Transkript
FORTBILDUNG
Psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive
«Wir sollten nachfragen, ob die Patienten Kinder haben»
Die moderne Psychiatrie ist heute in erster Linie der Diagnose und der Behandlung psychischer Leiden verpflichtet. Eine erfolgreiche Therapie bezieht aber auch das familiäre Umfeld mit ein. Gemäss Studien hat etwa jede dritte psychisch erkrankte erwachsene Person minderjährige Kinder. Dr. med. Kurt Albermann, Chefarzt Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ) am Kantonsspital Winterthur und diesjähriger Co-Kongresspräsident, plädiert für mehr Unterstützung im Sinne präventiver und unterstützender Massnahmen.
Kurt Albermann
Die Fachgesellschaften haben erneut die «Psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive» als Kongressthema* gewählt. Was war der Anlass dazu? Dr. med. Kurt Albermann: Die Thematik nimmt insgesamt an Bedeutung zu, wird aber in der Öffentlichkeit noch immer zu wenig wahrgenommen. Wir haben dieses Mal den Fokus auf Kinder und Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil gelegt. Nach vorsichtigen Schätzungen haben in der Schweiz mindestens 20 000 bis 50 000 Kinder und Jugendliche einen psychisch erkrankten Elternteil. Allerdings sind genaue Zahlen nicht bekannt. Wenn wir uns in der Schweiz auf Berechnungen aus Deutschland beziehen, sind diese Zahlen noch deutlich höher. Das transgenerationale Weiterleiten von psychischen Krankheiten ist demnach ein bedeutsames Thema und sollte deshalb für einmal auch im Zentrum stehen. Denn gemäss Studien ist die Wahrscheinlichkeit für Kinder, eine psychische Störung zu entwickeln, dann um den Faktor 3 bis 7 erhöht. Bei einem Elternteil, der an Schizophrenie erkrankt ist, erhöht sich das Erkrankungsrisiko sogar auf 13 Prozent. Haben beide Elternteile eine schizophrene Erkrankung, liegt das Risiko für die Kinder sogar bei 40 Prozent.
Auch der Bund hat Kinder psychisch kranker Eltern als besonders vulnerable Gruppe identifiziert. Bundesrat Alain Berset hat im Vorwort zum Kongress gesagt, dass kaum bekannt sei, über welche sozialen Prozesse sich die psychischen Krankheiten übertrügen. Ist mit einer weiteren Zusammenarbeit zu rechnen, und was wären Massnahmen? Kurt Albermann: Bis heute ist über die transgenerationalen Prozesse von psychischen Krankheiten wenig bekannt. Wir verstehen aber mittlerweile immer mehr von den Vulnerabilitätsmechanismen, die sich dahinter verbergen. Neurobiologische Studien weisen beispiels-
* Der SGPP- und SGKJPP-Kongress hat vom 17. bis 19. August 2016 in Basel stattgefunden.
weise auf Veränderungen im Neurotransmittersystem hin und darauf, wie sich Stress auf das limbische System und unsere Gene auswirkt. Aber noch ist unklar, wie sich solche Muster unterbrechen oder verhindern lassen, sodass Kinder beispielsweise geschützt werden können. Die epigenetischen Mechanismen hinter diesen Veränderungen, die am Kongress besprochen wurden, waren deshalb ganz bestimmt ein inhaltliches Highlight.
Wo sind denn die Grenzen zwischen gesund und krankhaft, oder was ist in diesem Zusammenhang eine soziale Auffälligkeit? Kurt Albermann: Psychische Störungen zu erkennen und eindeutig zuzuordnen, kann diagnostisch schwierig und aufwendig sein. Deshalb gibt es Schemata wie den ICD-10, bald den ICD-11, und das DSM-5. Im Vergleich zu den somatischen Krankheiten ist die Diagnostik in der Psychiatrie manchmal viel komplexer. Einen unkomplizierten Beinbruch zu diagnostizieren und zu behandeln, ist für den Chirurgen überwiegend simpel, von aussen sichtbar und zeitlich begrenzt. Wir können sogar etwa sagen, welcher Unfallhergang zu welcher Fraktur führt. Bei psychischen Erkrankungen verstehen wir die Mechanismen dahinter zwar auch immer besser, aber der Zusammenhang ist nicht so linear wie bei den somatischen Krankheiten. Ich denke, eine wichtige Grenze ist aber, ob und wie sehr der Betroffene oder die Umgebung an den Einschränkungen leidet, ob die Teilnahme an einem normalen Leben möglich oder die Biografie unterbrochen ist.
Sie waren federführend bei der Winterthurer Studie, die erstmals Kinder psychisch kranker Eltern untersucht hat. Sind die Daten noch aktuell? Kurt Albermann: Die Daten sind tatsächlich noch immer aktuell. Die Studie untersuchte die Prävalenz betroffener Eltern und ihrer minderjährigen Kinder an einem Stichtag im März 2006. Erfragt wurde ferner die Art und Weise, wie die involvierten Personen und Institutionen mit dem Thema umgehen und wie sie unter-
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einander zusammenarbeiten. Und schliesslich waren die Merkmale der erfassten Patienten und ihrer Familien ein Thema: Bei welchen Bevölkerungsgruppen häufen sich psychische Erkrankungen? Wie sind die Familien zusammengesetzt? Wo halten sich die Kinder auf? Wie unterscheidet sich die betroffene Bevölkerungsgruppe der psychisch Kranken vom Durchschnitt der Gesamtbevölkerung? Gemäss Aussagen der Leistungserbringer zeigen drei Viertel der erfassten Kinder selbst psychosoziale Auffälligkeiten wie Störung des Sozialverhaltens, Probleme bei den Schulleistungen, affektive Störungen sowie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Besonders interessant war in diesem Zusammenhang, dass die beiden Versorgungssysteme für Erwachsene respektive Kinder relativ wenig miteinander kommuniziert haben. Das kann in der Praxis gewisse Probleme mit sich bringen. Beispielsweise dann, wenn psychisch kranke Elternteile nach einem stationären Aufenthalt zu den Kindern zurückkehren, aber keine professionelle Familienbegleitung sie dabei unterstützt. Das Risiko der Überforderung ist gross, aber auch das Risiko für einen Rückfall in die Krankheit. Die Chance, dass die Kinder abermals eine Trennung von der Mutter erleben müssen, ist erheblich. Kinder wollen und sollen aber wissen, was mit den Eltern los ist. Sie sorgen sich, übernehmen Verantwortung, fühlen sich nicht selten mitschuldig an der elterlichen Erkrankung. Sie benötigen altersangemessene Informationen und Unterstützung.
