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FORTBILDUNG
Flüchtlinge in der Neurologie: Importierte Erkrankungen des Nervensystems erkennen und behandeln
Importierte Erkrankungen stellen in Europa ausgebildete Ärzte vor mögliche Probleme: Vor allem bei akuten Erkrankungen ist die geografische Anamnese essenziell, kann aber häufig nur unvollständig erhoben werden. Aktuell (22) müssen Neurologen deshalb das breite Spektrum der möglichen Erkrankungen von Flüchtlingen kennen, und sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass es in überfüllten Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende oder Flüchtlinge auch zu Ausbrüchen von akuten, potenziell lebensbedrohlichen Erkrankungen des Nervensystems kommen kann (23, 24). Der Beitrag stellt die wichtigsten neurologischen Syndrome und ihr Akutmanagement in der Population der Migranten dar.
Erich Schmutzhard
von Bettina Pfausler1 und Erich Schmutzhard
Einleitung
I n Europa ausgebildete Ärzte stehen bei importierten Erkrankungen oft vor Problemen: Die so wichtige Anamneseerhebung ist häufig unvollständig («ich war in Ostafrika») und hilft bei der Abklärung von chronischen oder auch subakuten Symptomen nur wenig. Vor allem bei akuten Erkrankungen ist eine detaillierte geografische Anamnese aber essenziell. Dazu gehören neben der saisonalen Anamnese die Expositionsanamnese, die regionale und lokale Anamnese inklusive Höhenlage der Exposition und so weiter dazu. Erheblich erschwert wird die Abklärung bei Migranten, Immigranten und Flüchtlingen zudem durch sprachliche und kulturelle Kommunikationsprobleme. Darüber hinaus werden insbesondere Flüchtlinge und Migranten nicht nur in ihrer Heimat traumatisiert, sondern erleben in einer häufig nicht reibungsfrei verlaufenden Flucht noch zusätzliche Traumata und werden im Ankunftsland Mitteleuropas von vielen Menschen als Belastung empfunden und entsprechend «von Gesellschaft und Politik behandelt» (1–7). In einer erst vor Kurzem publizierten Umfrage unter fast 30 000 deutschen Medizinern gaben 63 Prozent der befragten selbstständigen Ärzte an, dass die Zahl der behandelten Migranten und/oder Flüchtlinge im Verlauf der Jahre 2015 und 2016 grösser geworden sei. 74 Prozent der angestellten Ärzte schätzen auch die Anzahl der hospitalisierten Migranten und Flüchtlinge als zunehmend ein (7). Es sind vor allem militärische Konflikte, die im Heimatland die Menschen bedrohen und zur Flucht zwingen.
1 Univ.-Klinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
Exemplarisch werden zwei Regionen dargestellt, die in den letzten Jahren aufgrund der Konfliktsituationen in Syrien, Afghanistan, Eritrea, Jemen und Somalia weitestgehend aus dem Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sind, aber die Problematik der importierten Erkrankungen hervorragend widerspiegeln: In den Kivu-Provinzen (Nord- und Südkivu) der demokratischen Republik Kongo waren in den Jahren 2007 bis 2009 ein Viertel aller Todesfälle direkt assoziiert mit dem beziehungsweise bedingt durch den lokalen militärischen Konflikt. Im gleichen Zeitraum wurden in Norduganda (Provinz Gulu) 15 Prozent der Todesfälle als direkt assoziiert mit dem beziehungsweise bedingt durch den lokalen Konflikt mit der Lord Resistance Army angesehen (2). Diese Zahlen werden in den Regionen Syrien, Libyen, Irak und Afghanistan, die dem europäischen Kontinent wesentlich näher liegen, vergleichbar hoch geschätzt. In den letzten eineinhalb Jahren hat sich die Zahl der in Mitteleuropa angekommenen Migranten und