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Epilepsiechirurgie – prächirurgische Epilepsiediagnostik und Fallbeispiele
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Eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen ist die Epilepsie mit einer Prävalenz zwischen 0,5 und 1 Prozent. Rund 70 000 Menschen sind in der Schweiz betroffen. Mit Medikamenten gelingt bei zirka 70 Prozent der Patienten eine erfolgreiche Behandlung. Lässt sich für den Patienten medikamentös kein befriedigendes Therapieergebnis erzielen, sollte die Möglichkeit eines operativen Therapieansatzes erwogen werden. Für dieses Vorgehen spricht die mittlerweile gut belegte Sicherheit und Wirksamkeit der kurativen Epilepsiechirurgie. Sie ist nach sorgfältiger Indikationsprüfung bei bestimmten Patienten mit einer pharmakoresistenten fokalen Epilepsie sogar als Therapie der ersten Wahl einzuordnen (1).
Kristina König Martin Kurthen
von Kristina König und Martin Kurthen1
Voraussetzungen 1. Nachweis der Pharmakoresistenz:
D ie Bedingung der Pharmakoresistenz ist erfüllt, wenn zwei anfallspräventive Medikamente nicht zur Anfallsfreiheit geführt haben. Zu beachten ist, dass für das entsprechende Epilepsiesyndrom auch die passenden anfallspräventiven Medikamente ausgewählt und in ausreichend hohen Tagesdosen verabreicht werden – als Monotherapie oder in Kombination. Complianceprobleme vonseiten des Patienten sollten bei Versagen ausgeschlossen werden.
2. Hoher Leidensdruck des Patienten oder ausreichende Behinderung durch die Epilepsie: Das subjektive Erleben von Beeinträchtigungen durch die Epilepsie sollte mit den Patienten individuell erörtert werden. So können für den einen Patienten symptomarme einfach-fokale Anfälle mit lediglich einem leichten Herzrasen oder aufsteigenden Übelkeitsgefühl sehr belastend sein. Zum andern können bei Angst vor operativen Eingriffen auch häufige generalisierte tonischklonische Anfälle mit Verletzungsfolge einen Patienten von einer prächirurgischen Diagnostik abhalten.
3. Der Nachweis einer fokalen Epilepsie: Ein kurativer epilepsiechirurgischer Eingriff kann nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn eine fokale Epilepsieform vorliegt. Das ist bei etwa 70 Prozent der Epilepsiepatienten der Fall. Primär generalisierte Anfälle können hingegen nicht mit einem kurativen epilepsiechirurgischen Eingriff behandelt werden.
1 Prof. Dr. med. Martin Kurthen, Leiter Poliklinik für Erwachsene, Facharzt für Neurologie, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum, Klinik Lengg
Die Stufendiagnostik der prächirurgischen Abklärung Das Modell der sechs kortikalen Zonen nach Lüders hat sich als hilfreich erwiesen bei der Klärung der Frage, ob für einen Patienten ein epilepsiechirurgischer Eingriff überhaupt möglich ist. Die Einteilung erfolgt in eine iktogene, eine epileptogene, eine irritative und eine symptomatogene Zone sowie die Zone des funktionellen Defizits. Die iktogene oder Anfallsursprungzone ist das Areal, von dem die epileptischen Anfälle ausgehen. Die epileptogene Läsion ist die strukturelle Anomalie, welche die Anfälle verursacht. Die irritative Zone bezeichnet das Gebiet, in dem die interiktal im Elektroenzephalogramm (EEG) registrierten epilepsietypischen Potenziale auftreten, und die symptomatogene Zone den Bereich, durch welchen die Semiologie der Anfälle entsteht. Die Zone des funktionellen Defizits steht für das Gebiet, in dem es durch Schädigung zu Defiziten kognitiver oder somatosensorischer Leistungen kommt. Die epileptogene Zone kann nur hypothetisch festgelegt werden, meist ergibt sie sich aber aus der iktogenen Zone und der epileptogenen Läsion. Sie ist der Bereich, der zum Erreichen vollständiger Anfallsfreiheit operativ entfernt werden muss (2). Zu Beginn der Diagnostik steht somit die genaue Anamneseerhebung zur Klärung der unterschiedlichen Semiologien, der Anfallsfrequenz und der Vordiagnostik. Schon die Schilderung der Anfallssymptome in der richtigen Reihenfolge lässt Rückschlüsse auf die einbezogenen Hirnareale zu.
