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FORTBILDUNG
Kinder als Angehörige psychisch kranker Eltern
Wenn in der Kinder- und Jugendpsychiatrie von Angehörigenarbeit gesprochen wird, bezieht sich das in der Regel auf das nahe soziale Umfeld der Betroffenen, besonders auf die Eltern und Geschwister. Kinder- und Jugendpsychiatrie ist aber immer Familienpsychiatrie. Ohne Einbezug der bedeutsamen Bezugspersonen können Kinder weder beurteilt noch behandelt werden. Heute gilt das zum Glück als selbstverständlich. Weniger bewusst ist uns hingegen oft, dass Kinder selbst auch Angehörige kranker Bezugspersonen sind.
Alain Di Gallo
Stephanie Hefti
Marc Schmid
4/2016
von Alain Di Gallo, Stephanie Hefti, Marc Schmid
I n der Schweiz leben rund 50 000 Kinder und Jugendliche mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil zusammen (1). Etwa 30 Prozent aller stationär psychiatrisch behandelten erwachsenen Patienten haben minderjährige Kinder (2). Elterliche seelische Krankheiten stellen einen der wichtigsten Risikofaktoren für die seelische Entwicklung von Kindern dar, wobei die genetischen Risiken oft mit weiteren Faktoren wie Armut, sozialer Ausgrenzung oder Kommunikationsstörungen zusammentreffen und sich gegenseitig verstärken (3–5). Für einige der psychisch kranken Eltern bedeutet die Erziehung ihrer Kinder eine grosse Heraus- oder gar eine Überforderung. Die für die Bindungsentwicklung der Kinder entscheidende Feinfühligkeit und Responsivität kann bei ihnen eingeschränkt sein, ebenso die in der Erziehung wichtige Vorbildfunktion und die Hinführung ihrer Kinder zur Selbstständigkeit. Die Reaktionen der von solchen Überforderungssituationen betroffenen Kinder sind sehr unterschiedlich und äussern sich bereits vor dem Ausbruch einer manifesten psychiatrischen Symptomatik häufig in verzweifelten Bewältigungsversuchen. Manche Kinder suchen durch externalisierende Verhaltensweisen Aufmerksamkeit, andere zeigen sich betont angepasst und «pflegeleicht». Regressive Wünsche nach Nähe und erzwungene forcierte Autonomieentwicklung können sich dabei entgegenstehen (6, 7). Einheitlicher als das Verhalten sind die Nöte und Konflikte, über die von den Kindern – oder manchmal leider erst rückblickend von ehemals betroffenen Erwachsenen – berichtet wird. Insbesondere der Mangel an Information, die Tabuisierung der Krankheit innerhalb der Familie, gepaart mit
einer Sprachlosigkeit des gesamten sozialen Umfeldes, und die Zweifel, wem man sich anvertrauen darf, werden oft genannt. Desorientierung und Angst, verbunden mit dem Gefühl, die Eltern in ihren Stimmungen und Reaktionen nicht verstehen und einordnen zu können, verwirren und belasten. Diese Verunsicherung kann die Kinder in einen tiefen Loyalitätskonflikt führen: Scham, Verantwortungs- und Schuldgefühle stehen dann eigenen Bedürfnissen, Enttäuschung und Wut gegenüber (8). Wenn Kinder ihre altersgemässen Wünsche unterdrücken und sich ganz an den Bedürfnissen des kranken Elternteils orientieren, kann diese Parentifizierung dazu führen, dass ein überfordertes familiäres System scheinbar stabilisiert wird (9) (Kasten).
Kasten:
Kinder als Angehörige eines psychisch kranken Elternteils
Der 6-jährige Mario lebte, von der Umwelt fast abgeschlossen, während Monaten allein mit seiner psychotischen Mutter. In dieser Zeit litt er unter panischer Angst, wenn seine Mutter mit leiser Stimme ihm völlig unverständliche Worte sprach, und gleichzeitig war er unfähig, sich in solchen Momenten von ihr zu trennen. Ein Teufelskreis schloss sich: Die kranke Mutter suchte Hilfe bei ihrem Sohn. Der Knabe konnte sich der psychotischen Nähe nicht entziehen. Der Gesundheitszustand der Mutter stabilisierte sich scheinbar etwas, die Behörden waren nicht mehr bereit einzugreifen und gaben den Druck unbewusst an Mario zurück, der weiterhin die einzige Stütze der Mutter blieb.