Flüchtlinge deutlich erhöht, und vermutlich ist jeder Vierte minderjährig. Pro Quartal werden in Deutschland mehr als 2000 meldepflichtige Erkrankungen bei Flüchtlingen dokumentiert (8, 9). Dies betrifft vor allem die «altbekannten» Erkrankungen, die durchaus auch für den Neurologen Relevanz haben, wie zum Beispiel die Varizella-Zoster-Virusinfektion, die Influenza, die Hepatitis, vor allem aber auch die Tuberkulose, die eine zunehmende Zahl verzeichnet, inklusive der ZNS-Tuberkulose, das Läuserückfallfieber, die Brucellose und den Typhus. Neben diesen typischen entweder aus der Heimat mitgebrachten oder auf der Flucht erworbenen Infektionskrankheiten soll vor allem darauf hingewiesen werden, dass durchaus auch nicht infektiöse Erkrankungen, zum Beispiel genetisch determinierte Anämien mit sekundären neurologischen Problemen (Schlaganfall), die eine Zunahme verzeichnen, oder Schlaganfälle –
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determiniert durch zugrunde liegende chronische Erkrankungen (z.B. Chagas-Erkrankung) – bei Migranten und Flüchtlingen gesehen werden können und als solche nicht auf der «gängigen» differenzialdiagnostischen Aufarbeitungsliste von mitteleuropäischen Neurologen stehen. Daneben werden (zu Recht) Empfehlungen gegeben, bei Flüchtlingen den Impfstatus und/oder verschiedene Ernährungsparameter zu überprüfen, aber auch ein Screening auf metabolische Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes mellitus oder Malignome durchzuführen, dies zusätzlich zu den Untersuchungen auf subakute oder chronische Erkrankungen (HIV, Hepatitis, Tuberkulose etc.). Flüchtlinge und Asylbewerber, generell Fremde und Ausländer, werden nicht selten als bedrohlich wahrgenommen, und mitunter wird ihnen die Einschleppung von für die lokale Bevölkerung «gefährlichen» Krankheiten unterstellt. In der Medizin für und von Migranten gilt allerdings eher: Asylsuchende und Flüchtlinge sind nicht gefährlich, sie sind gefährdet! Wenngleich die Erkenntnis, dass bei kranken Migranten der Anteil an Infektionskrankheiten und/oder die Erkrankung an oder die Besiedlung mit multiresistenten Erregern, zum Beispiel bei Tuberkulose, durchaus höher sein kann als in der durchschnittlichen mitteleuropäischen Bevölkerung (9–11). Akute Infektionen des Nervensystems werden hingegen häufiger bei Touristen, Kurzzeitreisenden und Tropenrückkehrern diagnostiziert. Bei Migranten und Flüchtlingen sind sehr viel häufiger chronische, oft auch unter den Fluchtbedingungen erworbene und damit nicht unmittelbar aus dem Herkunftsland stammende Infektionskrankheiten wie auch nicht infektiöse Erkrankungen (z.B. Hämoglobinopathien, Schlaganfall etc.) zu sehen (12).
Wichtige Erkrankungen des Nervensystems bei Migranten und Flüchtlingen In der Literatur werden folgende Infektionskrankheiten des Nervensystems als wichtigste und häufigste bei Migranten, Flüchtlingen, Reiserückkehrern beziehungsweise Kurzzeitreisenden und Touristen (13, 14) aufgeführt:
Bei Flüchtlingen und Migranten G Tuberkulose/ ZNS-Tuberkulose G Neurozystizerkose G Schistosomiasis, andere Wurminfektionen inklusive
Larva migrans – eosinophile Meningitis G HIV (human immunodeficiency virus) G Lepra G Rückfallfieber, inklusive ZNS-Affektion G Brucellose inklusive spinale Formen G Malaria – häufig «nur» oligosymptomatische Parasit-
ämie.
Bei Tropenrückkehrern und Touristen G zerebrale (Plasmodium falciparum) Malaria G Denguefieber G Salmonellosen G virale ZNS-Infektionen G Rickettsiosen G Tuberkulose G Schistosomiasis.