Stufe-1-Diagnostik (nicht invasive prächirurgische Diagnostik) Video-EEG-Intensivmonitoring: Kernstück der prächirurgischen Diagnostik ist die zeitgleiche Aufzeichnung von Video sowie interiktalem und iktalem EEG durchgehend über 24 Stunden mit einer Dauer von 1 bis 10 Tagen. Die Überwachung erfolgt durch
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geschultes Personal, das eine gezielte iktale Testung durchführen kann. Ziel ist, alle patiententypischen Anfälle zu registrieren und über die Semiologie sowie den Beginn der iktalen Aktivität im Oberflächen-EEG Aufschluss über den Anfallsursprung und die symptomatogene Zone zu erhalten. Wenn notwendig, wird das Auftreten von Anfällen durch Abdosierung der anfallspräventiven Medikation provoziert; dies kann aber nur mit Einverständnis des Patienten erfolgen.
Neuroradiologie: Die Magnetresonanztomografie (MRI) bietet eine gute räumliche Auflösung der Hirnstrukturen und erlaubt eine computergestützte Nachbearbeitung in Form eines morphometrischen Postprocessings. Ziel ist die Identifikation einer etwaigen strukturellen Läsion wie einer Hippocampussklerose, einer fokalen kortikalen Dysplasie oder eines Tumors (3, 4).
Neuropsychologische Testung: Eine vollständige neuropsychologische Testung ermöglicht Aussagen über das allgemeine kognitive Leistungsniveau sowie über vorbestehende Defizite beispielsweise im anterograden episodischen Gedächtnis, aber auch im exekutiven und attentionalen Bereich. Die Darstellung präoperativer Defizite kann zusätzliche lokalisatorische Hinweise zur symptomatogenen Zone geben. Zudem lässt sich eine prognostische Einschätzung für zu erwartende postoperative neuropsychologische Verschlechterungen ableiten.
Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI): Diese diagnostische Methode dient der Bestimmung von wichtigen eloquenten Kortexarealen wie den individuellen Verarbeitungsregionen von Sprache, Motorik und Sensorik. Hinsichtlich Gedächtnis ist die Wertigkeit noch nicht abschliessend einzuschätzen. Bei der Sprachlokalisation zeigt sich eine Übereinstimmung mit dem Amobarbital-Test (Wada-Test) von 80 bis 90 Prozent (5). Die Informationen aus Anfallssemiologie, iktalem EEG und dem MRI-Befund können bereits ausreichend sein, um das epileptogene Areal zu bestimmen. Konnte zusätzlich ausgeschlossen werden, dass eloquente Kortexareale im Resektionsbereich liegen, kann bereits zu diesem Zeitpunkt ein epilepsiechirurgischer Eingriff ohne die Stufe-2-Diagnostik erfolgen (siehe hierzu Fallbeispiel 1). Ausserdem können bei MRI-negativen Patienten weitere funktionelle Bildgebungsverfahren wie die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und die Single-PhotonEmissions-Computertomografie (SPECT) zusätzliche lokalisatorische Hinweise zur Anfallsursprungszone liefern und so zur Generierung einer Implantationshypothese beitragen.
