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SYMPOSIUM
2. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Kopenhagen
Mehr und bessere Biomarkerforschung gefordert
Mehr als 6000 Teilnehmer nahmen vom 28. bis 31. Mai am 2. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Kopenhagen teil. Eines der zentralen Themen: neurodegenerative Erkrankungen, insbesondere Morbus Alzheimer. Grosse Hoffnungen werden in Biomarker gesetzt, die allerdings noch ein gutes Stück von der klinischen Einsetzbarkeit bei der Alzheimer-Diagnose entfernt sind. Zu denken gibt auch der besorgniserregend häufige Einsatz psychotroper Medikamente bei Demenzpatienten.
A nlässlich der Pressekonferenz des Kongresses betonte Prof. Dr. Gunhild Waldemar, die Direktorin des dänischen Demenzforschungszentrums, die Dringlichkeit intensivierter Forschung zu Demenzerkrankungen, von denen gegenwärtig weltweit rund 47 Millionen Menschen betroffen sein dürften – bei stark steigender Tendenz. Prof. Waldemar verwies auf eine kürzlich prominent publizierte Arbeit, welche die globalen wirtschaftlichen Kosten von demenziellen Erkrankungen für 2015 mit der enormen Summe von 818 Milliarden US-Dollar bezifferte (1).
Auf der Suche nach Biomarkern für M. Alzheimer Der Forschungsbedarf beginnt bei der Diagnose, die gegenwärtig nur post mortem mit Sicherheit gestellt werden kann. Tests, die in Verbindung mit der Klinik oder am besten bereits vor dem Auftreten der Symptome eine Alzheimer-Diagnose ermöglichen, sind daher dringend gefragt. Grosse Hoffnungen werden in Biomarker gesetzt, die allerdings noch ein gutes Stück von der klinischen Einsetzbarkeit entfernt sind. Das hat nicht zuletzt strukturelle Gründe, wie Prof. Dr. Giovanni Frisoni von der Universität Genf betonte, der mit einer internationalen Gruppe eine «Roadmap» zu einer Biomarker-basierten Alzheimer-Diagnose vorschlägt. Die Forscher weisen darauf hin, dass Mängel in der Koordination auf europäischer und internationaler Ebene die Zulassung der am weitesten entwickelten Tests in den klinischen Alltag verzögern und damit letztlich auch die Entwicklung potenzieller Therapien erschweren. Basierend auf den Erfahrungen aus der Onkologie schlägt die Gruppe ein Programm in fünf Schritten vor, das von der Grundlagenforschung bis zum klinischen Einsatz eines Biomarkers führen soll. Diese fünf Schritte sind präklinische, experimentelle Studien, die Entwicklung klinischer Assays für den praktischen
Einsatz, prospektive Longitudinalstudien anhand verfügbarer Proben und Daten (prospective longitudinal repository studies), prospektive diagnostische Studien und schliesslich Krankheits-Kontroll-Studien. Die Gruppe untersuchte für eine Reihe der in Entwicklung befindlichen Biomarker, inwiefern dieses Programm bereits umgesetzt ist. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Alle untersuchten Biomarker hatten zwar Phase 1 durchlaufen, aber bereits ab Phase 2 und 3 wird die Evidenz immer dünner und geht in Phase 4 schliesslich gegen null. Phase 5 wurde für keinen Biomarker in der Indikation Alzheimer auch nur ansatzweise versucht (2). Einen kleinen Schritt in Richtung verbesserter Evidenz für den Einsatz von Biomarkern in der Alzheimer-Diagnostik geht eine italienische Studie, die die Aussagekraft von Amyloid-PET (18F-Florbetapir PET) in der Diagnose von Morbus Alzheimer beziehungsweise den Einfluss dieser Methode auf das Vertrauen in die klinische Diagnose und die gewählte Behandlung untersuchte (3). Dieser Einfluss ist signifikant. So verlief der Amyloidnachweis bei 35,2 Prozent der vermeintlichen Alzheimer-Patienten negativ, was bei einem hohen Prozentsatz dieser Patienten zu einer Änderung der Diagnose führte. Gleichzeitig ergab auch bei fast der Hälfte der Patienten mit Verdacht auf frontotemporale Demenz das Amyloid-PET ein für Alzheimer sprechendes Bild, was ebenfalls in einer Veränderung von Diagnosen resultierte. Das Vertrauen der Kliniker in die eigene Diagnose nahm mit Amyloidimaging um 15 Prozent zu. Nicht zuletzt veränderten sich auch die gewählten Therapien. AChE-Inhibitoren oder Memantin wurden bei zahlreichen amyloidnegativen Patienten abgesetzt, bei anderen Patienten aber auch initiiert, wenn das Imaging den Verdacht auf einen Morbus Alzheimer lenkte.