Kasten 1:
Herkunft von Migranten (in Prozent aus einer Kohorte von ungefähr 4 Millionen Menschen [15])
G Europäische Union:
27,4 %
G Nicht-EU europäische Länder: 23,4 %
G Afrika:
22,1 %
G Asien:
18,8 %
G Amerika:
8,3 %
G Ozeanien:
0,1 %
Kasten 2:
Neurologische Syndrome bei Migranten und Flüchtlingen
G akute Bewusstseinsstörung G meningeales Syndrom G akute zerebrale Herzsymptomatik G akuter Kopfschmerz G chronischer Kopfschmerz G akute spinale Symptomatik G subakute/chronische spinale Symptomatik G Erkrankungen des neuromuskulären Übergangs G epileptische Anfälle/Epilepsie G Polyneuropathiesyndrom G extrapyramidal-motorische Symptomatik
Kasten 3:
Akute Bewusstseinstrübung und Fieber
G bakterielle Meningitis (auch an ungewöhnliche Erreger denken ) G Rickettsiosen (cave!: Exanthem, Eschar) G Salmonellose G virale ZNS-Infektionen/Enzephalitis (an Arbovirosen und hämorrhagische Virusinfektionen
denken!) G zerebrale Malaria (selten bei Migranten)
Ein weiterer, wesentlicher Unterschied zwischen Tropenrückkehrern und Migranten ist die Zeitdauer, die zwischen dem Beginn der Symptomatik und dem Erstkontakt mit einer europäischen Gesundheitseinrichtung vergeht. Während Reiserückkehrer zum überwiegenden Teil bei Auftreten eines Symptoms ärztlichen Kontakt innerhalb von Tagen (bis maximal Wochen) suchen, dauert es bei über 90 Prozent der Migranten und Flüchtlinge mehr als einen Monat, bis ärztlicher Rat bei Auftreten eines Symptoms gesucht wird (14). Eine grosse Herausforderung ist die Tatsache, dass Migranten zwar zu einem überwiegenden Teil aus relativ klar definierten Regionen, nicht wenige jedoch auch aus entlegenen, für die mitteleuropäischen Ärzte ungewohnten und unbekannten Regionen kommen. Kasten1 listet die Herkunft von Migranten aus insgesamt 190 unterschiedlichen Ländern und/oder Territorien auf (übernommen aus [15]).
Neurologische Syndrome bei Migranten Im Sinne eines Leitfadens für die tägliche Praxis werden die wichtigsten neurologischen Syndrome in der Popu-
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lation der Migranten aufgelistet und die wichtigsten – zumindest im Akutmanagement – in Kasten2 dargestellt (in Anlehnung an [16]).
Akute/subakute Bewusstseinsstörung Die bei Migranten und Flüchtlingen am häufigsten gesehene Differenzialdiagnose einer Bewusstseinsstörung ist die einer akuten Bewusstseinsstörung mit Fieber (evtl. zusätzlich Hautveränderungen oder epileptischer Anfall). Kasten3listet die wichtigsten Differenzialdiagnosen auf, die ein unverzügliches Notfallmanagement erfordern. Im Gegensatz zu Afrika-Reiserückkehrern und Touristen, bei denen eine Plasmodium-falciparum-Infektion geradezu typischerweise zu einer Multiorganmalaria und damit auch – und häufig führend in der Symptomatik – zu einer zerebralen Malaria führt, wird eine solche Multiorganmalaria oder zerebrale Malaria bei Migranten nur sehr selten gesehen.
