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Angehörigenarbeit im Rahmen akutpsychiatrischer Behandlung
Der Einbezug von Angehörigen in die Behandlungsplanung und -umsetzung ist integraler Bestandteil der psychiatrischen Grundversorgung und kann wesentlich zur Verbesserung der Verläufe psychischer Erkrankungen beitragen. Die praktische Implementierung eines niederschwelligen und professionellen Angebots für Angehörige ist gerade in der akutpsychiatrischen Versorgungsrealität anspruchsvoll und kann durch eine systemisch und trialogisch orientierte Grundhaltung erleichtert werden.
Janis Brakowski Paul Hoff Matthias Jäger
von Janis Brakowski, Paul Hoff, Matthias Jäger
Einleitung
A ngehörige haben für die Behandlung von psychisch kranken Menschen mindestens in zweierlei Hinsicht eine wichtige Bedeutung: G Sie sind von den Auswirkungen der psychischen Er-
krankung mitbetroffen und damit Mitleidende. G Sie übernehmen wichtige Funktionen zur Entlas-
tung und Unterstützung der betroffenen Person und sind damit in einem bestimmten Sinn auch Mitbehandler. Angehörige sind in der Regel Personen, welche eine emotionale Beziehung zu psychiatrischen Patienten pflegen beziehungsweise in einem Vertrauensverhältnis zu ihnen stehen. Hierzu gehören Verwandte, Lebenspartner, Kinder, Freunde, Personen aus dem direkten Privat- und Arbeitsumfeld, aber auch weitere professionelle Hilfspersonen wie Beistände und Therapeuten. Entscheidend ist hierbei nicht die Form, sondern die Qualität der Beziehung, wobei diese in den meisten Fällen nicht konfliktfrei sein wird. Menschen mit psychischen Erkrankungen sind oftmals auf die Unterstützung ihrer Angehörigen angewiesen, die Stabilität des sozialen Umfelds spielt im Leben der Patienten eine bedeutende Rolle. Angehörige stellen die primäre Ressource bezüglich sozialer Kontakte und Interaktion, Freizeitgestaltung und Tagesstruktur, Pflege, finanziellen Rückhalts sowie Wohnraum dar. Laut Schätzungen werden zwei Drittel der chronisch kranken Menschen von und in ihren Familien betreut (1). Somit nimmt der Einbezug der Angehörigen in die Behandlung der Betroffenen einen zentralen Stellenwert ein.
Psychische Belastung von Angehörigen Die psychosoziale Belastung von Angehörigen psychisch kranker Menschen wurde in den letzten 20 Jahren mit unterschiedlichen Ansätzen beforscht. Für die depressive Störung, eine der häufigsten psychischen Erkrankungen, konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass Partner der Betroffenen selbst einem deutlich höheren Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind als die Allgemeinbevölkerung (2). Weiterhin leiden Angehörige von Demenzkranken deutlich häufiger als andere unter körperlichen Erkrankungen, sozialer Isolation und psychosozialen Problemen (3). Das Risiko, an stressbedingten psychischen Erkrankungen sowie deutlichen Einbussen in der Lebensqualität zu leiden, steigt mit dem zeitlichen Betreuungsaufwand für die psychisch kranke Person (4). Emotionale Belastungen von Angehörigen entstehen häufig aufgrund von Informationsmangel, Hilflosigkeit, Schuld- und Ohnmachtsgefühlen, Einsamkeit und sozialer Isolation, Zukunftsängsten sowie Angst vor Stigmatisierung (5). Hierbei ist das eigene Wohlbefinden stark verknüpft mit dem Wohlbefinden des betroffenen Patienten. Insbesondere Hospitalisationen stellen zumeist extreme Belastungen für Betroffene und Angehörige dar.
