Transkript
Angehörigenarbeit in der Institution
FORTBILDUNG
Während noch vor nicht allzu langer Zeit Angehörigen zumindest eine Teilschuld an der psychischen Erkrankung eines Familienmitglieds angelastet wurde, betonen Fachleute und psychiatrische Institutionen heutzutage den hohen Stellenwert der Angehörigenarbeit. Typische Spannungsfelder in der Angehörigenarbeit betreffen Fragestellungen der konzeptuellen Einbindung, Haltungsfragen sowie rechtliche Aspekte.
Edith Scherer Thomas Lampert
von Edith Scherer und Thomas Lampert
Qualitätsstandards der Angehörigenarbeit in der Psychiatrie
A ngehörigenarbeit war schon immer Bestandteil in der psychiatrischen Versorgung – irgendwie. Doch was ist eigentlich gute Angehörigenarbeit? Mit dieser Fragestellung hat sich das Schweizer Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP) auseinandergesetzt. In mehreren interdisziplinären Arbeitsgruppen wurde die Grundlage für einen Qualitätsstandard geschaffen. Kritische Rückmeldungen und hilfreiche Anregungen aus Mitgliederinstitutionen, Berufsverbänden sowie Patienten- und Angehörigenvereinigungen ermöglichten es dem NAP im Januar 2011, einen Qualitätsstandard zu veröffentlichen. Der Qualitätsstandard – als eine Empfehlung formuliert– steht als Grundlage für konzeptuelle Arbeiten in psychiatrischen Institutionen zur Verfügung. Die Formulierung von Massnahmen zu den 15 Qualitätspunkten liegt in der Verantwortung der Institutionen. Je nach Behandlungsauftrag, Organisationsstruktur oder Strategie des Betriebes werden die Empfehlungskriterien unterschiedlich ausgelegt und inhaltlich umgesetzt. Erfahrungen verdeutlichen die Notwendigkeit eines systematischen Einbezugs von Angehörigen und die Beachtung ihrer Anliegen und Bedürfnisse. Qualitätskriterien, Aspekte der Umsetzung sowie Haltung und Akzeptanz gegenüber Angehörigen müssen diesbezüglich in einem Leitbild einer Institution verankert sein. Das Controlling der Prozessschritte und der Zielvorgaben im Qualitätsmanagement sind ideale Voraussetzungen für eine nachhaltig gelebte Angehörigenarbeit. Der Qualitätsstandard des NAP ist in fünf Bereiche gegliedert. Nebst der konzeptuellen Verankerung der An-
gehörigenarbeit sind die Ebenen Kompetenzen der Mitarbeitenden, Zusammenarbeit mit und Information von Angehörigen sowie der Ergebnisse guter Angehörigenarbeit beschrieben.
Verankerung der Angehörigenarbeit Für eine professionelle Angehörigenarbeit in Institutionen braucht es finanzielle und personelle Ressourcen. Angehörigenarbeit ist als Teil der Strategie zu sehen und dient als Grundlage für eine konzeptuelle Beschreibung und idealerweise als Definition der Angehörigen als Ansprechgruppe im Leitbild. Diese Grundlagen ermöglichen die Umsetzung der folgenden Qualitätskriterien.
Kompetenzen der Mitarbeitenden: Auf den ersten Blick rücken zusätzliche Kosten für die Angehörigenarbeit ins Zentrum der Betrachtung. Erfahrungen zeigen jedoch, dass mit vorhandenen Ressourcen bereits eine gute Wirkung erzielt werden kann. Die Klärung der zuvor beschriebenen Haltung gegenüber Angehörigen oder die Förderung der Beachtung einfacher Prämissen der Angehörigenarbeit kann dabei hilfreich sein. Die Vermittlung dieser Inhalte bei der Einführung neuer Mitarbeitenden festigt die Nachhaltigkeit des eingeschlagenen Weges.
Zusammenarbeit mit Angehörigen: Eine empathische, wertschätzende Grundhaltung gegenüber Angehörigen ist Voraussetzung für professionelle Angehörigenarbeit. Eine offene und informierende Grundhaltung – das Einverständnis des Patienten vorausgesetzt – ermöglicht eine für Angehörige entlastende Zusammenarbeit während des gesamten Behandlungsprozesses.
Information von Angehörigen: Diverse Studien belegen eine grosse Belastung für Angehörige durch einen
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Verankerung der Angehörigenarbeit
Integrierter Bestandteil der Strategie
Konzept
Umsetzung des Konzepts
Regelmässige Überprüfung
Kompetenz der Mitarbeitenden
Geschulte Mitarbeitende
Zuständigkeit, Verantwortung, Kompetenzen sind klar geregelt
Zusammenarbeit mit Angehörigen
Empathie und Wertschätzung
Umgang mit der Schweigep icht
Einbezug von Eintritt bis Austritt
Information von Angehörigen
Informationspolitik
Infomaterial
Umfassende und zeitnahe Information
Qualitätsstandards der Angehörigenarbeit in der Psychiatrie
Ergebnisse der Angehörigenarbeit
Entlastung von Angehörigen
Zufriedenheit von Angehörigen
Zufriedenheit von Patienten
Mangel an Informationen (Finzen 2011, Schmid, Spiessl & Cording 2005 und weitere). Oft sind es weniger Informationen aus dem Behandlungsverlauf, sondern betroffen sind allgemeine Informationen zum Krankheitsbild, zu Medikamenten, zum Umgang mit krankheitsbedingten Einschränkungen und Informationen zu Anlaufstellen und weiterführenden Adressen.