Zur Illustration ein Fallbericht EinFlüchtlingausAfghanistan,17Jahre,männlich,wirdin dieNotaufnahmewegenNasenbluten,Petechien,Makrohämaturieund40GradFiebergebracht.Ergibtan,ersei seit sechs Tagen in Österreich und sei vor mehr als drei MonatenausAfghanistangeflohenundüberdenLandweg nach Mitteleuropa gekommen. Klinisch bestehen nebendenPetechieneinmilderMeningismusundeinegeringequantitativeBewusstseinsstörung(Glasgow-ComaSkala[GCS]13).ImRoutinelaborfindensicheinemässiggradigeHepatopathie,einegeringgradigerenaleRetention, im Blutbild eine relative Leukopenie, eine mässiggradigeAnämiesowieeinemassiveThrombozytopeniemit 3000/ul (normal 150 000–400 000/ul). Im wegen des FiebersabgenommenenBlutausstrichgelingtderNachweis vonPlasmodium-vivax-TrophozoitenundGametozyten. BedingtdurcheineminimaleoberflächlicheSubarachnoidalblutungwirdeinkausalerZusammenhangzwischen demschwerenhämorrhagischenFieber(beiThrombozytopenieassoziiertmitMeningismusundeinergeringgradigenBewusstseinsstörung[GCS13])unddemPlasmodiumvivax-Befundbezweifelt.LetztlichwirddieDiagnoseeines aufderFlucht(vermutlichamBalkan)erworbenen,ausgeprägten,dualen,viralenhämorrhagischenFiebers,bedingt durchPappataci-VirusundgleichzeitigHanta-Virus,mit multiplenBlutungeninklusiveangedeuteterSubarachnoidalblutung(imRahmendesviralenhämorrhagischenFiebersaufgetreten)gestellt.EinesymptomatischeTherapie istletztlichnachsechsTagenIntensivstationerfolgreich, undderPatientkannnachinsgesamtdreiWochenausder stationärenBehandlungentlassenwerden. Ein diagnostischer Algorithmus zur Abklärung eines Flüchtlings mit akuter Bewusstseinstrübung und Fieber könnte folgendermassen aussehen:
Akute Bewusstseinstrübung mit Fieber 1. Schritt: Fundoskopie mit folgenden Fragen: G Liegen retinale Tuberkulome vor?: eine ZNS-Tuber-
kulose abklären. G Liegt eine Malaria-Retinopathie vor?: eine zerebrale
Malaria abklären. G Liegt ein Papillenödem vor?: bei erhöhtem Hirn-
druck: diffuses Hirnödem, Enzephalitis, bakterielle Meningitis, Pyozephalus, Hydrozephalus, Zerebritis, Abszess abklären.
2. Schritt: Zerebrale Bildgebung (kraniale Computertomografie und/oder kraniale Magnetresonanztomografie) mit folgenden Fragen durchführen: G Liegt ein diffuses Hirnödem vor?: an Enzephalitis,
Meningitis, zerebrale Malaria denken. G Liegt eine meningeale Anspeicherung nach i.v. Kon-
trastmittel vor?: an bakterielle Meningitis denken. G Liegt ein akuter Hydrozephalus vor?: ZNS-Tuber-
kulose, ZNS-Mykose abklären. G Liegt ein Pyozephalus vor?: eine bakterielle Menin-
gitis abklären. G Liegen multiple Hirnabszesse/Zerebritis, septische
Herdenzephalitis vor?: an eine Endokarditis denken. Istbeidesunauffällig:Lumbalpunktion durchführen.
3. Schritt: Abklärung mittels Liquor cerebrospinalis: G Liegt eine polymorphkernigePleozytose vor, ist die
Liquorglukose erniedrigt, das Laktat erhöht?: GramFärbung auf bakterielle Meningitis durchführen. G Liegt eine lymphozytärePleozytose vor, ist die Glukose +/– normal?: – virale PCR (polymerase chain reaction) – Tuschepräparat – Ziehl-Neelsen-Färbung, auf Mykobakterien unter-
suchen – Immunglobuline im Liquor suchen. G Liegt eine eosinophilePleozytose vor?: Larva migrans visceralis durch Angiostrongylus spp., Gnathostoma spp., Trichinella spp. abklären. – Liquornormal:an zerebrale Malaria denken und
abklären.
