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FORTBILDUNG
Flüchtlinge und Migranten in der Psychiatrie: Die Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem reduzieren
Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (PUK) bietet sowohl eine stationäre als auch eine ambulante Behandlung im Rahmen des Schwerpunkts Migrations- und transkulturelle Psychiatrie an. Der dort zuständige Oberarzt und Psychiater, Dr. Janis Brakowski, gibt im Interview Auskunft über Herausforderungen und notwendige Verbesserungen in der Behandlung von Flüchtlingen und Migranten.
Psychiatrie & Neurologie: Stellt die Versorgung von Flüchtlingen in der Psychiatrie ein Problem dar? Dr. Janis Brakowski: Die Behandlung von Flüchtlingen und Migranten stellt innerhalb der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung keinesfalls ein Problem dar. Diese Personen leiden in vergleichbarer Anzahl unter psychischen Erkrankungen und sind von ähnlichen Symptomen wie die Allgemeinbevölkerung betroffen, auch wenn einzelne Erkrankungen wie somatoforme Störungen und Traumafolgestörungen gehäuft vorkommen. Für die Therapie der psychisch erkrankten Flüchtlinge besteht aus fachlicher Sicht jedoch das Gebot der genauen Analyse migrationsspezifischer Faktoren sowie das Bemühen um ein möglichst genaues Verständnis der kulturellen Konzepte der Betroffenen. Hierzu benötigt es eine fundierte psychiatrisch-psychotherapeutische Ausbildung und im besten Fall eine Weiterbildung bezüglich transkultureller Aspekte der Psychotherapie von Migranten. Aktuell sind in der Schweiz sowie auch in anderen Ländern derart ausgebildete Fachpersonen weder in ausreichender Anzahl noch flächendeckend vorhanden.
Über welche Zugangswege gelangen Flüchtlinge hauptsächlich in die psychiatrische oder/und die psychologische Versorgung? Janis Brakowski: Die Mehrzahl der Flüchtlinge nimmt über Stellen mit allgemeinem Versorgungsauftrag ersten Kontakt mit der Psychiatrie auf. Hierzu gehören insbesondere Notfallpraxen wie Permanence oder Hausarztpraxen, die Notfallstationen der Spitäler sowie Ambulatorien der psychiatrischen Kliniken beziehungsweise Kriseninterventionszentren. Insofern im Rahmen der ersten ärztlichen und/oder psychologischen Einschätzung ein Behandlungsbedarf besteht, werden Flüchtlinge in der Folge hauptsächlich in Einrichtungen mit allgemeinem Versorgungsauftrag behandelt. Dies liegt unter anderem an der Finanzierung der Behandlungen, welche beispielsweise für private Psychotherapiepraxen wegen der Kosten für Dolmetscher nur erschwert möglich ist (siehe auch Beitrag Seite 14). Die institutionelle Psychiatrie verfügt diesbezüglich zwar über alternative Finanzierungsmöglichkeiten, das
Janis Brakowski
Grundproblem der fehlenden direkten Kostenübernahme besteht jedoch auch hier.
Wie stigmabehaftet ist das Wort Psychiatrie für Flüchtlinge? Janis Brakowski: Zunächst möchte ich betonen, dass «die Flüchtlinge» in Bezug auf Fragen zur psychiatrischpsychotherapeutischen Behandlung als klar abgrenzbare Gruppe nicht existieren. Es handelt sich bei Flüchtlingen sowie auch bei Migranten um eine sehr heterogene Gruppe von Menschen. Die einzelnen Personen kommen aus unterschiedlichen Ländern, sind mit untereinander inkomparablen Kulturkonzepten ausgestattet und verfügen jeweils über eine eigene Lebensgeschichte und einen spezifischen Erfahrungshorizont. Die Aufgabe eines Behandlers ist es, zunächst herauszufinden, was die Psyche, mögliche Symptome und das Kranksein oder das Leiden an sich für die jeweilige Person bedeutet. Hierbei lernt der Behandler das Konzept des Patienten kennen, und man setzt sich in einem weiteren Schritt damit auseinander, ob beispielsweise aus Sicht des Patienten ein Stigma in Bezug auf psychische Krankheit besteht. Der Prozess der Auseinandersetzung mit der Erkrankung in Zusammenarbeit mit dem Therapeuten ist hierin sowohl für Flüchtlinge als auch für «Nichtflüchtlinge» und mitunter auch für den Behandler eine anspruchsvolle Aufgabe. Insbesondere bei Flüchtlingen sollten die besondere Situation des Fremdseins im Aufnahmeland und die Belastungen der Migration sowie ein möglicherweise erster intensi-
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ver Kontakt mit dem Thema der psychischen Erkrankung beachtet werden. Existierende Stigmata können durch Aufklärung der Bezugsgruppe, zum Beispiel Angehörige der Patienten, aber auch gesellschaftliche Gruppen sowie spezifische Psychoedukation des Betroffenen – am besten in dessen Muttersprache oder mit professionellen Dolmetschern – deutlich reduziert werden.