Alzheimer-Prävention: gute Daten für Kaffee Allerdings unterstreicht Prof. Waldemar, dass es beim Einsatz von Biomarkern in der AlzheimerDiagnostik nicht nur um technische Probleme gehe: «In Zukunft werden wir medizinische, ethische und auch rechtliche Richtlinien dafür brauchen, wie diese Untersuchungen ablaufen sollen und wann sie angemessen sind, damit es eine Richtschnur für die Beratung der Patienten gibt.» Sie fordert zudem breite, evidenzbasierte Public-Health-Programme, um Alzheimer zu verhindern oder den Krankheitsbeginn hinauszuzögern. Eine im Rahmen des EAN 2016 vorgestellte Arbeit liefert diesbezüglich erfreuliche Daten: Regelmässiger Kaffeekonsum kann das Risiko reduzieren, an Alzheimer zu erkranken, und einer finnischen Gruppe ist es nun gelungen, diese Beobachtung mit Daten aus der Bildgebung zu untermauern (4). Auswertungen der Langzeitstudie CAIDE (Cardiovascular Risk Factors, Ageing and Dementia) legen nahe, dass der tägliche Genuss von 4 bis 5 Tassen Kaffee im mittleren Alter einer Atrophie des für die Gedächtnisleistung wichtigen medialen Temporallappens vorbeugt. CAIDE bietet eine einzigartige Chance, derartige Assoziationen aufzudecken. Die Probanden wurden in den Jahren 1972, 1977, 1982 oder 1987 rekrutiert und erhielten zunächst eine Baselineuntersuchung, der zwei weitere Untersuchungen in den Jahren 1998 und 2005 bis 2008 folgten. Aus dieser Population wurden im Jahr 1998 bei 112 Probanden Magnetresonanz-(MRT-)Scans durchgeführt, bei denen das Gesamtvolumen der grauen Substanz bestimmt sowie nach etwaigen Läsionen der weissen Substanz sowie einer Atrophie des medialen Temporallappens gesucht wurde. Bei weiteren 68 Individuen wurden zwischen 2005 und 2008 MRT-Scans durchgeführt. Damit wurde ein Follow-up über bis zu 28 Jahre möglich. Die Auswertung ergab für moderate Kaffeetrinker (4 bis 5 Tassen pro Tag) im Vergleich zu schwachen Kaffeetrinkern signifikante Risikoreduktionen im Hinblick auf das Auftreten einer Atrophie des medialen Temporallappens sowohl nach 21 Jahren (RR = 0,50; 95%-KI: 0,18–0,91) als auch nach 28 Jahren (RR = 0,14; 95%-KI: 0,02–0,82). Die Daten waren bezüglich einer Reihe von Störfaktoren adjustiert. Keine Assoziationen wurden zwischen dem Kaffeekonsum und Läsionen der weissen Substanz oder dem Gesamtvolumen der grauen Substanz gefunden.