Gibt es eine Erwachsenengruppe, die besonders häufig betroffen ist? Kurt Albermann: Wenn wir die Wohnsituation der Kinder ansehen, zeigt sich, dass rund ein Drittel der am Stichtag erfassten Kinder bei einer alleinerziehenden Mutter lebt. Von diesen Müttern war über die Hälfte psychisch krank. Das heisst, dass ein Sechstel aller durch die Studie erfassten Kinder mit einer alleinerziehenden psychisch kranken Mutter lebt. Zudem hat jeder sechste psychisch kranke Mann eines oder mehrere minderjährige Kinder.
Was könnte beispielsweise zu einer Entstigmatisierung oder zu mehr Unterstützung der Betroffenen beitragen? Kurt Albermann: Noch zu häufig wird in der Psychiatrie über den Patienten geredet, ohne diesen und die Angehörigen angemessen einzubeziehen. Dabei sollte das Motto lauten: «Don’t talk about us without us.» Patienten, Partner und zum geeigneten Zeitpunkt auch deren Kinder wollen und müssen dabei sein, wenn über sie geredet und geplant wird. Diesbezüglich hat der Recoverygedanke stark an Bedeutung zugenommen. In Bezug auf die Kinder psychisch kranker Eltern sollten wir erstens nachfragen, ob die Patienten Kinder haben, zweitens, wie es diesen geht, drittens, wer sich um sie kümmert. Schliesslich sollten wir bei Bedarf und mit dem Einverständnis der Eltern Kontakt zum Versorgungssystem für Kinder aufnehmen und besorgt sein, dass dort nach den Bedürfnissen und einer allfälligen Unterstützung der Kinder geschaut wird. Wir sollten vermehrt in Schulen gehen und trialogisch, das heisst eine betroffene Person, Angehöriger und Fachperson, berichten, sodass es Jugendlichen leichter fällt, ihre Probleme anzusprechen. Allein dieser Vorgang wirkt ent-
Kasten:
Institut Kinderseele Schweiz (iks)
Das iks setzt sich für Kinder und Jugendliche von psychisch belasteten Eltern ein. Es engagiert sich für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, vermittelt Beratungs- und Unterstützungsangebote für betroffene Familien und bietet Weiterbildungen für Schulen und Fachpersonen in der Schweiz an. Weitere Angebote (u.a. eine Fach- und Peerberatung) sind im Aufbau begriffen. Jugendliche, Eltern, Angehörige, Lehr- und Fachpersonen finden auf der iks-Onlineplattform www.iks-ies.ch Antworten auf die häufigsten Fragen zum Thema «Kinder und Jugendliche psychisch belasteter Eltern». Adresse: Institut Kinderseele Schweiz, Schweizerische Stiftung zur Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, Albanistrasse 24/233, 8400 Winterthur, E-Mail: info@iks-ies.ch.
Spendenkonto: Schweizerische Stiftung zur Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen IBAN: CH18 0070 0110 0052 6787 2, Zürcher Kantonalbank, 8010 Zürich
stigmatisierend, und das betroffene Kind oder der Jugendliche traut sich nachfolgend eher, in einem geschützten Rahmen beispielsweise über das Drogenproblem seiner Eltern zu sprechen. Unser Ziel wäre es zusätzlich, nicht nur über das Problem zu sprechen, sondern auch Unterstützung anzubieten.
Wie könnte man das umsetzen?
Kurt Albermann: Beispielsweise, indem auch einmal die
ganze Familie zu den Gesprächen eingeladen wird.
Wenn sich eine Gefährdung herausstellt, sollte es mög-
lich sein, Hilfe in die Wege zu leiten. Das Problem im
Schweizer Versorgungssystem liegt darin, dass wir über
zu wenig finanzierte präventive Möglichkeiten und
keine entsprechenden gesetzlichen Grundlagen verfü-
gen. Ich hoffe daher sehr, dass der Bund, die Gesund-
heitsförderung Schweiz und weitere massgebliche
Entscheidungsträger auch aufgrund der am Kongress
zusammengetragenen Erkenntnisse diese Verantwor-
tung übernehmen und gemeinsam mit den klinisch
und in der Praxis tätigen Fachpersonen geeignete Mass-
nahmen entwickeln.
G
Sehr geehrter Herr Dr. Albermann, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Kurt Albermann Chefarzt/Stv. Direktor
Kantonsspital Winterthur Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ Departement Kinder- und Jugendmedizin
Brauerstrasse 15 Postfach 834
8401 Winterthur E-Mail: kurt.albermann@ksw.ch
Kurt Albermann ist zudem ärztlicher Leiter von iks (Institut Kinderseele Schweiz), der schweizerischen Stiftung zur Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
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