Besonderheiten im Rahmen akutpsychiatrischer Behandlung Im akutpsychiatrischen Behandlungssetting, insbesondere bei stationären Aufenthalten, kann der Einbezug von Angehörigen durch eine Reihe von Faktoren erschwert werden. Denn eine Akutbehandlung erfolgt in der Regel in psychischen Krisensituationen, die mit gravierenden Symptomen, nicht selten auch Gefährdungsverhalten (Suizidalität oder Aggressivität), einhergehen können. Diese Ausnahmesituationen werden oftmals nicht nur von den Patienten, sondern auch von den Angehörigen als stark belastend oder gar traumatisierend
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erlebt. Wird die Behandlung vom Patienten abgelehnt und lässt sich eine Gefährdung nicht anders abwenden, kommen teilweise Zwangsmassnahmen (fürsorgerische Unterbringung, freiheitsbeschränkende Massnahmen bzw. Zwangsbehandlung) zum Einsatz. Diese Interventionen können für alle Beteiligten die Belastung nochmals verstärken und sind gegebenenfalls initial für Betroffene und Angehörige nicht unmittelbar nachvollziehbar. Gerade bei Angehörigen von Patienten, die erstmals mit dem psychiatrischen Versorgungssystem in Berührung kommen, ist meistens ein hoher Bedarf an Information, emotionaler Entlastung und Unterstützung bei der Gestaltung der Interaktion mit dem Patienten vorhanden. Ein konsequenter Einbezug der Angehörigen kann im akutstationären Setting dadurch erschwert werden, dass die Behandlung durch ein multiprofessionelles Team mit wechselnden Ansprechpersonen stattfindet, oftmals mehrere Behandlungsziele parallel verfolgt werden und die Behandlung zeitlich meist sehr begrenzt ist.
Perspektiven von Angehörigen und Betroffenen Angehörige erwarten von einer psychiatrischen Institution eine vertrauensvolle und wechselseitige Zusammenarbeit, bei der sie entsprechend ihrer oben dargestellten Bedeutung wahrgenommen und gehört werden. Als wichtigste Bedürfnisse werden vielfach zeitnahe und regelmässige Gesprächsangebote genannt, um Informationen über Erkrankung und Therapiemöglichkeiten zu erhalten. Zudem wird ein Mitspracherecht bezüglich der Behandlungs- inklusive der Austrittsplanung gewünscht. Ein weiteres Anliegen vieler Angehöriger ist jedoch auch eine Entlastung durch einen ausreichend langen Klinikaufenthalt beziehungsweise durch Einrichtung zusätzlicher Betreuungsoptionen für die Zeit nach dem Aufenthalt. Für viele Betroffene in akuten Erkrankungsphasen können die Familie oder andere direkte Angehörige auch als Belastung oder gar Verursacher der Krise wahrgenommen werden. Der direkte Kontakt oder eine Kontaktaufnahme durch die Behandler wird eventuell ausdrücklich abgelehnt. Eine solche Situation kann die Behandlungsplanung erheblich erschweren und umfasst das Risiko, dass die Anliegen der Angehörigen unbeachtet bleiben und es zu einer Verstärkung von deren Belastung durch Informationsdefizite und fehlende Mitsprachemöglichkeiten kommt. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen der Einbezug von Angehörigen der Behandlung tatsächlich mehr schaden als nützen würde. Um unter den spannungsreichen Rahmenbedingungen einer akutpsychiatrischen Behandlung den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht zu werden, ist eine systemisch und trialogisch orientierte Haltung der Mitarbeitenden hilfreich.
