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SERIE: NEUE ENTWICKLUNGEN IN DER SUCHTMEDIZIN TEIL 4
Liebe Leserin, lieber Leser Sucht ist eine komplexe Krankheit mit vielfältigen psychischen, physischen und sozialen Konsequenzen. Ärzten kommt in der Behandlung und Betreuung eine wichtige Rolle zu. In unserer Serie zu neuen Entwicklungen in der Suchtmedizin möchten wir Ihnen den aktuellen Forschungsstand in der Neurobiologie, der Pharmakotherapie und der Psychotherapie in ausgewählten suchtmedizinischen Krankheitsbildern aufzeigen. Die Serie wird fachlich von PD Dr. Marc Walter, Chefarzt und stellvertretender Klinikdirektor an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, begleitet, der Mitherausgeber von «Psychiatrie & Neurologie» ist.
Teil 4: Sucht und Psychoanalyse – eine neue Perspektive
Marc Walter Thorsten Jakobsen
Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) ist ein psychodynamisches Diagnosesystem zur Einschätzung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Störungen (1). Das System mit den zentralen Bereichen von Beziehung, Konflikt und Struktur schätzt die Störung der Persönlichkeit nicht kategorial, sondern dimensional ein. Das eigens geschaffene Modul für Abhängigkeitserkrankungen (2) ermöglicht eine Verknüpfung der Persönlichkeit(-sstörung) mit der störungsspezifischen Symptomatik und Dynamik (3). Diese neue Sichtweise berücksichtigt die individuellen Veränderungen im Suchtprozess stärker und lenkt damit auch den Therapieprozess auf neue unterschiedliche Schwerpunkte.
von Marc Walter, Thorsten Jakobsen
Sucht und Suchterkrankungen Der Begriff Sucht steht grundsätzlich für eine in ihren Alternativen deutlich eingeschränkte Verhaltensweise mit kompulsiven und unkontrollierten Anteilen, welche die Eigenschaften einer «Störung» zeigt. Dies ist nicht allein auf den Konsum psychotroper Substanzen beschränkt. Nicht substanzgebundene Suchtprobleme wie pathologisches Glücksspiel oder Internetsucht können auch mit dem Begriff Verhaltenssucht beschrieben werden. Im Zusammenhang mit dem Konsum psychotroper Substanzen spricht man auch von Abhängigkeitserkrankungen oder Substanzstörungen, während der übergeordnete Begriff Suchterkrankungen sowohl die Verhaltenssucht als auch die Substanzstörungen umfasst. Suchterkrankungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt. Sie sind mit schwerwiegenden gesundheitlichen und psychosozialen Konsequenzen für die betroffene Person sowie ihr Umfeld verbunden, verursachen hohe Kosten und gehen mit erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsraten einher. Stigmatisierung und Kriminalität sind mit diesem Krankheitsbild assoziiert und erschweren Diagnostik und Behandlungserfolg.
Häufig werden andere komorbide psychische Störungen festgestellt, insbesondere affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen, die dann als Dualdiagnose oder Doppeldiagnose bezeichnet werden. Diese Wechselwirkungen sind komplex und nicht unidirektional zu verstehen. Im klinischen Alltag sollten die komorbiden Störungen und individuellen Grundlagen diagnostiziert und in einen integrierten Behandlungsplan implementiert werden (5). Der Entwicklung und der Aufrechterhaltung von Suchterkrankungen liegen mehrdimensionale biopsychosoziale Determinanten zugrunde. Der genetische Anteil nimmt in der Ätiologie der Suchterkrankungen eine bedeutsame Rolle ein. Chronische Erfahrungen von nicht zu bewältigendem Stress sowie wiederholte Erfahrungen von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit gehören zu denjenigen Erlebnissen, die bei Suchterkrankungen besonders häufig vorkommen und einen wichtigen Faktor bei Entwicklung und Verlauf der Störung darstellen (6).