Stufe-2-Diagnostik (invasive prächirurgische Diagnostik) Wada-Test oder Etomidate Speech and Memory Test: Erstmals durch Juhn A. Wada 1960 angewandter Test, wobei über einen durch eine Angiografie eingebrachten Katheter in der Arteria carotis interna ein Narkotikum appliziert wird. Damals wurde Amobarbital verwendet, zurzeit Etomidat, welches zur Betäubung
einer Hemisphäre führt. Hiermit gelingt eine genaue Sprachdominanzbestimmung und Einschätzung der Gedächtnisleistung beider separater Hemisphären. Zusätzlich können heutzutage, gewährleistet durch die kontinuierliche Infusion von Etomidat, auch gezielt spezielle Fähigkeiten wie Musikalität unabhängig von der Zeit getestet werden.
Implantation von subduralen Streifen-, Flächenund Tiefenelektroden mit anschliessender Ableitung eines Video-EEG-Intensivmonitorings: Das Implantationsschema wird individuell erstellt und richtet sich nach der zuvor erarbeiteten Hypothese zur Anfallsursprungszone mit dem Ziel, diese zu bestätigen oder eine etwaige Gegenhypothese sicher auszuschliessen. Es ist darauf zu achten, dass die vermutete epileptogene Zone möglichst vollständig in ihren Grenzen erfasst werden kann. Dazu stehen subdurale Streifen- oder Flächenelektroden, aber auch stereotaktisch eingebrachte Tiefenelektroden zur Verfügung. Gleichzeitig mit dem nicht invasiven Video-EEG-Monitoring erfolgt, falls nötig, die Reduktion der anfallspräventiven Medikation, um Anfälle zu provozieren. Die durchschnittliche Dauer der Ableitung liegt zwischen 3 und 7 Tagen. Komplikationen bestehen vor allem in Form von Blutungen (4,4%) und Infektionen (1,2%), wobei das Risiko bei einer durch eine Kraniotomie eingebrachten Streifen- und Flächenelektrode prinzipiell höher ist (6). Die Streifen- und Flächenelektroden ermöglichen durch externe Stimulation die Hirnkartierung, so können beispielsweise Motorik-, Sensorik- und Sprachareale sicher abgegrenzt werden.
Operative Verfahren: Die Einteilung erfolgt bei resektiven Verfahren in standardisierte Operationsverfahren wie die selektive Amygdala-Hippocampektomie, die anteriore Zwei-DrittelResektion des Temporallappens, die Lob- oder Topektomie. Bei läsionellen Epilepsien infolge von fokalen kortikalen Dysplasien, Tumoren oder Kavernomen wird eine erweiterte Läsionektomie meist unter intraoperativer Hilfe der Elektrokortikografie (ECoG) durchgeführt. Die Resektionsgrenzen können präoperativ dann nur ungefähr angegeben werden und richten sich nach den intraoperativen Ergebnissen der ECoG. Bei fokalen Epilepsien, die die gesamte Hemisphäre betreffen, kann eine funktionelle Hemisphärektomie durchgeführt werden (4).
Fallbeispiel 1: Epilepsiechirurgischer Eingriff ohne Stufe-2-Diagnostik Die zu diesem Zeitpunkt 24-jährige Patientin stellte sich erstmals im Mai 2013 in unserer Klinik vor. Erste epileptische Anfälle seien im 7. Lebensjahr aufgetreten. Fieberanfälle im Kindesalter hätten nicht bestanden. Die Familienanamnese war leer für Epilepsien. In der ersten MR-Tomografie des Schädels 2011 bestanden bereits alle kernspintomografischen Zeichen für eine rechtsseitige Hippocampussklerose (siehe Abbildung 1). Ab zirka dem 10. Lebensjahr sei die erste medikamentöse Behandlung mit Carbamazepin erfolgt. Ab 2011 wurde Lamotrigin und ab 2013 Add-on-Levetiracetam eindosiert, ohne dass eine vollständige Anfallsfreiheit erreicht wurde. Anamnestisch konnten drei Anfallstypen eruiert werden: einfach-fokale Anfälle mit
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anterograden episodischen Gedächtnis für nonverbales Material ist passend zu einer Läsion der nicht sprachdominanten Hemisphäre, wobei im fMRI eine linksseitige Sprachdominanz bestätigt werden konnte. Lediglich die kleine, in der MR-Bildgebung sichtbare Läsion im Gyrus frontalis medius links war nicht passend, wobei sich aber in der gesamten prächirurgischen Abklärung kein Hinweis für eine epileptogene Aktivität in diesem Bereich ergab.