Weitere Ursachen für eine akute Bewusstseinsstörung Akute Bewusstseinsstörung mit epileptischem/n Anfall/Anfällen: Eine akute Bewusstseinsstörung mit epileptischem/n Anfall/Anfällen beziehungsweise mit neurologischer Herdsymptomatik soll neben einer intrakraniellen Blutung, einer zerebralen Ischämie, einem Hirnabszess oder sonstigen Raumforderungen auch an eine pontine Myelinolyse und eventuell an eine Vitaminmangelerkrankung (Wernicke-Enzephalopathie, Nikotinamidmangel) denken lassen. Die entsprechende Abklärung ist unverzüglich einzuleiten. Eine akute Bewusstseinstrübung mit meningealem Syndrom lässt an eine akute bakterielle Meningitis, eine virale (oder evtl. auch durch Protozoen bedingte) Enzephalitis, in sehr seltenen Fällen auch an einen akuten Verschlusshydrozephalus (cave!: Neurozystizerkose) denken. Akute zerebrale Herdsymptomatik/Stroke-like-Syndrom: Bei Flüchtlingen mit einer genetisch bedingten Hämoglobinopathie (unter anderem: Thalassämie, Sichelzellerkrankung) können zerebrovaskuläre ischämische Ereignisse gehäuft auftreten, bei Migranten aus dem entsprechenden Endemiegebiet (Südamerika/Mittelamerika) ist bei ungeklärter Kardiomyopathie mit einer zerebrovaskulären Ischämie auch an eine zugrunde liegende Chagas-Erkrankung zu denken. Ein akuter Schlaganfall, bei dem ein subfebriler Zustand beziehungsweise aktueller fieberhafter Infekt vorausgegangen ist beziehungsweise gleichzeitig besteht, sollte insbesondere bei Migranten auch an eine Endokarditis denken lassen. Eine unverzüglich arteriell abgenom-
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mene Blutkultur und eine transösophageale Echokardiografie sind unverzichtbar. Akute Kopfschmerzsymptomatik: In den heissen Sommermonaten sollte eine akute Kopfschmerzsymptomatik – neben der sonst üblichen Abklärung – bei Flüchtlingen, die eine lange und entbehrungsreiche Flucht hinter sich haben, auch an Exsikkose, hitzeassoziierte Erkrankungen wie Sonnenstich, Hitzehyperpyrexie, Hitzschlag oder auch an eine Sinus-, eine innere Hirnvenenthrombose denken lassen. Chronischer Kopfschmerz: Ein chronischer Kopfschmerz ist bei Migranten aus einem Endemiegebiet bei Neurozystizerkose, aber auch bei basaler Meningitis (Mycobacterium tuberculosis, Kryptokokken) zu sehen. Chronischer Kopfschmerz kann allerdings auch als Ausdruck eines Spannungskopfschmerzes auf der Basis physischer und/oder psychischer Überlastung gesehen werden. Akute spinale Symptomatik: Eine akute Myelitis kann direkt oder indirekt erregerassoziiert bedingt sein. Enteroviren, seltener auch Arboviren, beides Infektionsrisiken auf der Flucht (auch FSME-Viren, West-Nil-Virus), können eine schwerpunktmässige Poliomyelitis-Symptomatik verursachen. Aber auch das Varizella-ZosterVirus, Herpes-Simplex-Viren Typ 1, das Epstein-Barr-Virus, das Zytomegalievirus oder Masernviren können eine akute Myelitis verursachen. Mykobakterien können eine subakute bis chronische Myelitis bedingen wie auch eine Schistosoma-spp.-Infestation. Nematodenlarven, die typischerweise aus Südostasien importiert werden, können eine eosinophile Myelitis oder Radikulomyelitis verursachen. Chronische spinale Symptomatik: Eine chronische spinale Symptomatik ist nicht selten Ausdruck einer HIV 1/2 oder einer humanen T-lymphotrope-Virus-1/2(HTLV-1/2-)assoziierten Myelopathie, einer Fehl-/Mangelernährung, aber auch eines chronisch entzündlichen Prozesses (Brucella spp., mykobakterielle Spondylitis mit paravertebraler/epiduraler Abszessbildung, Gibbusbildung etc.). Epileptische Anfälle sind in vielen Flüchtlingsherkunftsregionen durch eine Neurozystizerkose bedingt. Dies bedeutet, dass bei Flüchtlingen mit einem ersten epileptischen Anfall oder mit einer nicht abgeklärten Epilepsie und aktuellem epileptischen Anfall eine zerebrale Bildgebung, eventuell eine Serologie und vor allem eine Antigenbestimmung auf Cysticercus cellulosae durchgeführt werden müssen. Eine symptomatische Neurozystizerkose bedarf einer Kombinationstherapie mit Praziquantel und Albendazol, begleitet von Steroiden und einer antikonvulsiven Therapie. Polyneuropathiesyndrom: Eine akute entzündliche Polyneuropathie (Polyradikuloneuritis/Guillain-BarréSyndrom, GBS) wird bei Menschen aus tropischen Ländern gehäuft mit HIV assoziiert gesehen, aber auch CMV und ein Campylobacter-jejuni-assoziertes GBS sind bei Flüchtlingen zu sehen. Periphere Neuropathien können infektiös und/oder toxisch bedingt sein, neben Lepra, Varizella-Zoster-Virus oder Borrelien spp. ist in diesem Zusammenhang auch eine Corynebacterium-diphtheriae-Infektion mit Toxinwirkung abzuklären.
