Transkript
SYMPOSIUM
Depression aus epileptologischer und psychiatrischer Sicht
Prokonvulsiver Effekt der Antidepressiva wird überschätzt
An einem gemeinsamen Symposium der Schweizerischen Epilepsie-Klinik der Klinik Lengg und der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich trafen sich Neurologen und Psychiater, um wichtige Aspekte von Depression und Epilepsie zu diskutieren. Dabei kamen Diagnostik und Therapien der Depression, Wechselwirkungen zwischen den beiden Krankheitsbildern und praktische Aspekte zum Vorgehen bei Komorbidität zur Sprache.
«Die Hälfte der Depressionen bleibt unbehandelt – und 10 bis 15 Prozent der Depressiven versterben durch Suizid», erinnerte PD Dr. med. Annette Brühl, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich, an die Schwere dieser Erkrankung. Daher sei es wichtig, immer an die Möglichkeit einer Depression zu denken und aktiv nach entsprechenden somatischen und psychischen Symptomen zu fragen sowie bei jeder Visite die Suizidalität abzuklären.
Psychotherapie oder Antidepressiva, Psychotherapie und Antidepressiva? Nach den aktuellen Empfehlungen kann bei leichten Depressionen zwei Wochen abgewartet werden, sonst kommen wie auch bei mittelgradigen Depressionen Psychotherapie oder Antidepressiva in Betracht. Bei schweren Depressionen lautet die Behandlungsempfehlung, Psychotherapie und Pharmakotherapie zu kombinieren. Unter Therapie soll ein wöchentliches Monitoring erfolgen. Ist nach drei, spätestens vier Wochen eine Besserung der Symptomatik um mehr als 50 Prozent eingetreten, kann die Behandlung fortgesetzt werden. Bleibt zu diesem Zeitpunkt ein eindeutiger Behandlungserfolg aus, muss die Therapie angepasst werden, gegebenenfalls durch Augmentation (Lithium, Antipsychotika, Schilddrüsenhormone). Weitere unterstützende Ansätze sind Sport und Bewegung, Lichttherapie, Schlafentzugstherapie, Lebens- und Ergänzungsmittel.
Elektrokrampftherapie Die Rückfallwahrscheinlichkeit sei bei schweren Depressionen beträchtlich, sagte Prof. Dr. med. Heinz Böker, Psychoanalytische Praxis, Zürich. 20 bis 40 Prozent der Erkrankten sprechen nicht oder nicht ausreichend auf psychopharmako-
logische Therapien an. In solchen schwierigen Situationen kann die Elektrokrampftherapie (EKT) eingesetzt werden. Von der EKT darf man bei Depressionen ohne Therapieresistenz in 80 bis 90 Prozent, bei Depressionen mit Therapieresistenz in 50 bis 70 Prozent der Fälle eine Wirksamkeit erwarten. Die S3-Leitlinie «Unipolare Depression» empfiehlt, die EKT bei schweren, therapieresistenten depressiven Episoden in Betracht zu ziehen (1). Sie rät auch zur EKT-Erhaltungstherapie bei Patienten, die zuvor gut auf EKT angesprochen haben, oder bei fehlendem Ansprechen auf eine andere leitliniengerechte Therapie, bei psychotischen Symptomen sowie bei entsprechender Patientenpräferenz. Dennoch begegnen viele der EKT mit Vorurteilen und verbreiteter Ablehnung, in der Schweiz werden geschätzt gerade einmal 100 Patienten pro Jahr mit EKT behandelt. «Die EKT ist Teil eines mehrmodalen Behandlungskonzepts und eine sehr wirksame und relativ nebenwirkungsarme Methode in der Depressionsbehandlung», betonte Prof. Böker, «allerdings steht die Überweisungspraxis – Stichwort ‹EKT als letzte Wiese› – nicht im Einklang mit der leitlinienorientierten Behandlung der therapieresistenten Depressionen. Eine Enttabuisierung der EKT ist daher notwendig.»