Epilepsiechirurgischer Eingriff: selektive Amygdala-Hippocampektomie rechts im Januar 2014.
Abbildung 1: Hippocampussklerose rechts in a) axialer FLAIR-, b) koronarer FLAIR-Sequenz
Angstgefühl und Herzrasen in einer Frequenz von etwa 2 pro Tag; dyskognitive Anfälle, wobei sie den Beginn durch das bekannte Angstgefühl bemerkte, zudem Schmatzen, Verkrampfung des linken Arms und stereotype Bewegungen der rechten Hand in einer Frequenz von 2 bis 4 pro Monat; zusätzlich seltene sekundär tonisch-klonische Anfälle.
Präoperativ wurde die Patientin auf eine Lamotriginmonotherapie mit 500 mg/Tag eingestellt. Der postoperative Verlauf war komplikationslos. Klinisch-epileptologische Kontrollen erfolgten mit EEG zum Zeitpunkt 3, 6, 12 und 24 Monate nach der Operation. Zusätzlich erfolgte nach 12 Monaten eine erneute neuropsychologische Testung ohne Hinweis auf eine postoperative Verschlechterung. Epileptische Anfälle traten nicht mehr auf. Aufgrund des vollständig anfallsfreien Verlaufs entschied sich die Patientin 24 Monate postoperativ für eine schrittweise Reduktion der Lamotriginmedikation, sodass zum aktuellen Zeitpunkt noch 200 mg pro Tag eingenommen werden. Bis jetzt weiterhin vollständig anfallsfrei.
Stufe-1-Diagnostik (nicht invasive prächirurgische Diagnostik): Beginn im Juni 2013 mit einem Video-EEG-Intensivmonitoring über 134 Stunden, in dem 2 von der Patientin bemerkte dyskognitive Anfälle mit oroalimentären Automatismen, Nesteln der rechten Hand und dystoner Haltung sowie teilweise hypermotorischen Beinbewegungen aufgezeichnet wurden. Zusätzlich kam es zu einem iktalen Herzfrequenzanstieg auf bis zu 156/min. Im iktalen EEG zeigte sich die erste rhythmische Aktivität zeitversetzt zur Klinik nach etwa 34 Sekunden rechts temporal. MR-tomografisch bestätigten sich die Zeichen einer rechtsseitigen Hippocampussklerose, wobei die rechte Amygdala nicht erkennbar mitinvolviert erschien. Zusätzlich bestand eine leichte FLAIR-(Flair-Attenuated-Inversion-Recovery-)Signalanhebung temporopolar rechts, vermutlich im Sinn einer sekundären Reifungsstörung, die häufig mit Hippocampussklerosen assoziiert ist. Als zusätzliche Pathologie zeigte sich eine kleine Läsion mit diskreter Markrindenunschärfe im Gyrus frontalis medius links. In der neuropsychologischen Testung zeigte sich ein Defizit im anterograden episodischen Gedächtnis für nonverbales Material und in der funktionellen MR-Tomografie eine linksseitige Sprachdominanz. In der klinisch-psychologischen und sozialmedizinischen Exploration ergaben sich keine Kontraindikationen für einen etwaigen epilepsiechirurgischen Eingriff. In der Beurteilung der Befunde zeigte sich ein konkordantes Bild einer pharmakoresistenten symptomatischen Temporallappenepilepsie rechts bei kernspintomografischem Verdacht auf eine Hippocampussklerose in Kombination mit einer sekundären Reifungsstörung im Temporalpol rechts. Semiologisch passend mit frühen oroalimentären Automatismen, Nesteln mit der zur Läsion ipsilateralen Hand und der dystonen Haltung der kontralateralen Hand sowie einem iktalen Herzfrequenzanstieg, der überwiegend bei rechtsseitigen Temporallappenepilepsien zu finden ist, mit im iktalen EEG ausschliesslich rechts temporaler Aktivität. Der neuropsychologische Befund mit einem Defizit im
