die Frage nach der optimierten MS-Therapie aber zu spät», sagte Prof. Wiendl. Bei Patienten mit einer Erstdiagnose einer MS mit mildem bis moderatem Verlauf wird zu Beginn ein Erstlinienpräparat wie Interferon beta, pegylierte Interferone, Glatirameracetat, Dimethylfumerat oder Teriflunomid empfohlen. Im Gegensatz zu beispielsweise Deutschland oder dem Rest Europas wird in der Schweiz auch der monoklonale Antikörper Fingolimod für diese Indikation eingesetzt. Seit 2013 haben mehrere Substanzen die Zulassung erhalten, weshalb die Behandlung an Komplexität zugenommen hat. Dazu gehören Alemtuzumab, Teriflunomid und Daclizumab, das in den USA und der EU zugelassen ist. Für 2017 wird in der Schweiz die Zulassung von Ocrelizumab in der Behandlung der rezidivierend-remittie-
renden MS (RRMS) erwartet. Das Therapieziel sei die Inhibition von Entzündungen, die Stabilisation der Krankheit, die Besserung des Zustandes in einem dritten Schritt und die Heilung – wenn möglich. «Aktuell sind wir in der Phase der Krankheitsbesserung», so Prof. Wiendl. Aber wie soll nun die MS-Therapie begonnen werden: mit «start soft and smooth» oder mit «hit hard and early»? Der derzeitige Behandlungsalgorithmus baut sich dahingehend auf, dass mit den Erstlinienpräparaten begonnen wird und dann die Optimierung der Therapie mit den Medikamenten der zweiten und dritten Linie erfolgt. «Jeder Switch zu einem Medikament hat aber einen Effekt – sollen wir deshalb das gegenwärtige Behandlungsparadigma ändern oder anpassen?», fragte Prof. Wiendl. «Und ist die derzeitige Behandlung, die sich nach der Anzahl der Läsionen richtet, überhaupt noch sinnvoll», fragte der Universitätsprofessor weiter, «denn diese Handhabung ist in der Praxis kaum umsetzbar.» Zudem haben auch die neuen Immuntherapeutika ihre Einschränkungen. Alemtuzumab hat eine beeindruckende Wirkung und Langzeitwirksamkeit. Aber auch Jahre nach der Behandlung kann es beispielsweise zu einer immunthrombozytopenischen Purpura kommen oder zu Nephropathien und durch die Infusionen kann die Infektneigung erhöht sein. Daclizumab wiederum ist für die Behandlung der schubförmigen MS zugelassen. Unter der Behandlung sind Leukopenien/Lymphopenien, eine Colitis und so weiter möglich. Daclizumab sei trotz der Nebenwirkungen aber eine interessante Alternative, sagte Prof. Wiendl. Es hat zudem den Vorteil, dass es vom Patienten selbst appliziert werden kann. Es wird deshalb als Therapieoption bei einer hochaktiven MS angesehen. Sowohl Fingolimod als auch Natalizumab sieht der Experte hingegen als Alternative bei suboptimaler Re-
sponse oder bei Problemen mit First-Line-Medikamenten. Zusammenfassend hielt Prof. Wiendl fest, dass die optimale Therapiestrategie auch weiterhin eine Herausforderung in der Behandlung der MS darstellt. Hilfreich sei aber vielleicht ein Blick in Richtung der Rheumatologie. Bei den Rheumatologen heisst es: «Start early, escalate early.» Falls sich das zuerst angewendete Therapeutikum in einem Zeitraum von drei bis sechs Monaten als nicht ausreichend effektiv erweist, sollte der Wechsel auf ein Biologikum erfolgen. Prof. Wiendl: «Vielleicht wäre das ein gangbarer Weg auch in der Behandlung der MS. Wir müssen die Schwelle zur Behandlung von aktiver Krankheit niedriger setzen und konsequent das Ziel einer bestmöglichen Krankheitskontrolle verfolgen.»
Bedeutung bildgebender Verfahren Prof. Christian Enzinger, Universitätsklinik für Neurologie in Graz, stellte die Bedeutung bildgebender Verfahren dar. Die Magnetresonanztomografie (Magnetic Resonance Imaging, MRI) ist hochsensitiv in der Detektion von Veränderungen der weissen Hirnsubstanz bei einer aktiven MS und hat eine zunehmende Bedeutung bei der Überwachung und beim Behandlungserfolg. Zwei Marker lassen sich sinnvoll einsetzen: G T2-Läsionen in MS-typischen Regionen G kontrastmittelaufnehmende Läsionen in
Diagnostik und Monitoring. Probleme und Herausforderungen zeigen sich allerdings in verschiedenen Punkten: G Zum MRI und zur Krankheitsaktivität fehlen
einheitliche Definitionen oder Modelle. G Die Krankheitsaktivität muss nicht immer
mit der Behandlung in Zusammenhang stehen. G Welche klinischen Faktoren zur Beurteilung sind relevant und miteinzubeziehen: Rückfälle, kognitive Funktionen, der EDSS (Expanded Disability Status Scale)? G Einige Medikamente zeigen erst sechs Monate nach Beginn einen Effekt. Wie ist das MRI dann zu bewerten?