Zweiter Fallbericht Ein54-jährigerMigrant,ursprünglichausderGrenzregion Türkei/IrakkommendundseitzweiJahreninMitteleuropa
lebend,klagtindenletztenMonatenüberzunehmende DysästhesienanbeidenoberenundunterenExtremitäten. Elektrophysiologischwirdeinemässiggradige,gemischte Polyneuropathiefestgestellt,dieUrsachenforschungbleibt ohneBefund.Wegendannerstmals–zufällig–entdeckter milder,hypopigmentierter,leichtlividverfärbterHautareale wirdderPatientdermatologischvorgestellt.BeiderdetailliertendermatologischenUntersuchungfälltnebenden hypopigmentierten,leichtlividverfärbten,asymmetrisch verteiltenHautarealeneintrophischesUlkusandergrossen ZehesowieeinemildedistalakzentuierteHypästhesieauf, dahererfolgtdieÜberweisungandieUniversitätsklinikfür NeurologieInnsbruck.Beidernochmaligenneurologischen Untersuchung fällt die schon beschriebene gemischte Polyneuropathieauf;auffälligsinddieamRückenbefindlichenHautläsionen,dieeindeutigalsmässiggradighypästhetischklassifiziertwerdenmüssen.DasUlkusander grossenZeheisttatsächlichalstrophischesUlkuseinzustufen, es wird nun sowohl eine Nervus-suralis-Biopsie, als aucheineHautbiopsiedurchgeführt.InbeidenBiopsaten finden sich bei der Aufarbeitung reichlich VirchowSchaumzellen,beiSpezialfärbungmitZiehl-Neelsenfinden sichklumpenförmigmassenhaftMykobaktieren.Damitist dieDiagnoseeinermultibazillärenLepragesichert,undder Patient wird einer Dreifachkombinationstherapie mit Rifampicin, Dapson und Clofazimin erfolgreich unterzogen.ZweiJahrenachBeginnderTherapiehatsichder ZustanddesPatientenvonseitenderNeuropathieklinisch und elektrophysiologisch mässiggradig gebessert, die Hautveränderungensindkomplettverschwunden. Extrapyramidal-motorische Symptome werden bei Migranten in Einzelfällen als Ausdruck einer akuten Manganintoxikation (selbst gefertigtes Ephedrin zur i.v. Applikation) beziehungsweise bei chronischer Manganexposition (Südasien, Mangan-Tagbergbau) gesehen. Diabetes mellitus, andere metabolische Erkrankungen (17), Schlaganfall bei genetisch bedingten Hämoglobinopathien, physische und/oder psychische Traumen als Auslöser der Migration beziehungsweise während der Migration mit Somatisierung und Stigmatisierung (18–21) erschweren die häufig ohnehin komplexe, aber in einer Akutsituation unverzichtbare, detaillierte Anamnese, die klinisch-neurologische Untersuchung und die Kommunikation mit den Flüchtlingen als Patienten.