Wird die Behandlung von den Flüchtlingen ernst genommen und auch umgesetzt? Wie sieht es mit der Adhärenz bezüglich der Medikamente aus? Janis Brakowski: Allgemein besteht zu Beginn einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung die Aufgabe, mit dem Patienten die Indikation sowie die Motivation für die Therapie zu evaluieren. Bei diesem Verfahren gibt es aus meiner Erfahrung keine besonderen Unterschiede zwischen Migranten und Nichtmigranten. Wie beim Thema Stigmatisierung sind zunächst eine intensive Aufklärung über die Erkrankung sowie der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung essenziell, um in der Folge die Anforderungen sowie die Konsequenzen einer Therapie gemeinsam zu explorieren. Die Therapieadhärenz und die kontinuierliche Medikamenteneinnahme hängen hierbei unmittelbar von der Qualität der therapeutischen Beziehung sowie dem behutsamen Umgang des Behandlers mit den Bedürfnissen und Ängsten des Patienten ab. Ein Verweigern einer medikamentösen Therapie oder die unregelmässige Einnahme von Psychopharmaka sollte direkt angesprochen und neben der gemeinsamen Analyse möglicher Widerstände seitens des Patienten insbesondere mit wiederholender Psychoedukation bearbeitet werden.
Welches spezifische Versorgungsangebot gibt es in der PUK Zürich? Was sind die Herausforderungen bei der Diagnosestellung und der Therapie? Janis Brakowski: In der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich bieten wir sowohl eine stationäre als auch eine ambulante Behandlung im Rahmen des Schwerpunkts Migrations- und transkulturelle Psychiatrie an. Das multiprofessionelle Team der Station A1 hat jahrelange Erfahrung in der Behandlung von Migranten, und wir wenden insbesondere Elemente der ethnopsychiatrischen sowie der ethnopsychoanalytischen Theorie an. Im Zentrum stehen das gemeinsame Erlernen eines Krankheitsverständnisses sowie die interkulturelle Vermittlung verschiedener Inhalte zwischen Patienten und Behandlungsteam. Es entsteht letztlich ein (therapeutischer) Übergangsraum, welcher dem Patienten Sicherheit im Austausch über und im Umgang mit seiner Erkrankung gewährt. In ethnopsychiatrischen Gruppentherapien wird zudem mittels mehrerer Kotherapeuten sowie unter Einbezug der Angehörigen des Patienten versucht, die komplexen Lebens- und Krankheitsumstände besser zu verstehen sowie gemeinsame Lösungsstrategien zu erarbeiten. Im ambulanten Setting bieten wir neben der diagnostischen Abklärung zudem fortlaufende spezifische Psychotherapien entweder direkt in der Muttersprache oder unter Beizug von Übersetzern an. Familien- beziehungsweise systemtherapeutische, psychosozial-supportive sowie traumatherapeutische Ansätze stehen besonders im Fokus. Die Dia-
gnostik wird leitliniengerecht unter Berücksichtigung der kulturellen Besonderheiten des jeweiligen Menschen durchgeführt. Zu beachten ist insbesondere, dass viele Flüchtlinge unter somatoformen Beschwerden leiden. Diese sind ernst zu nehmen, und entsprechende Abklärungen sind im Rahmen der Ausschlussdiagnostik durchzuführen. Insgesamt haben Frauen mit Migrationshintergrund ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko.
Worauf muss man vor allem in sprachlicher Hinsicht achten, um nicht vor zusätzlichen Verständigungsproblemen zu stehen? Janis Brakowski: Zunächst ist es wichtig, dass die Patienten sich in der Gesprächssituation möglichst sicher fühlen. Viele Flüchtlinge haben Befragungen von Behörden, Polizisten oder anderen Instanzen hinter sich und sind es mitunter nicht gewohnt, mit einer Person allein zu sprechen oder auf persönliche Fragen zu antworten. Am Anfang der Exploration sollte unbedingt eine ausführliche Erläuterung der Umstände und des Zwecks des Gespräches sowie der ärztlichen Schweigepflicht erfolgen. Hilfreich ist es, dem Patienten die Möglichkeit zu geben, eine Vertrauensperson mit zum Gespräch zu bringen, und wenn ein Übersetzer dabei ist, den Patienten zu fragen, ob es diesbezüglich von seiner Seite Vorbehalte gibt, zum Beispiel, wenn der Übersetzer von einer anderen Ethnie ist, einen anderen Dialekt spricht oder dem Patienten beziehungsweise seinen Angehörigen persönlich bekannt ist. Eine Herausforderung für den Behandler in solchen Explorationen kann es sein, die Struktur psychiatrischer Interviews einzuhalten, um die relevanten medizinisch-psychiatrischen Informationen zu erfassen. Empfehlenswert ist es meiner Erfahrung nach, zunächst den Patienten ein Thema auswählen zu lassen und erst im Verlauf des Gespräches die relevanten Fragen zur Psychopathologie zu stellen. Der Patient sowie der Therapeut sollten zudem genügend Zeit aufwenden, um nachzufragen, wenn es zu unklaren Aussagen des Patienten beispielsweise zum Sprechen in Bildern oder Metaphern wie dem Beschreiben psychotischer Symptome als «Geister erleben» oder zu missverständlichen Erklärungen des Therapeuten beispielsweise durch Fachsprache oder Voraussetzung von kulturspezifischem Allgemeinwissen kommt. Das Einbeziehen der Angehörigen, die Reflexion der eigenen Erfahrungen mit Migranten aus anderen Behandlungen sowie ethnopsychiatrische Supervision sind ausserhalb der Therapiesitzungen hierbei sehr hilfreich.