Fallbeispiel 2: Epilepsiechirurgischer Eingriff mit Stufe-2-Diagnostik Der 47-jährige Patient stellte sich erstmals 2008 in unserer Klinik vor. Im Alter von zirka 24 Jahren sei es erstmals zu Episoden mit sich unwillkürlich aufdrängenden Erinnerungen gekommen. Erst seit 2007 seien zusätzlich auch sekundär generalisierte tonisch-klonische Anfälle aufgetreten. Eigenanamnestisch wurde ein seit der Kindheit vermutetes ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom) berichtet, sonst war die Anamnese wie auch die Familienanamnese unauffällig. Fieberanfälle in der Kindheit seien nicht aufgetreten. MR-tomografisch zeigte sich im Juni 2007 erstmals eine kleine, ätiologisch unklare temporo-lateral gelegene Läsion im Gyrus temporalis medius links (Abbildung 2). Anamnestisch bestanden einfach-fokale Anfälle im Sinn von sich aufdrängenden Gedanken, im Verlauf aber auch ein Gefühl des «Highseins» und lärmende, zum Teil hämmernde Geräusche. Dyskognitive Anfälle aus den einfachfokalen Anfällen, einhergehend mit fehlender Ansprechbarkeit, oro-alimentären Automatismen und Sprachstörung, die den Anfall mehrere Minuten im Sinn einer postiktalen Aphasie überdauern, sowie generalisierte tonischklonische Anfälle. Die Erhebung einer genauen Anfallsfrequenz war nicht möglich, da der Patient keinen Anfallskalender führte. Medikamentös wurde 2007 Lamotrigin eingesetzt, im Verlauf Levetiracetam, Zonesamid und Carbamazepin.
Stufe-1-Diagnostik (nicht invasive prächirurgische Diagnostik): Beginn im Februar 2014 mit einem Video-EEGIntensivmonitoring über 127 Stunden, in dem ein dyskognitiver Anfall mit Arreagibilität, iktaler und postiktaler Aphasie sowie früh einsetzenden oroalimentären Automatismen aufgezeichnet wurde, mit im iktalen EEG links temporalem Anfallsursprung. MR-tomografisch bestätigte sich 2014 erneut eine grössenstationäre Läsion ohne Unterbre-
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chung des Kortexbandes links im Gyrus temporalis medius. Zusätzlich zeigte sich wie bereits 2007 eine stationäre FLAIR-hyperintense Läsion im Oberwurm des Kleinhirns rechts sowie ebenfalls seit 2007 nachweisbar eine FLAIRHyperintensität der Amygdala links. In der neuropsychologischen Testung zeigten sich attentionale und exekutive Funktionsbeeinträchtigungen ohne Nachweis von materialspezifischen Defiziten im anterograden episodischen Gedächtnis. In der fMRI zeigte sich eine für Sprache deutlich linksbetonte frontale und rechtsseitig temporoparietale Aktivierung mit einem bilateralen Signal im Cerebellum. Das Gedächtnisparadigma zeigte eine bilaterale hippocampale und parahippocampale Aktivierung. In der klinisch-psychologischen und sozialmedizinischen Exploration ergaben sich keine Kontraindikationen für einen etwaigen epilepsiechirurgischen Eingriff. Nach der ersten Beurteilung bestand somit eine symptomatische Temporallappenepilepsie links, konkordant dazu waren die Anfallssemiologie mit frühen oroalimentären Automatismen sowie der iktale Beginn im EEG links temporal. Die iktale und postiktale Aphasie war mit einem Anfallsablauf in der sprachdominanten Seite vereinbar, jedoch liessen die Befunde der fMRI eher eine atypische Sprachrepräsentation vermuten. Die neuropsychologische Testung ergab keine Hinweise für eine Beeinträchtigung mesiotemporaler Funktionen, wohingegen der Befund der MR-Tomografie eine Beteiligung der linken Amygdala vermuten liess.