Deep-Brain-Stimulation und Vagusnervstimulation Bei Patienten mit schwersten, langjährigen und therapieresistenten Depressionen nannte Prof. Dr. Thomas Schläpfer, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, als weitere Optionen magnetische oder elektrische Stimulationsverfahren. Die nicht invasive repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) wurde inzwischen bei Tausenden von Patienten eingesetzt, mit statistisch und auch klinisch signifikanten Effekten. Die Magnet-Anfallstherapie (Magnetic Seizure Therapy, MST)
wurde bisher bei rund 200 Patienten mit nachgewiesener klinischer Wirksamkeit angewendet, erfordert aber eine Narkose. Bei rund tausend Patienten hat sich die Vagusnervstimulation (VNS) als klinisch klar wirksam erwiesen. Sie ist jedoch ein invasives Verfahren, das einen chirurgischen Eingriff zur Platzierung der Stimulationselektroden am Nervus vagus im linken Halsbereich und zur Implantation eines Impulsgenerators sowie im Verlauf Batteriewechsel erfordert. Als Verfahren mit einem intrakraniellen neurochirurgischen Eingriff ist die tiefe Hirnstimulation (deep brain stimulation, DBS) vorderhand noch ein Forschungsgebiet von grosser Tragweite, das auch zu neuen Konzepten über die zugrunde liegende Neurobiologie psychiatrischer Krankheiten führen wird, so Prof. Schläpfer überzeugt: «Diese neuen Erkenntnisse werden auch zu einer Destigmatisierung der psychiatrischen Leiden führen.» Die für die Stimmung wichtigen neuralen Schaltkreise befinden sich im frontalen Kortex und im Hippocampus, soweit sie kognitive Aspekte (Gedächtnisstörungen, Gefühle von Wertlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, Schuld und Suizidalität) betreffen (2). Mit Nucleus accumbens und Amygdala werden Vermeidungssowie Belohnungsantworten auf emotionale Stimuli (Anhedonie, Angst, Motivationsverlust) in Verbindung gebracht. Dem Hypothalamus kommt Bedeutung zu für neurovegetative Symptome wie Schlafstörungen, Appetitverlust und Libidoabschwächung. Bisherige Forschungsprojekte mit DBS galten drei dieser Hirnareale und ergaben bei ähnlich schwer erkrankten Depressiven vergleichbare Effektstärken, wozu relativ hohe Stimulationsintensitäten notwendig waren. Das Bewertungs- und Belohnungssystem als Komponente des limbischen Systems umfasst auch das mittlere Vorderhirnbündel (medial forebrain bundle, MFB). Sein superolateraler Bereich (slMFB) wird als Ziel für die DBS bei extrem therapieresistenten Patienten mit bemerkenswerten ersten Resultaten erforscht, so Prof. Schläpfer
Depression und Epilepsie: Ein neuropsychiatrischer Grundmorbus? Die Depression sei bei Epilepsiepatienten mit 32 Prozent eine sehr häufige Komorbidität, erklärte Dr. phil. Matthias Schmutz, Leitender Psychologe, Schweizerische Epilepsie-Klinik, Klinik Lengg, Zürich. Bei therapierefraktärer Epilepsie wird die Depressionshäufigkeit mit 20 bis
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
SYMPOSIUM
55 Prozent angegeben, bei Anfallsfreiheit hingegen mit 9 bis 12 Prozent. Depressive Epilepsiepatienten werden nur in 40 Prozent der Fälle antidepressiv behandelt. Verschiedene psychoreaktive Aspekte erklären, warum eine Epilepsie Depressionen begünstigen kann: G Die Unvorhersehbarkeit der Anfälle führt zu
einer «erlernten Hilflosigkeit». G Der rezidivierende Kontrollverlust beein-
trächtigt die Selbstwirksamkeit. G Anfälle gehen mit Beschämungsgefühlen
einher, welche die Selbstwertwahrnehmung beschädigen. G Rezidivierende Anfälle bewirken eine Diskontinuität im Zeit- und Identitätserleben. G Hinzu kommen reale soziale und berufliche Einschränkungen sowie die gesellschaftliche Stigmatisierung.
In kontrollierten, klinischen Studien gingen die verschiedenen Antiepileptika unterschiedlich häufig mit depressiven Episoden einher. Besonders häufig waren sie mit Barbituraten, Vigabatrin, Topiramat, Zonisamid und Levetiracetam (3). Umgekehrt haben primär depressive Patienten ein erhöhtes Risiko für eine «sekundäre» Epilepsie. Das habe zur Vorstellung eines neurospychiatrischen Grundmorbus geführt, schilderte Dr. Schmutz. Als Hinweise können die Wirksamkeit einiger Antiepileptika gegen Depression und die VNS gewertet werden. Als Hypothese wurde ein gemeinsamer Monoaminmangel bei Depression und Epilepsie postuliert.
Atypische Depression bei Epilepsie Bei Patienten mit Epilepsie äussern sich depressive Symptome oft in atypischer und subtiler Weise als: G paroxysmale Irritabilität oder Dysphorie G Abgeschlagenheit, Anergie G Stimmungsschwankungen mit Euphorie G Freud- und Hoffnungslosigkeit G diffuse Schmerzen G Insomnie oder Hypersomnie G Furcht/Angst.
Die Symptome werden oft – irrtümlicherweise – mit den Antiepileptika oder den Anfällen in Verbindung gebracht und in den gängigen Selbstbeurteilungsfragebögen (Beck, Hamilton, Montgomery) nur unzureichend abgebildet, so Dr. Schmutz.