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
Erste Schritte zur Unterstützung Ein wichtiger erster Schritt zur Unterstützung besteht darin, dem Schweigen zu begegnen und den betroffenen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Erfahrungen ohne Angst und Schuld aussprechen zu dürfen. Das erfordert nicht in erster Linie eine Psychotherapie, sondern ein niederschwelliges Gesprächs-, Spiel- oder anderes Beziehungsangebot, das die Realität der Kinder anerkennt, sie altersentsprechend aufklärt und ihnen somit gleichsam eine Validierung der eigenen, oft verwirrenden Erfahrungen an der Wirklichkeit erlaubt. Das allein reicht aber nicht. Auch die psychisch kranken Eltern müssen, neben der angemessenen Behandlung ihrer Krankheit, Unterstützung in ihrer mütterlichen oder väterlichen Aufgabe erhalten. Erst dieser Schritt öffnet in manchen Fällen die Tür, der auch den Kindern den direkten Zugang zu Hilfe ermöglicht. Häufig fehlen den betroffenen Eltern jedoch die Kraft und die Ausdauer, nach notwendiger Unterstützung zu suchen oder diese konsequent zu fordern (10, 11). Das führt dazu, dass die mancherorts durchaus vorhandenen Angebote von den betroffenen Familien nach wie vor zu selten in Anspruch genommen werden (9, 12, 13).
oder Partnerin sowie Verwandte und Freunde empfunden, danach folgten Betreuungsangebote für die Kinder und die Behörden (z.B. Beistandschaft, Kesb).
Welche Gründe halten Sie davon ab, ein hilfreiches Unterstützungsangebot zu nutzen? Als Hauptgrund nannten die Eltern, dass ihnen die zur Verfügung stehenden Angebote nicht bekannt sind. Der am zweithäufigsten genannte Grund waren die zu hohen Kosten, vor der Angst, von den Kindern getrennt zu werden und vor Vorurteilen, Unverständnis und «Bevormundung» durch Behörden.
Weiter wurde im Rahmen dieser Fragebogenstudie untersucht, welche elterlichen Faktoren einen Einfluss darauf hatten, ob Kinder, die bereits psychische Auffälligkeiten zeigen, Unterstützung erhielten. Dabei erwies sich einzig der elterliche Stress als ein signifikanter Prädiktor. Auffällige Kinder von Eltern mit hohem Erziehungsstress erhielten seltener psychiatrische oder psychologische Hilfe. Die psychiatrische Symptombelastung der Eltern sowie die finanzielle Situation der Familie hatten hingegen keinen Einfluss auf die Inanspruchnahme von therapeutischer Hilfe für die Kinder.
Fragebogenuntersuchung zum Bedarf in der Nordwestschweiz Um sich ein Bild der Situation in der Nordwestschweiz zu verschaffen, wurden im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung 101 psychisch kranke Elternteile mit Kindern im Alter von 4 bis 18 Jahren zu ihrem Bedarf und ihrer Inanspruchnahme von Unterstützung in Bezug auf ihre Kinder befragt (14). Die Studienfragen wurden von den Teilnehmenden wie folgt beantwortet:
Mit wem sprechen Sie über Ihre Sorgen mit den Kindern? Am häufigsten nannten die psychisch kranken Eltern ihre Verwandten, danach folgten der eigene Psychiater, Psychologe oder Hausarzt, die Lehrpersonen der Kinder und der Kinderarzt.
Welche Unterstützungsangebote in der Region sind Ihnen bekannt? Viele Eltern kannten Kinderkrippen, Tagesheime und Tagesmütter. Auch die Möglichkeit, Kinder in Heimen oder Pflegefamilien unterzubringen, die Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und allgemeine Erziehungsberatungsangebote wurden genannt. Spezifische Hilfen hingegen, wie das Angebot von «Patenfamilien» für Kinder psychisch kranker Eltern in Basel, waren den meisten Eltern unbekannt.
Welche dieser Angebote nutzen Sie? Obwohl oft bekannt, wurden die Angebote deutlich seltener genutzt. Am häufigsten Kinderkrippen, Tagesheime und Tagesmütter, vor der Kinder- und Jugendpsychiatrie und verschiedenen unspezifischen Beratungsangeboten.
Diskussion Diese kleine Übersichtsstudie weist methodische Einschränkungen auf, unter deren Berücksichtigung die Ergebnisse beurteilt werden müssen. So konnten zum Beispiel die Unterschiede zwischen verschiedenen psychiatrischen Krankheitsbildern der Eltern oder dem Schweregrad aufgrund der beschränkten Grösse des Kollektivs nicht berücksichtigt werden. Die Kinder und der gesunde oder kranke Partner oder andere Angehörige wurden nicht in die Befragung einbezogen. Ihr sicher wichtiger Einfluss bleibt somit unbeantwortet. Trotzdem erscheinen uns die Resultate für die Region Basel bedeutsam.