Fazit Lokale Konflikte, Sicherheitsverluste, Bürgerkrieg oder Krieg sowie Naturkatastrophen sind mächtige «driving forces», die Tausende von Menschen zwingen, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und Zuflucht in Regionen zu suchen, in denen physische und psychische Sicherheit, unmittelbares Überleben, aber auch medizinische Versorgung als ausreichend gewährleistet erscheinen oder erhofft werden. Die absoluten Zahlen von Flüchtlingen, die in den letzten 18 Monaten einige wenige europäische Länder sowohl in ihren gesellschaftlichen als auch wirtschaftlichen Ressourcen gefordert haben, erfordern nicht nur von Aussen- und Migrationspolitikern, sondern vor allem auch von der Gesundheitspolitik klare Entscheidungen: Wie Khan und Mitarbeiter kürzlich schrieben, sollten politische Entscheidungen auf evidenzbasierten Tatsachen in Bezug auf Gesundheitsrisiken und Belastungen der Gesundheitssysteme beruhen und nicht auf unbegrün-
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deten Ängsten und Vorurteilen (22–25). Ausserdem
muss die Gesundheitspolitik für die ankommenden
Flüchtlinge eine kosteneffiziente, kollektive gesundheit-
liche Sicherstellung garantieren. Schliesslich muss klar
von der Politik, insbesondere der Gesundheitspolitik,
anerkannt werden, dass die sich immer weiter öffnende
Schere der Gesundheits- und der sozialen sowie sozio-
ökonomischen Ungleichheiten zwischen High-Income-
und Low-Income-Ländern die Hauptursache für die
globale Flüchtlingskrise darstellt und dass diese Un-
gleichheiten in alle politischen Planungen und gesund-
heitspolitischen Lösungsversuche einbezogen werden
müssen.
Aktuell (22) müssen Neurologen das breite Spektrum
der möglichen Erkrankungen von Flüchtlingen kennen,
und sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass es
in überfüllten Gemeinschaftsunterkünften für Asyl-
suchende oder Flüchtlinge auch zu Ausbrüchen von
akuten, potenziell lebensbedrohlichen Erkrankungen
des Nervensystems (und darüber hinausgehend) kom-
men kann (23, 24).
G
Korrespondenzadresse: Univ.-Prof. Dr. Erich Schmutzhard, MD, DTMH (Liv)
Universitätsklinik für Neurologie Medizinische Universität Innsbruck
Anichstrasse 35 A-6020 Innsbruck Tel. 0043-512-504 81808 E-Mail: erich.schmutzhard@i-med.ac.at
Interessenlage: Bettina Pfausler gibt keinen Interessenkonflikt an.
Erich Schmutzhard gibt keinen kommerziellen Interessenkonflikt an; er leitet die Task-Force der European Academy of Neurology für «Neurology in Subsahara Africa».
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Merkpunkte:
G Chronische Erkrankungen sind bei Migranten
und Flüchtlingen häufig.
G Erkrankungen werden nicht nur aus dem Hei-
matland mitgenommen, sie werden auch auf
der Fluchtroute erworben, daher sind eine
detaillierte Anamnese und ausreichende medi-
zingeografische und epidemiologische Kennt-
nisse essenziell.
G Migranten erkranken auch an nicht infektiösen
Erkrankungen, z.B. Schlaganfall bei Chagas-
Kardiomyopathie oder genetisch bedingten
Hämoglobinopathien.
G In überfüllten Gemeinschaftsunterkünften
kann es zu Ausbrüchen von akuten, potenziell
lebensbedrohlichen Erkrankungen des Ner-
vensystems kommen.
G Die ZNS-Tuberkulose und die Neurozystizer-
kose sind bei Migranten wichtige Erkrankun-
gen des ZNS.
G Die zerebrale Malaria (Multi-Organ Malaria)
und das Dengue-Fieber sind wichtige, poten-
ziell lebensbedrohliche Erkrankungen bei Rei-
senden bzw. Tropenrückkehrern.
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