Ergebnisse der Angehörigenarbeit Eine standardisierte Überprüfung der Angehörigenzufriedenheit in Institutionen gibt Aufschluss darüber, ob sich die Angehörigen in ihren Anliegen und Bedürfnissen anerkannt fühlen. Unterstützte, zufriedene Angehörige leisten einen wertvollen Beitrag in der Behandlung der nahestehenden Person.
Zu den sichtbaren Zeichen eines angehörigenorientierten Angebotes gehören folgende Punkte: G Auflage und aktive Abgabe von Informationsmate-
rial zu Angeboten für Angehörige G Öffentlichkeitsarbeit zur Stärkung der Rolle der An-
gehörigen, beispielsweise öffentliche Referate zu psychiatrierelevanten Themen G Schaffung von Kontakten zu weiteren Unterstützungsangeboten für Angehörige G niederschwelliges Beratungsangebot für Angehörige zur Klärung von Fragen zu Krankheitsbildern, Medikamenten, dem Umgang mit Krankheitssymptomen oder der Vermittlung weiterer Angebote G institutionalisierte Angehörigensprechstunden in der Behandlung G Qualitätssicherung der Angehörigenarbeit in der Institution.
Kundenorientierung, Empathie und Wertschätzung Der Einbezug von Angehörigen in eine psychiatrische Behandlung kann als eine Dienstleistung am System verstanden werden. Der aktive Einbezug der Angehörigen kann ebenso als Wertschätzung und Bereitschaft zur Zusammenarbeit gesehen werden, wie auch die Berücksichtigung der Wünsche von Patient und Umfeld die Kundenorientierung betonen. Während in einer Therapie unter Ausschluss des Umfelds Informationen zum Problemverständnis nur aus der einen Sicht zur Verfügung stehen, eröffnet der Einbezug von Angehörigen eine reiche Quelle von Informationen im Problemund Lösungsverständnis. Sich diese Ressourcen im Behandlungsprozess zunutze zu machen, kann eingangs ein erhöhtes Engagement bedeuten, zahlt sich jedoch in einem umsichtigen, die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigenden Behandlungsprozess aus.
Ungehörige Angehörige In unserer westlichen, modernen Gesellschaft wird Autonomie als hohes Gut betont. Menschen wird zugestanden, das eigene Leben selbstbestimmt, selbstständig und unabhängig zu verwalten. Auch in der Psychiatrie wird die Autonomie des Patienten als oberstes Prinzip – sofern Urteilsfähigkeit besteht – geachtet. Dies bedeutet, dass psychisch kranken Menschen keine globale Inkompetenz attestiert wird. Auch das blosse Ablehnen medizinischer Massnahmen muss nicht automatisch Irrationalität oder Urteilsunfähigkeit bedeuten: Das individuelle Wohl besteht nicht aus medizinischer Normalität. Gesundheit ist entsprechend nicht für jedes Individuum der einzige und höchste Wert des menschlichen Lebens. Die Sorge um einen wichtigen Menschen, Unverständnis, Ungeduld und vieles mehr sind die Gründe, weshalb Angehörige – mehr oder weniger vehement – alternative Behandlungsmassnahmen und -ziele ins Feld führen. Sätze wie «Nun ist mein Sohn bereits zwei Monate in der Klinik, und es scheint ihm immer schlechter zu gehen! Es geht einfach nicht vorwärts. Keine Therapien, keine Planung. Und immer sollen wir Geduld haben.» können als Ausdruck ungehöriger Angehöriger verstanden werden. Aber stimmt das so? Nur weil sich Angehörige beschweren, sind sie nicht einfach ungehörig. Oft fehlt es auf der Angehörigenseite an Wissen und Verständnis. Die Vermittlung von Informationen, Regeln, Hintergründen und Modellen kann diesem Umstand entgegentreten. Auch können belastende Phasen der Bewältigung, beispielsweise die fehlende Akzeptanz der Erkrankung eines wichtigen nahestehenden Menschen, die Dünnhäutigkeit von Angehörigen und somit die Gefahr einer emotionalen Reaktion verstärken. Das bedeutet: Angehörige sind auf Informationen ganz unterschiedlicher Ebenen angewiesen. Auf Informationen zu Krankheitsbildern, Informationen darüber, was die Psychiatrie kann und was eben nicht. Und nicht zuletzt auf Informationen über rechtliche Rahmenbedingungen und Möglichkeiten.