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
SYMPOSIUM
Registerstudien: Stärke des Gastgeberlandes Dänemark Das Gastgeberland Dänemark steuerte zum diesjährigen EAN eine Reihe von Registerstudien bei, wie sie in dieser Form nur in Skandinavien möglich sind. «Wir sind hier in einigen Bereichen unter den europäischen Vorreitern, was die Breite neurologischer Indikationen betrifft, zu denen wir Registerdaten haben. Studien, die auf systematisch gesammelten Registerdaten basieren, haben grossen Wert. Anders als klinische Studien, die unter streng definierten Bedingungen ablaufen, bilden Register die medizinische Praxis mit all ihren Unregelmässigkeiten ab und können so die Stärken und Schwächen von Therapien besonders deutlich sichtbar machen. Damit sind sie auch ein wichtiger Beitrag zur Patientensicherheit», so kommentierte Prof. Dr. Mads Henrik Ravnborg, Präsident der Dänischen Neurologischen Gesellschaft. Eine dieser Registerstudien zeigt einen besorgniserregend häufigen Einsatz psychotroper Medikamente bei Demenzpatienten – ungeachtet der oftmals fehlenden Evidenz für deren Wirksamkeit (5). Dabei kamen nicht nur Substanzen zum Einsatz, deren Wirksamkeit nur eingeschränkt erwiesen ist, es wurde auch in vielen Fällen Polypharmazie beobachtet. Von rund 35 000 Patienten bekam laut Registerdaten jeder Vierte mehr als zwei psychotrope Medikamente. Von den rund 5400 Patienten, die mit Antipsychotika behandelt wurden, erhielten drei von vier weitere psychotrope Substanzen während der Periode der antipsychotischen Behandlung. Eine weitere dänische Studie fand beim Einsatz von Antipsychotika bei Demenzpatienten erhebliche regionale Unterschiede (6). Im Jahr 2012 schwankte die Prävalenz des Gebrauchs von Antipsychotika unter Demenzpatienten in den 98 untersuchten Gemeinden zwischen 7,6 und 32,9 Prozent.
Komorbiditäten zu wenig erkannt und behandelt Ein erhebliches Problem von Demenzpatienten stellen Komorbiditäten dar. Immer mehr Daten zeigen, dass sie zu selten erkannt und noch seltener behandelt werden. Dies gilt nicht zuletzt für den chronischen Schmerz, wie eine im Rahmen des EAN-Kongresses vorgestellte slowenische Studie zeigt (7). Untersucht wurde dabei die Prävalenz von Gliederschmerzen bei diabetischen Patienten mit oder ohne kognitive Beeinträchtigung. Dazu wurden 452 Patienten einer Diabetesambulanz mit dem Uhrentest (Clock Drawing Test; CDT) auf kognitive Beeinträchtigung gescreent und hinsichtlich chronischer Schmerzen befragt. Bei einem CDT-Wert von 3 oder weniger Punkten wurde eine kognitive Einschränkung angenommen. Die Studie
ergab, dass kognitiv gesunde Patienten signifikant häufiger angaben, unter Schmerzen zu leiden. Chronischer Schmerz war also signifikant negativ mit kognitiver Beeinträchtigung assoziiert. Da allerdings nichts dafür spricht, dass Demenz einen protektiven Effekt gegenüber Schmerz hat, nehmen die Autoren an, dass die eingesetzten Screeninginstrumente Schmerz bei dementen Patienten verfehlen. «Kognitiv beeinträchtigte oder demente Personen artikulieren ihre Beschwerden offenbar seltener. Sie dürfen daher nicht nur zu möglichen Schmerzen befragt werden, wir müssen sie aktiv untersuchen», kommentierte der Studienautor Dr. Martin Rakusa von der Universitätsklinik Maribor. Medizinische Unterversorgung von Demenzpatienten fand auch eine schwedische Registerstudie, die die Prävalenz von Vorhofflimmern in einer demenzkranken Population untersuchte (8). Analysiert wurden die Daten von rund 29 600 Patienten. Bei 5700 war Vorhofflimmern bekannt. Das hatte allerdings wenig Konsequenzen: Nur rund 40 Prozent der Betroffenen erhielten eine adäquate Schlaganfallprophylaxe in Form von Antikoagulation. Die Wahrscheinlichkeit, den Leitlinien entsprechend behandelt zu werden, sank mit der kognitiven Leistung der Betroffenen.