Ein einheitlicher Algorithmus in der Beurteilung des therapeutischen Ansprechens fehle noch, hielt Prof. Enzinger fest. Eine Datensammlung innerhalb von Netzwerken könnte in der Beurteilung deshalb zukünftig hilfreich sein. Ein solches Netzwerk ist beispielsweise das Projekt MAGNIMS (MAGNetic resonance In
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Multiple Sclerosis; www.magnims.eu). Innerhalb dieser internationalen Zusammenarbeit wird auch ein Review von publizierten Multiple-Sklerose-Fällen, die in MRT-Untersuchungen atypische Veränderungen zeigten, durchgeführt. Dies soll als Basis für eine nachfolgende prospektive Sammlung seltener Fälle innerhalb der beteiligten Zentren (Graz, Oxford, London, Barcelona, Amsterdam, Basel, Siena, Mailand) dienen. Zudem wurden klinisch tätigen Personen Leitlinien zur Diagnostik der MS und zum Monitoring der Erkrankung zur Verfügung gestellt, die eine zielgerichtete Behandlung ermöglichen sollen.
MS-Fälle aus der Praxis Med. pract. Stephanie Müller, Abteilung Neurologie, Kantonsspital St. Gallen, und PD Dr. Christian Kamm, Leiter des Multiple-Sklerose-Zentrums am Kantonsspital Luzern, stellten verschiedene Fallbeispiele aus der Praxis vor. Bei einem 31-jährigen Mann lagen erste Symptome im Juli 2005 vor, die sich in einer Schwäche der linken Hand zeigten und in einer Hypoästhesie in TH4 rechtsseitig. Im MRI zeigten sich drei T2-Läsionen. Der EDSS lag bei 3,4. Die mögliche Diagnose MS oder CIS wurde gestellt und die Frühtherapie mit einem Beta-
Interferon begonnen. Im April 2009 erfuhr der Mann unter der Behandlung einen Rückfall mit Vertigo, Nausea und Nystagmus. Im MRI zeigten sich neue Läsionen. Das Beta-Interferon hatte der Patient zu dem Zeitpunkt nicht mehr genommen, «weil es ihm ja gut ging». Zudem wollte er lieber das neue Medikament Fingolimod, weil man dieses oral einnehmen kann. Als auf Dimethylfumarat umgestellt wurde, brach er den Kontakt zum behandelnden Arzt ab. Mit einer Parese im linken Bein kehrte er 2015 in die Therapie zurück, wobei das spinale MRI keine Veränderungen aufwies. Wie sollte man nun weiterfahren, so die Frage der Referenten? Der Fall, so Stephanie Müller, zeigt verschiedene Schwierigkeiten auf: Prognostisch ungünstig sind beispielsweise ein früher Krankheitsbeginn, männliches Geschlecht und zwei oder mehrere Schübe im ersten Krankheitsjahr, sodass ein CIS in eine MS übergehen kann. Aber Studien zeigen, dass Frauen das gleich hohe Risiko haben. Zudem sei MS eine chronische Krankheit. Die Compliance kann wie im beschriebenen Fall abnehmen, wenn der Patient unter der Therapie beispielsweise keine bis wenige Symptome hat und den Sinn einer medikamentösen Therapie nicht nachvollzie-
hen kann. Im vorgestellten Fall wurde die Behandlung auf Natalizumab umgestellt.
Induktion versus Eskalation
Prof. Andrew Chan, Leiter des universitären
ambulanten Neurozentrums (ANZ) am Insel-
spital Bern, sprach über die Induktions- versus
Eskalationstherapie. Das Konzept der Induk-
tionstherapie ist relativ neu. Es sieht vor, durch
eine hochwirksame Therapie möglichst zu
Beginn der Erkrankung eine nachhaltige be-
ziehungsweise möglichst komplette Unter-
drückung der Krankheitsaktivität zu erreichen,
um allenfalls im Anschluss auf eine Erhaltungs-
therapie mit einem niederpotenteren Präparat
umzustellen. Bildlich dargestellt sei die Induk-
tionstherapie eine frühe Therapie, die klar ins
Ziel ziele, so der Experte, die Maintenance-
Eskalation hingegen sei eine Behandlung, die
sich dem Ziel annähere. Welche Therapie «bes-
ser» sei, ist unklar, so Prof. Chan kritisch, da es
Behandlungsalgorithmen gibt, aber therapeu-
tisch noch «mäandert» wird.
G
Annegret Czernotta
Quelle: MS-Symposium 2016, Universitätsspital Zürich, 8. September 2016.
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