Bei Epilepsiepatienten werden organisch bedingte, anfallsassoziierte depressive Störungen beobachtet. Dazu zählen präiktale Verstimmungszustände mit Dysphorie, Ängstlichkeit oder Reizbarkeit, ferner iktale affektive Störungen mit Angst als Teil des Aura-Erlebens bei limbischen Anfällen sowie postiktale Verstimmungszustände von bis zu drei Tagen Dauer mit erhöhtem Suizidrisiko. Nach epilepsiechirurgischen Eingriffen ist bis zu drei Monate postoperativ das Auftreten von affektiver Labilität und Stimmungsschwankungen bekannt. Meist kommt es zur spontanen Remission, bei rund 30 Prozent entwickelt sich eine behandlungsbedürftige depressive Symptomatik. Eine präoperative Depression ist ein Risikofaktor für eine postoperative affektive Erkrankung. Depressive Störungen können nach einer Epilepsieoperation aber auch de novo auftreten (bei ca. 10% nach 6 Monaten). Sie zeigen ein typisches Erscheinungsbild (Minor/ Major-Depression) und einen günstigen Verlauf.
Pro- oder antikonvulsiver Effekt der Antiepileptika? Studien zum Auftreten von De-novo-Anfällen unter verschiedenen Antidepressiva lassen eine Dosisabhängigkeit erkennen (4). In einer Vielzahl von Pilotstudien liess sich auch ein antikonvulsiver Effekt nachweisen, so PD Dr. med. Reinhard Ganz, Bereichsleitender Oberarzt, Schweizerische Epilepsie-Klinik, Klinik Lengg, Zürich. Der antikonvulsive Effekt ist mit einiger Sicherheit serotonerg und/oder noradrenerg vermittelt. Der prokonvulsive Effekt scheint hingegen am ehesten auf lokalanästhetischen, antihistaminergen und/oder antimuskarinergen Eigenschaften von Antidepressiva zu beruhen. Der antikonvulsive Effekt scheint nicht vom Anfallstyp und auch nicht von der antidepressiven Wirkung abhängig zu sein. «Das Risiko einer prokonvulsiven Wirkung von Antidepressiva wird weit überschätzt. Bei geeigneter Wahl des Antidepressivums – insbesondere eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers – und bei einem vorsichtigen therapeutischen Regime sind Antidepressiva auch bei Epilepsiepatienten gut verträglich», betonte Dr. Ganz.
Insomnie auch bei Epilepsie
standardisiert behandeln
Chronische Schlafstörungen im Sinne einer In-
somnie gehen wahrscheinlich bei Epilepsie-
patienten häufiger auf komorbide Störungen
oder medikamentöse Nebenwirkungen als auf
die Epilepsie zurück (5). «Es gibt keine epilep-
siespezifische Form der Insomnie», erläuterte
med. pract. Aribert Bauerfeind, Leiter Schlafme-
dizinisches Zentrum, Schweizerische Epilepsie-
Klinik, Klinik Lengg, Zürich. Entsprechend
sollten standardisierte Behandlungsstrategien
auch bei Menschen mit Epilepsie verfolgt wer-
den. Eine insomniespezifische Behandlung ist
die kognitive Verhaltenstherapie. Sie führt bei
Patienten mit Insomnie und gleichzeitiger De-
pression nicht nur zu einem besseren Outcome
bezüglich der Schlaflosigkeit, sondern auch im
Hinblick auf den Verlauf einer Depression (6).
«Nicht jeder, der nicht schläft, hat als somnolo-
gisches Grundleiden eine Insomnie, denken Sie
auch immer an die Differenzialdiagnosen»,
forderte med. pract. Bauerfeind. Für die
Insomniebehandlung kommen neben verhal-
tenstherapeutischen Interventionen bei medi-
kamentös «vorbelasteten» Patienten Melatonin
und Lichttherapie als Alternativen in Be-
tracht.
G
Halid Bas
Referenzen:
1. S3-Leitlinie Unipolare Depression, 2. Auflage, Version 3, November 2015, greifbar auf http://www.leitlinien.de.
2. Famm K et al.: Drug discovery: A jump-start for electroceuticals. Nature. 2013; 496: 159–161.
3. Mula M (Ed.): Neuropsychiatric Symptoms of Epilepsy. Springer 2016. ISBN 978-3-319-22159-5
4. Bazire S: Psychotropic Drug Directory 2016: The professionals’ pocket handbook an aide memoire. Lloyd-Reinhold Publications Ltd 2016.
5. Yang KI et al.: Severity of self-reported insomnia in adults with epilepsy is related to comorbid medical disorders and depressive symptoms. Epilepsy Behav. 2016; 60: 27– 32.
6. Manber R et al.: Cognitive behavioral therapy for insomnia enhances depression outcome in patients with comorbid major depressive disorder and insomnia. Sleep. 2008; 31(4): 489–495.
Quelle: «Depression aus epileptologischer und psychiatrischer Sicht», Gemeinsames Symposium der Schweizerischen Epilepsie-Klinik (SEK), Klinik Lengg, Zürich, und der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK), Zürich, am 25. August 2016 in der Klinik Lengg AG, Zürich.
Interessenlage: Das Symposium wurde unterstützt von Desitin Pharma GmbH, GlaxoSmithKline AG, Eisai-Pharma AG, LivaNova SA, Neuolite AG, UCB-Pharma AG und Lundbeck (Schweiz) AG.
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