Umgang mit der Schweigepflicht Die Mitarbeiter einer psychiatrischen Institution unterstehen der Schweigepflicht. Hinter dem Begriff der Schweigepflicht stehen viele Interpretationen und auch Unsicherheiten. Sinngemäss bedeutet Schweigepflicht, dass beispielsweise der behandelnde Arzt keine Informationen zur Krankheitsdiagnose, zum Krankheitsverlauf oder zu Inhalten von Patientengesprächen ohne die Einwilligung des Patienten an Dritte, also auch an Familienmitglieder, weitergeben darf.
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FORTBILDUNG
Behandler erleben mit dem Wunsch von Angehörigen nach Information oft ein Dilemma. Insbesondere bei spontanen, überraschenden Anrufen oder Kontakten ist eine reflexartige Zurückhaltung zu beobachten. Selbst bei einer gegebenen Entbindung der Verschwiegenheitspflicht entsteht ein Gefühl der Verunsicherung, was gesagt und wo eher Zurückhaltung geübt werden soll. Diese Verunsicherung entspringt oft weniger der Sorge, die Schweigepflicht zu verletzen, als vielmehr der Unsicherheit, Themen anzusprechen oder Informationen weiterzugeben, welche man im Rahmen eines vertraulichen Gesprächs erfahren hat. Was im Wesentlichen eine Verstörung der therapeutischen Beziehung begünstigen kann. Sollte ein Patient in einer psychiatrischen Klinik wünschen, dass das Behandlungsteam keinen Kontakt mit den Angehörigen aufnimmt, besteht dennoch die Möglichkeit, dass angehörige Vertrauenspersonen mit dem Behandlungsteam Kontakt aufnehmen können. So steht es Angehörigen frei, eigene Beobachtungen mitzuteilen oder Fragen zu psychischen Krankheiten zu stellen, wenn ihnen die Diagnose des Patienten bekannt ist. Entsprechend ist es möglich, allgemein über die Krankheit zu sprechen. Der Therapeut ist nach dem Gespräch jedoch verpflichtet, den Patienten über das Gespräch zu informieren. Fachpersonen sind dabei, wie
bereits erwähnt, gefordert, nicht lediglich die gesetzli-
che Schweigepflicht zu beachten, sondern auch die
therapeutische Beziehung zu wahren. Entsprechend
wichtig scheint die Offenheit dem Patienten gegen-
über, wenn Angehörige sich melden.
Manchmal kann es auch sinnvoll sein, dass der Kontakt
zu Angehörigen vorübergehend eingeschränkt wird,
beispielsweise, wenn der Patient über die Bedeutung
der Beziehung zuerst selbst Klarheit gewinnen möchte
oder bei der Gefahr von (neuerlichen) Grenzverletzun-
gen. Zu beachten ist, dass das Behandlungsteam den
Patienten motiviert und unterstützt, dies seinem Um-
feld mitzuteilen, damit Angehörige verstehen können,
weshalb der Kontakt nicht erwünscht ist respektive dass
der Behandler diese Information weiterleitet.
Auf der Homepage des NAP sind der Qualitätsstandard
und weitere relevante Informationen zur Angehörigen-
arbeit abgebildet: www.angehoerige.ch.
G
Korrespondenzadressen:
Edith Scherer
Leiterin Angehörigenberatung
Aktuarin NAP
Kantonale Psychiatrische Dienste Nord – St. Gallen
Zürcherstrasse 30
9500 Will
E-Mail: edith.scherer@gd-kpdw.sg.ch
Internet: www.psychiatrie-nord.sg.ch
Merkpunkte:
G Angehörigenarbeit im systemischen Verständnis unterstützt das Familiensystem und darüber hinaus das ganze soziale Umfeld, in welchem ein erkrankter Mensch lebt.
G Angehörige in psychiatrischen Institutionen sind allgegenwärtig. Fachleute hören täglich von ihnen, sei es im Einzelgespräch mit dem Patienten oder im direkten Kontakt.
G Angehörigenarbeit umfasst mehr als lediglich die soziale Unterstützung, letztlich kennzeichnet sie die Wertschätzung und die Anerkennung der Institution gegenüber denjenigen Menschen, die nach wie vor einen wesentlichen Anteil an der Versorgung psychisch kranker Menschen leisten.
Thomas Lampert Koordinator Prävention und Angehörigenarbeit
St. Gallische Psychiatrie-Dienste Süd Vizepräsident NAP
Klinik St. Pirminsberg Klosterweg 7312 Pfäfers
E-Mail: thomas.lampert@psych.ch Internet: www.psych.ch
Quellen: Finzen A. (2011): Schizophrenie – die Krankheit verstehen. Psychiatrie Verlag. Liechti J., Eggel T., Rufer M. (2005): Weiterbildungsunterlagen ZSB Bern. Bern. Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (2011): Qualitätsstandard Angehörigenarbeit Psychiatrie – Eine Empfehlung. Bern. Schmid, Spiessl, Cording: Zwischen Verantwortung und Abgrenzung: Emotionale Abgrenzung von Angehörigen psychisch Kranker. Psychiatrische Praxis, 2005, Thieme Verlag. Schramme Th.: Grausame Fürsorge? Ethische Überlegungen zu Eingriffen in die persönliche Selbstbestimmung in der psychiatrischen Praxis. Referat Fachtagung Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie Bern, 2009.
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