Als Anregung für die zukünftige Versorgungsplanung möchten wir das folgende Fazit zur Diskussion stellen: G Allgemeine Unterstützungsangebote für den Um-
gang mit ihren Kindern sind vielen Eltern bekannt. Die Wahrnehmung spezifischer Angebote ist hingegen ungenügend. Obwohl ein Bedürfnis besteht, erreichen sie manche Familien nicht. G Fehlende Kenntnis, zu hohe Kosten sowie Angst, von den Kindern getrennt zu werden, und vor Vorurteilen sind die häufigsten Gründe, weshalb die bestehenden Angebote nicht genutzt werden. G Für eine Verbesserung der Erreichbarkeit sind die von den Eltern genannten wichtigsten Ansprechpersonen von Bedeutung: Psychiater, Psychologen, Hausärzte, Kinderärzte und Lehrpersonen. G Die Angehörigen der betroffenen Familien bedürfen einer niederschwelligen Anlaufstelle. G Der mit der Elternschaft verbundene Stress hält Eltern davon ab, für ihre psychisch auffälligen Kinder Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Welche Angebote erachten Sie als besonders hilfreich? Deutlich am meisten Unterstützung erfuhren die Eltern bei ihrer persönlichen psychiatrischen oder psychologischen Behandlung. Auch als hilfreich wurden Partner
Um den in diesem Fazit geforderten Ansprüchen gerecht zu werden, müssen Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie generell alle Personen und Stellen, die Hilfen für psychisch kranke Eltern und deren
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Kinder anbieten, eng zusammenarbeiten. Die Verant-
wortlichkeiten müssen verbindlich vereinbart und ge-
tragen werden. Nicht die Eltern allein und nicht die
Kinder allein sollen dabei im Fokus stehen, sondern die
Eltern-Kind-Beziehung.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Alain Di Gallo
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Schaffhauserrheinweg 55
4058 Basel
E-Mail: alain.digallo@upkbs.ch
Merkpunkte:
G Betroffene Kinder und Jugendliche sollen die Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen ohne Angst und Schuld aussprechen zu dürfen.
G Allgemeine Unterstützungsangebote für den Umgang mit ihren Kindern sind vielen Eltern bekannt. Aber auffällige Kinder von Eltern mit hohem Erziehungsstress erhalten seltener psychiatrische oder psychologische Hilfe.
G Fehlende Kenntnis, zu hohe Kosten sowie Angst, von den Kindern getrennt zu werden, und vor Vorurteilen sind die häufigsten Gründe, weshalb die bestehenden Angebote nicht genutzt werden.
Literatur:
1. Cunningham J, Oyebode F, Vostanis P: Children of mothers admitted to psychiatric hospital: Care arrangements and mothers’perceptions. Child Psychology & Psychiatry Review. 2000; 5: 114–119.
2. Gurny R, Cassée K, Gavez S, Los B, Albermann K: Kinder psychisch kranker Eltern: Winterthurer Studie. 2007; Zürich: Hochschule für Soziale Arbeit.
3. Beardslee WR, Gladstone TRG, O’Connor EE: Transmission and prevention of mood disorders among children of affectively ill parents: a review. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry. 2011; 50: 1098–1109.
4. Mattejat F, Remschmidt H: The children of mentally ill parents. Deutsches Ärzteblatt international. 2008; 105: 413–418.
5. Ravens-Sieberer U, Wille N, Bettge S, Erhart M: Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz. 2007; 50: 871–878.
6. Lenz A: Kinder psychisch kranker Eltern – Risiken, Resilienzen und Intervention. In M Kölch, U Ziegenhain & JM Fegert (Hrsg.), Kinder psychisch kranker Eltern – Herausforderungen für eine interdisziplinäre Kooperation in Betreuung und Versorgung (S. 40–79). 2014: Weinheim: Beltz Juventa.
7. Desch E: Parentifizierung. In S Kupferschmid & I Koch (Hrsg.), Psychisch belastete Eltern und ihre Kinder stärken. Ein Therapiemanual. 2014; Stuttgart: Kohlhammer.
8. Dunn B: Growing up with a psychotic mother: a retrospective study. American Journal of Orthopsychiatry. 1993; 63: 177–189.
9. Hefti S, Rhiner B, Schmid M: Erfolgsfaktoren und Stolpersteine – Hilfen für Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil erfolgreich aufgleisen. Pädiatrie. 2016; 3: 9–13.
10. Schmid M, Schielke A, Becker T, Fegert JM. Kölch M: Versorgungssituation von Kindern während einer stationären psychiatrischen Behandlung ihrer Eltern. Nervenheilkunde. 2008; 27: 533–539.
11. Kölch M, Schmid M: Unterstützung und Versorgung von Kindern psychisch kranker Eltern: Die Perspektive der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Kinder- und Jugendhilfe. In M Kölch, U Ziegenhain & JM Fegert (Hrsg.), Kinder psychisch kranker Eltern – Herausforderungen für eine interdisziplinäre Kooperation in Betreuung und Versorgung (S.123–141). 2014; Weinheim: Beltz Juventa.
12. Kupferschmid S, Koch I: Psychisch belastete Eltern und ihre Kinder stärken. Ein Therapiemanual. 2014; Stuttgart: Kohlhammer.
13. Kühnis R, Müller-Luzi S, Schröder M, Schmid M: Zwischen Stuhl und Bank – Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Hilfsangeboten für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 2016; 65: 249–265.
14. Hefti S, Kölch M, Di Gallo A, Stierli R, Roth B, Schmid M: Welche Faktoren beeinflussen, ob psychisch belastete Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil Hilfen erhalten? Kindheit und Entwicklung. 2016; 25: 89–99.
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