Abbildung 2: Kleine Läsion im Gyrus temporalis medius links in a) koronarer FLAIR-, b) sagittaler T1-Sequenz
Abbildung 3: a) Planung Implantationsschema, b) Reallage der 32er-Flächenelektroden
Mit der Stufe-2-Diagnostik zu klärende Fragen waren somit: 1. Lokalisation der Sprache/Sprachdominanz 2. Kompensationsleistung des rechten Hippocampus 3. Sicherung eines periläsionellen Anfallsursprungs und
gegebenenfalls Ausschluss einer mesiotemporalen Mitbeteiligung links 4. Abgrenzung des Wernicke-Areals mittels Hirnmapping.
Stufe-2-Diagnostik (invasive prächirurgische Diagnostik): Etomidate Speech and Memory Test im März 2014, dabei wurde zuerst die linke (Läsionsseite) und nachfolgend die rechte Seite durch die Injektion von Etomidat narkotisiert. Es zeigten sich eine klare linksseitige Sprachdominanz sowie eine beidseitige Reduktion der Gedächtnisleistung von 45 Prozent der Ausgangsleistung. Hieraus ergab sich, dass eine Resektion des sprachdominanten Hippocampus links mit einem erhöhten Risiko für mnestische Einbussen in der Enkodierung verbalen Materials einherging. Zum Beweis eines periläsionellen Anfallsursprungs und zur Klärung der initialen iktalen Mitbeteiligung mesiotemporaler Strukturen entschieden wir uns für die Implantation einer subduralen Flächenelektrode mit 32 Kontakten (Grid) temporolateral. Zusätzlich wurde eine stereotaktisch von posterior implantierte Tiefenelektrode im Hippocampus mit den vorderen Kontakten in der Amygdala platziert. Durch den 32er-Grid temporolateral ist zusätzlich ein Hirnmapping durch Stimulation der Einzelkontakte möglich. Der 32er-Grid besteht aus den 4 Reihen A, B, C und D mit je 8 Kontakten, nummeriert von 1 bis 8. Die Kraniotomie und die Implantation im September 2014 verliefen komplikationslos. Am Folgetag wurde zur Darstellung der genauen Platzierung der Elektroden eine MR-Tomografie des Schädels durchgeführt. Die morphometrische Analyse zeigte, dass sich die Läsion im Bereich unter C5 im Übergang zu B5 befand (Abbildung 3).
Abbildung 4: Skizze der Reallage der Elektroden mit Einzeichnung der EEG-Befunde und des Hirnmappings (GL: Grid-Elektrode links; TL: Tiefenelektrode links)
Im Video-EEG-Intensivmonitoring konnten 1 sekundärer generalisierter tonisch-klonischer Anfall sowie 3 dyskognitive Anfälle aufgezeichnet werden. Der Anfallsbeginn zeigte sich stets unter den Flächenelektrodenkontakten B2, B3 und C2, C3, somit in der direkten Umgebung der Läsion. Die iktale Aktivität zeigte sich erst deutlich im späteren Anfallsverlauf im Sinn eines Ausbreitungsphänomens auch in der Tiefenelektrode links in Amygdala und Hippocampus. Zusätzlich konnte durch externe bipolare Stimulation der Kontakte C6 und D6 ein patiententypischer Anfall ausgelöst werden. In der Hirnkartierung war es lediglich möglich, unter D8 eine Störung komplexer Sprachfunktionen auszulösen (Abbildung 4). Durch die invasive Diagnostik konnte somit einerseits ein erhöhtes Risiko für Einbussen im verbalen episodischen Gedächtnis bei einer möglichen Resektion mesiotemporaler Strukturen der sprachdominanten Seite aufgezeigt werden. Anderseits konnte gezeigt werden, dass mesiotemporale