Systemtherapeutische und trialogische Haltung in der Akutpsychiatrie Die Grundprinzipien systemtherapeutischer Gesprächsund Verhandlungskulturen eignen sich grundsätzlich auch für die Akutbehandlung, um unkompliziert und zeitökonomisch eine Kooperation zwischen allen Beteiligten herzustellen und damit die Versorgungsqualität
für Betroffene, Angehörige und Mitarbeitende zu verbessern. Zentrale Elemente einer systemischen Arbeitsweise sind die Angehörigenorientierung (konsequenter Einbezug in die Behandlungsprozesse), die Erarbeitung eines gemeinsamen kontextuellen Krankheitskonzepts (inkl. Verständnis und Einordnung sozialer und situativer Faktoren für die aktuelle Krise), die multiple Auftragsorientierung (Einbezug der Perspektive und der Bedürfnisse aller an der Behandlung beteiligten Parteien) und die Verhandlungskultur (statt einseitiger Entscheidungsfindung durch nur eine oder zwei der beteiligten Parteien). Diese Arbeitsweise impliziert, dass bereits frühzeitig Familiengespräche stattfinden, Angehörige bei allen Planungsschritten einbezogen und alle Aspekte der Behandlung (inkl. Diagnosestellung, Medikation, Austrittszeitpunkt etc.) verhandelt werden können (6). Eine systemorientierte Grundhaltung geht davon aus, dass die (oftmals auch widersprüchlichen) Behandlungsaufträge von Patienten, Angehörigen und anderen Beteiligten die Behandlung stärker steuern als die Diagnosen. Zudem werden bestehende familiäre Bindungen ohne Vorbehalte akzeptiert und nicht aktiv unterbunden oder ignoriert (ausser bei schwerem Missbrauch und Gewalt) sowie Veränderungen durch eine optimistische Herangehensweise gefördert und nicht durch Druck herbeigeführt (7). Trialogische Arbeitsweisen haben das gemeinsame Anliegen, einen gleichberechtigten Erfahrungsaustausch aller Beteiligten (Betroffene, Angehörige und Professionelle) zur psychischen Erkrankung und zum Umgang damit zu ermöglichen. Hierdurch sollen ein besseres Verständnis entwickelt, wechselseitige Vorurteile abgebaut und ein respektvoller Umgang miteinander gefördert werden. Unterschiedliche Sichtweisen werden diskutiert, ohne dass ein Konzept als das einzig richtige gewertet wird (8). Auf einer trialogischen Haltung basieren nicht nur die «Psychoseseminare» als Paradebeispiel dieser Art des Austauschs über psychiatrische Erkrankungen, sondern auch zahlreiche auch für die Akutpsychiatrie geeignete Konzepte wie Offener Dialog, Reflektierendes Team, Hometreatment mit Netzwerkgesprächen, Behandlungskonferenzen und andere (9).
Psychoedukative und beratende Interventionen in der Angehörigenarbeit Information sowie direkte Unterstützung durch Fachstellen können Angehörigen helfen, mit eigenen Belastungen besser umzugehen (5). Angehörige sollten lernen, sich mit der Krankheit der Betroffenen und deren Folgen auseinanderzusetzen, dabei aber ihre eigenen Bedürfnisse nicht zu vernachlässigen (10). Die positiven Effekte von Psychoedukation und Beratungsangeboten für Angehörige sind gut belegt. Psychoedukation und Angehörigenberatung umfassen Informationsvermittlung über die Krankheit und ihre Behandlung für Patienten und ihre Angehörigen, um das Krankheitsverständnis und die selbstverantwortliche Krankheitsbewältigung zu fördern (11). Beratungsangebote umfassen direkte Anleitungen zum täglichen Umgang mit Betroffenen, die Entwicklung von Stressbewältigungsstrategien sowie die Bearbeitung von Schuldgefühlen (12). Angehörige sollen insbesondere ihr Verständnis für das durch die Erkrankung beeinträchtigte kommunikative und interaktionelle Verhalten des
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Betroffenen erweitern (13). Ein weiteres zentrales Anlie-
gen ist die Unterstützung bei der Bewältigung von
eigenem Stress sowie die Korrektur von häufig vorkom-
menden negativen Bewertungen der geleisteten Un-
terstützungsarbeit (14). Hierdurch soll das Risiko
gesenkt werden, dass Angehörige selbst an stressbe-
dingten Störungen erkranken (15).