Psychodynamik der Sucht Am Anfang des Substanzkonsums stehen die Bedeutung des Rauschzustandes (Euphorie) und die Effekte der jeweiligen psychotropen Substanz im Vordergrund. In diesem Stadium der Sucht, die einer Suchterkrankung im engeren Sinn vorangeht, werden Substanzen vorrangig als Selbstmedikation verwendet. Mit der
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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OPD-Abhängigkeit (1–3) sprechen wir hier auch von einer individuellen psychodynamischen Funktion. Bei der OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik) handelt es sich um ein psychodynamisch basiertes Diagnosesystem zur Einschätzung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Störungen (1). Während normalerweise – kulturell und sozial eingebettet – der Konsum von psychotropen Substanzen die Funktionen von Entspannung, aber auch Rausch, Enthemmung und Belohnung vermittelt, kommen rasch psychodynamische Funktionen hinzu – sowohl bei neurotischen Konflikten als auch bei strukturellen Störungen wie den Persönlichkeitsstörungen. Besonders Patienten mit (neurotisch-narzisstischen) Konflikten sind häufig durch ihre Selbstwertproblematik gekennzeichnet. Die Stabilisierung ihres Selbstwertes und die Regulierung von Scham- und Schuldgefühlen spielen bei ihnen eine zentrale Rolle. Der Konsum von psychotropen Substanzen dient vorrangig der Entlastung des inneren Drucks und der Minderung von Scham- und Schuldgefühlen. Zudem können Ängste, aber auch Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht durch den Substanzkonsum kurzfristig behoben werden. In der Euphorie, die der Substanzeinnahme in der Regel folgt, kommt es zu einer Angstreduktion; das Individuum erlebt eine Entlastung des labilen Selbstwertes, sodass das Selbst insgesamt als weniger bedroht erlebt wird. Patienten mit Persönlichkeitsstörungen beginnen meist früher mit exzessivem Substanzgebrauch und verwenden neben Substanzen wie Alkohol oder Cannabis oft auch harte Drogen wie Heroin oder Kokain. Bei ihnen werden häufig Omnipotenzfantasien sowie unreife Wünsche und Sehnsüchte im initialen Rauschzustand manifest. Aggressive und selbstdestruktive Affekte können ohne die Beziehung zu anderen erlebt werden und zum Ausdruck kommen. Entwertungen gegenüber anderen und gegenüber der Gesellschaft als Ganzes führen im Rauschzustand zur Stabilisierung des Selbst und fördern die Abhängigkeit von den Substanzen. Es stellt den Versuch dar, eine ideale Beziehung aufzubauen, die alle Bedürfnisse befriedigt und in der es ein Leben ohne Angst, Neid und Abhängigkeit gibt, die es in der Realität aber nicht gibt. Manifeste Sucht- oder Abhängigkeitserkrankungen verlaufen häufig chronisch. Durch kontinuierliche und langjährige Einnahme psychotroper Substanzen kann es zu neurobiologischen Veränderungen der Hirnstrukturen kommen. Diese pathologischen Veränderungen in den neuronalen Strukturen fördern eine Entwicklung vom impulsiven zum kompulsiven (zwanghaften) Substanzkonsum mit rezidivierender Rückfälligkeit. Häufig werden funktionelle und strukturelle Defizite in verschiedenen Hirnarealen dieser Patienten festgestellt. Die körperlichen und auch die sozialen Folgeschäden einer chronischen Abhängigkeitserkrankung können in der Folge die Persönlichkeitspathologie weiter verschlechtern, sodass sich die strukturellen Hirnveränderungen bei chronischen Abhängigkeitserkrankungen mit denen der Persönlichkeitspathologie vermischen. Dies führt unter anderem dazu, dass im Verlauf der Erkrankung eine mehr oder weniger ausgeprägte narzisstische Störung häufig anzutreffen ist (4).
Abbildung: Die Suchtspirale (OPD 2013, 2)
Kasten:
Fallbeispiel:
Herr Z. (21Jahre), cannabisabhängig seit rund 5 Jahren «Das Suchtmittel wurde primär zur Beruhigung am Abend eingesetzt, auch wegen sich massiv aufdrängender negativer Affekte. Dies korrespondierte mit seiner basalen Schwierigkeit, Affekte zu erleben (OPD ST. 3.1 Affekterleben gering). Im Alltag hat dies zu einer grossen Gewöhnung geführt (Konsum jeden Abend allein), was wiederum mit seinem zentralen Thema (OPD-Hauptkonflikt K1 Individuation/Abhängigkeit) interagiert. Der Konsum steigerte sich über die Jahre aber nur wenig. Der Verfall sozialer Strukturen setzte aber seine grundsätzlich geringen strukturellen Fähigkeiten (OPD ST. 2.3 Selbstwertregulation und ST. 2.1 Impulssteuerung) weiter unter Druck. Es entstand eine deutliche sekundäre Funktion: Der Konsum dient weitgehend dem Ertragen der Konsumfolgen.»
Eine Abstinenz (z.B. bei der Alkoholabhängigkeit) ist nun erschwert, da schwierigere soziale Bedingungen die Kompensationsfähigkeiten des Individuums verstärkt beanspruchen würden, diese aber durch den Konsum häufig schon geschwächt sind. Sinnvollerweise muss unterschieden werden zwischen den Bedingungen, welche in die Abhängigkeit führen, und jenen Bedingungen, die eine Abhängigkeit aufrechterhalten und gegebenenfalls eine gewünschte Abstinenz verhindern. In der Abstinenz, nach Phasen längeren Konsums, kommt es häufig zu schwerem Schuldund Kränkungserleben, was den Wunsch nach dem entlastenden Rauschzustand enorm verstärkt. Schwierige berufliche oder zwischenmenschliche Situationen, wie sie oft Folge der Konsumzeit sind, verstärken diese Problematik zusätzlich.