Wie können sich Psychiater/Psychologen selbst schützen, wenn sie von den wahrscheinlich oftmals traumatischen Erlebnissen hören? Janis Brakowski: Wie Sie in der Frage richtig beschreiben, kann die Therapie psychischer Erkrankungen und insbesondere komplex traumatisierter Patienten zu einer Belastung des Behandlers führen. Im Rahmen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Ausbildung und insbesondere der Selbsterfahrung werden die Therapeuten deswegen unter anderem auf solche Situationen vorbereitet. Während entsprechender Therapien ist es im Weiteren essenziell, sich – als Team oder als Einzeltherapeut – in Supervision zu begeben, um derartige
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Schwierigkeiten, Gegenübertragungen oder auch Angst vor psychischer Beschädigung zu besprechen. Zudem bietet unsere Klinik einmal im Monat eine ethnopsychiatrische Intervision an, bei welcher interne und externe Behandler ihre Fälle vorstellen können und diese in der Gruppe reflektiert werden, um letztlich gemeinsam Handlungsstrategien für diese oft komplexen Situationen zu entwickeln.
Welche Verbesserungsvorschläge haben Sie für die aktuelle Versorgung? Janis Brakowski: Die zentralen Anliegen zur Verbesserung der Versorgung von Flüchtlingen und Migranten innerhalb der stationären und der ambulanten Behandlung sind aus meiner Sicht die folgenden: Zunächst sollten durch eine Intensivierung der Informationspolitik an den Stellen, wo Flüchtlinge zuerst in die Schweiz gelangen, die Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem reduziert werden. Hierbei steht die Sensibilisierung der Hilfsinstitutionen und deren Mitarbeiter für psychische Erkrankungen im Vordergrund. Als zweiten Pfeiler der Verbesserung sollten genügend professionelle Dolmetscher als unabdingbare Hilfspersonen bei der Behandlung von Patienten zur Verfügung stehen, welche über nicht ausreichende Deutschkenntnisse verfügen; diese Leistung sollte zudem durch die Krankenkassen oder die zuständigen Behörden wie die Sozialbehörde oder die Migrationsämter finanziert werden, sodass es nicht aus Kostengründen zu einer weiteren Diskriminierung von Migranten beziehungsweise Flüchtlingen innerhalb des Gesundheitssystems kommt.
Schliesslich ist zur spezifischen Behandlung dieser Pa-
tientengruppe eine Aus- beziehungsweise eine Weiter-
bildung in transkultureller oder Migrationspsychiatrie
hilfreich. Hier gibt es weiterhin zu wenig spezialisierte
Fachkräfte. Die stete Super- und Intervision der einzel-
nen Behandlungen durch entsprechend ausgebildete
Supervisoren würde zudem die Versorgungsqualität
sowie den Schutz der Therapeuten vor starken Belas-
tungen gewährleisten.
Bei allen Schwierigkeiten und Belastungen ist die Arbeit
mit Flüchtlingen aus meiner Sicht für die Therapeuten
eine spannende Bereicherung und kann Grundlage für
eine intensive und interessante Auseinandersetzung
mit den soziopolitischen, kulturellen und psychothera-
peutischen Fragestellungen unserer Zeit sein.
G
Sehr geehrter Herr Dr. Brakowski, wir danken Ihnen für das Interview.
Das schriftliche Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Janis Brakowski Oberarzt Station F2 für Früherkennung und Behandlung von Psychosen Stv. Leiter des Zentrums für Akute Psychische Erkrankungen (ZAPE) Psychiatrische Universitätsklinik Zürich E-Mail: Janis.Brakowski@puk.zh.ch
www.pukzh.ch
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