G
Korrespondenzadresse:
Dr. Janis Brakowski
Oberarzt
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
(KPPP)
Lenggstrasse 31
Postfach 1931
8032 Zürich
E-Mail: Janis.Brakowski@puk.zh.ch
Merkpunkte:
G Für Menschen mit psychischen Erkrankungen stellen Angehörige eine wichtige Ressource dar und sollten in die Behandlung mit einbezogen werden.
G Im anspruchsvollen und spannungsreichen akutpsychiatrischen Setting ist eine systemisch und trialogisch orientierte Haltung der Mitarbeitenden gegenüber allen Beteiligten sinnvoll.
G Psychoedukation und professionelle Beratung können den Behandlungserfolg massgeblich beeinflussen und Angehörige entlasten.
Literatur:
1. Franz M, Meyer T, Gallhofer B: Belastungen von Angehörigen schizophren und depressiv Erkrankter – eine repräsentative Studie, in: Fegert JM, Ziegenhain U (Hrsg.): Hilfen für Alleinerziehende. Die Lebenssituation von Einelternfamilien in Deutschland, Berlitz, 2003; 215–230.
2. Wittmund B, Wilms HU, Mory C, Angermeyer MC: Depressive disorders in spouses of mentally ill patients. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiol 2002; 37: 177–182.
3. Brodaty H, Green A: Family carers for people with dementia. In: O’Brien J, Ames D, Burns A (Hrsg.): Dementia. Arnold Verlag London. 2000.
4. Hirst M: Carer distress: a prospective, population-based study. Soc Sci Med 2005; 61(3): 697–708.
5. Spiessl H, Schmid R, Wiedermann G, Cording C: Unzufriedene Angehörige – Kunstfehler psychiatrischer Behandlung oder ökonomische Notwendigkeit? Psychiatrische Praxis 2005; 32: 215–217.
6. Schweitzer J, Grünwald H. SYMPA: Vorschau auf ein Grossexperiment zur systemischen Forschung in der Akutpsychiatrie. Zeitschrift Systeme 2004; 17(1): 36–45.
7. Schweitzer J, Nicolai E: Familien und existenzielle Netzwerke in der Allgemeinpsychiatrie. Lehren aus dem SYMPA-Projekt. Kerbe 2010; 3: 8–11.
8. Bock T (Hrsg.): Es ist normal, verschieden zu sein! Verständnis und Behandlung von Psychosen. Blaue Broschüre. Psychiatrie-Verlag, Bonn 1997, 2000.
9. Seikkula J, Arnkil TE: Dialoge im Netzwerk. Neue Beratungskonzepte für die psychosoziale Praxis. Neumünster: Paranus Verlag, 2007.
10. Lauber C, Eichenberger A, Luginbühl P, Keller C, Rössler W: Determinants of burden in caregivers of patients with exacerbating schizophrenia. Eur Psychiatry 2003; 18(6): 285–289.
11. Pitschel-Walz G, Leucht S, Bäuml J, Kissling W, Engel R: The Effect of Family Interventions on Relapse and Rehospitalisation in Schizophrenia – A Meta-analysis. Schizophrenia Bull 2001; 27(1): 73–92.
12. Dörner K, Egetmeyer A, Koenning K: Freispruch der Familie: Wie Angehörige psychiatrischer Patienten sich in Gruppen von Not und Einsamkeit, von Schuld und Last freisprechen. 3., korr. Auflage der Neuausgabe von 1995, Bonn: Psychiatrie-Verlag 2001.
13. Cuijpers P, Stam H: Burnout among relatives of psychiatric patients attending psychoeducational support groups. Psychiatr Serv 2000; 51(3): 375–379.
14. Jungbauer J, Bischkopf J, Angermeyer MC: Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker. Psychiat Prax 2001; 28: 105–114.
15. Harvey K, Burns T, Fahy T, Manley C, Tattan T: Relatives of patients with severe psychotic illness: factors that influence appraisal of caregiving and psychological distress. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiol 2001; 36(9): 456–461.
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