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Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik Neben der Berücksichtigung der gruppenbezogenen empirischen Befunde ist es in der klinischen Praxis notwendig, die individuelle Situation des Einzelnen mit seiner konkreten Verschränkung von Komorbidität, Persönlichkeit und Abhängigkeitsdynamik zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere, da die Abhängigkeitserkrankungen eine sehr grosse Variabilität über die Stoffgruppen, Persönlichkeitssituationen, Komorbiditäten und konsumbezogenen Veränderungen aufweisen. Die OPD hilft zur Einschätzung der psychiatrischpsychotherapeutischen Störungen (1). Das System mit den zentralen Bereichen von Beziehung, Konflikt und Struktur schätzt die Störung der Persönlichkeit nicht kategorial, sondern dimensional ein. Das eigens geschaffene Modul für Abhängigkeitserkrankungen (2) ermöglicht eine Verknüpfung der Persönlichkeit(-sstörung) mit der störungsspezifischen Symptomatik und Dynamik (3). Im Zentrum steht eine leicht verständliche Suchtspirale, die individuell beschreibt, wie Persönlichkeits- und Suchtdynamik konkret miteinander interagieren. Unterschieden wird zudem zwischen Bedingungen, die in die Sucht führten, der Konsumdynamik und der Dynamik in der Abstinenzphase. Ausgehend von der Beschreibung der psychodynamischen Funktion am Anfang jedes Konsums über Gewöhnung, Konsumsteigerung und Schädigung kann beschrieben werden, wie es zur Ausbildung einer sekundären Funktion kommt, welche auf der Schädigung basiert (Abbildung). Die Schädigung wird dabei als körperlich, psychisch und sozial verstanden. Es ist keine Seltenheit, dass die sozialen Folgen des Konsums den Patienten in einen weiteren sich verfestigenden Konsum treiben. Das OPD-Manual hilft neben einer qualitativen Beschreibung (etwa für den Arztbrief ) auch bei der quantifizierenden Einschätzung der «Verselbstständigung». Da das Suchtgeschehen auf Dauer zu Veränderungen führen kann, die für die Aufrechterhaltung des Konsums sorgen (losgelöst von den ursprünglichen Konsumgründen), ist das Ausmass dieser Loslösung wichtig für die weitere Behandlung. Hier wird die Schwere des Konsums konzeptuell getrennt von der Schwere der Grunderkrankung und dem Ausmass der Verselbst-
ständigung der Suchterkrankung (2), was grundsätz-
lich eine neue Entwicklung in der psychoanalytischen
Theorie darstellt, da früher auf die zugrunde liegende
Persönlichkeitspathologie fokussiert wurde, die zu einer
Suchtentwicklung führt.
Die Einschätzung im OPD-System ist sowohl für die in-
dividuelle Behandlungsplanung relevant als auch ein-
setzbar für die gruppenbezogene Forschung. Die Er-
gebnisse der Forschung bilden dabei die typischen
Zusammenhänge empirisch ab. So ist es zum Beispiel
für viele, aber nicht für alle Patienten zutreffend, dass
eine Einschränkung der strukturellen Fähigkeiten auch
im Sinne einer zusätzlichen Persönlichkeitsstörung vor-
liegt. Diese neue Sichtweise berücksichtigt die indivi-
duellen Veränderungen im Suchtprozess stärker und
lenkt damit auch den Therapieprozess auf neue unter-
schiedliche Schwerpunkte.
G
Kontakt PD Dr. med. Marc Walter
Chefarzt Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27 4012 Basel
E-Mail: marc.walter@upkbs.ch
Dipl. Psych. Thorsten Jakobsen
Sprecher der OPD für Abhängigkeitserkrankungen
Gerbergasse 43, PF710, 4001 Basel
E-Mail: jakobsen@gmx.ch
Literatur:
1. Arbeitskreis OPD (Hrsg.): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik 2. Grundlagen und Manual. Bern, Huber 2009.
2. Arbeitskreis OPD Abhängigkeitserkrankungen und Arbeitskreis OPD (Hrsg.). OPD 2 Modul Abhängigkeitserkrankungen. Das Diagnostik Manual. Bern, Huber 2013.
3. Jakobsen Th: Abhängigkeitsdynamik, Konflikt und Struktur in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD 2). Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie 2014; 18: 75–87.
4. Walter M, Dammann G: Abhängigkeitserkrankungen und Persönlichkeitsstörungen: Eine aktuelle Übersicht aus neurobiologischer und psychodynamischer Perspektive. Psychotherapeut 2012; 57: 425–233.
5. Walter M, Gouzoulis-Mayfrank E (Hrsg.): Psychische Störungen und Suchterkrankungen. Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Stuttgart, Kohlhammer 2014.
6. Walter M, Sollberger D, Euler E: Persönlichkeitsstörungen und Sucht. Stuttgart, Kohlhammer 2016.
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