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Strukturen links nicht Ursprung der iktalen Aktivität sind und eine Resektion nicht erforderlich ist. Epilepsiechirurgischer Eingriff: erweiterte Läsionektomie unter intraoperativer Durchführung einer Elektrokortikografie. Präoperativ wurde eine Monotherapie mit Carbamazepin installiert. Die Operation wurde nach Aufklärung des Patienten direkt im Anschluss an die Elektrodenexplantation komplikationslos durchgeführt. Histologisch zeigte sich ein Oligodendrogliom. Postoperativ kam es zu keinen weiteren Anfällen. Im Novemder 2014 kam es nach Vergessen der Medikation zu einem generalisierten tonisch-klonischen Anfall. Im weiteren Verlauf blieb der Patient jedoch anfallsfrei, sodass er die Fahrtauglichkeit 12 Monate nach dem letzten Ereignis zurückerhielt und auch die Wiedereingliederung in den Beruf angestrebt werden konnte. Der provozierte Rezidivanfall im November 2014 und der Nachweis von epilepsietypischen Potenzialen im Standard-EEG verweisen auf ein erhöhtes Risiko für weitere epileptische Anfälle ohne anfallspräventive Medikation, weshalb wir dem Patienten von einem Absetzversuch abgeraten haben. G
Korrespondenzadresse: Dr. med. Kristina König
Oberärztin Prächirurgische Epilepsiediagnostik
Fachärztin für Neurologie Schweizerisches Epilepsie-Zentrum
Klinik Lengg AG Bleulerstrasse 60
8008 Zürich E-Mail: kristina.koenig@kliniklengg.ch
Merkpunkte:
G Lässt sich medikamentös kein befriedigendes Therapieergebnis erzielte, sollte die Möglichkeit eines operativen Therapieansatzes erwogen werden.
G Die kurative Epilepsiechirurgie ist nach sorgfältiger Indikationsprüfung bei bestimmten Patienten mit einer pharmakoresistenten fokalen Epilepsie als Therapie der ersten Wahl einzuordnen (1).
G Voraussetzung für einen epilepsiechirurgischen Eingriff ist der Nachweis der Pharmakoresistenz.
G Die prächirurgische Epilepsiediagnostik basiert auf einem Stufenmodel: Stufe 1 mit Registrierung von Anfällen im Video-EEG, MRI, neuropsychologischer Testung und funktionellem MRI.
G Gegebenenfalls ist die Stufe 2 mit Etomidate Speech and Memory Test sowie mit der Registrierung von Anfällen im Rahmen der invasiven Diagnostik notwendig.
Literaturverzeichnis: 1. Wiebe S, Blume WT et al.: A randomized, controlled trail of surgery
for temporal lobe epilepsy. N Engl J Med 2001; 345: 311–318. 2. Baumgartner C, Czech T et al.: Prächirurgische Epilepsiediagnostik
und operative Epilepsietherapie. Mitteilung der österreichischen Sektion der ILAE gegen Epilepsie 2008; 8(1), 2–21. 3. Serles W, Baumgartner C et al.: Richtlinien für ein standardisiertes MRT-Protokoll für Patienten mit epileptischen Anfällen in Österreich. Mitteilungen der Österreichischen Sektion der Internationalen Liga gegen Epilepsie. (2003)3: 2–13. 4. Kurthen M, Grunwald T, Huppertz HJ: Präoperative Diagnostik und chirurgische Therapien von Epilepsien. Schweiz Med Forum 2008, 8 (44): 836–483. 5. Binder CR: Functional MRI is a valid noninvasiv alternative to Wada testing. Epilepsy Behav 2011, 20: 214–222. 6. Cossu M, Cardinale F et al.: Stereoelectroencephalographie in the presurgical evaluation of focal epilepsy: a retrospective analysis of 215 procedures. Neurosurgery 2005, 57: 706–718.
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