Wie das Darmmikrobiom Einfluss auf das Gehirn nehmen könnte Eine eigene Session war in Kopenhagen den Verbindungen zwischen dem Darmmikrobiom und dem Nervensystem gewidmet. Als eine Art «Stargast» war der Neurowissenschafter Prof. John F. Cryan vom APC Microbiome Institute am University College Cork, Irland, geladen. Er zählt zu den weltweit führenden Forschern auf diesem Gebiet und erläuterte den aktuellen Forschungsstand zur «Gut-Brain-Axis». Cryan betonte, dass bakterielle Besiedelung des Darms bereits die Gehirnentwicklung beeinflusst: «Wir untersuchten das Gehirn von keimfreien Mäusen. In einer Region, dem präfrontalen Kortex, fanden wir eine stärkere Myelinisierung als bei normal gehaltenen Tieren. Das könnte direkte Folgen für Krankheiten haben, bei denen die Myelinscheide betroffen ist. Vom Mikrobiom abhängig sind ausserdem die Bildung von Nervenzellen des Hippocampus im Erwachsenenalter und die Aktivierung der Mikroglia in Gehirn und Rückenmark.» Ganz besonderes Interesse am Mikrobiom besteht in der MS-Forschung. Und dies nicht nur wegen der von Cryan erwähnten Beziehungen zwischen der mikrobiellen Besiedlung des Darmes und der Myelinscheide, sondern vor allem wegen einer angenommenen Rolle des Mikrobioms bei der Entstehung von Autoimmunität. Dazu Dr. Gurumoorthy Krishnamoorthy vom
Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Mar-
tinsried, Deutschland: «Möglicherweise sind es
nicht primär pathogene, sondern für die Ver-
dauung notwendige, nützliche Bakterien, die
zur Entwicklung einer Multiplen Sklerose bei-
tragen können.» In diese Richtung weisen
jedenfalls Experimente im Tiermodell. Beispiels-
weise mit transgenen Mäusen, die unter nor-
malen Lebensbedingungen eine der Multiplen
Skerlose vergleichbare Entzündung im Gehirn
entwickeln. Wachsen die Tiere keimfrei auf, ent-
wickeln sie also kein physiologisches Darmmi-
krobiom, bleibt die Inflammation im zentralen
Nervensystem aus. Auch der pathophysiologi-
sche Hintergrund dieses Effekts konnte mittler-
weile aufgeklärt werden. Die Entgleisung des
Immunsystems erfolgt in zwei Phasen. Zu-
nächst kommt es im Darmtrakt zur Aktivierung
und Proliferation von T-Lymphozyten. Die T-Zel-
len regen in weiterer Folge B-Zellen zur Bildung
pathologischer Antikörper gegen die Oberflä-
chenproteine der Myelinschicht an. Krishna-
moorthy: «Das löst Entzündungsreaktionen im
Gehirn aus, die schubweise die Myelinschicht
zerstören – ganz ähnlich, wie die MS-Erkran-
kung beim Menschen verläuft.» Die Arbeitshy-
pothese lautet nun, dass auch beim Menschen
bei entsprechender genetischer Disposition
die Darmflora eine Überreaktion des Immunsys-
tems gegen die Myelinschicht hervorrufen
könnte. Bis jetzt sind die zentralen Fragen aller-
dings ungelöst. Weder ist klar, ob und wieweit
sich dieses Tiermodell auf den Menschen über-
tragen lässt, noch weiss man, welche Bakterien
dabei ausschlaggebend sind. Damit bleibt
auch die Frage nach möglichen therapeuti-
schen Interventionen offen.
G
Reno Barth ist Journalist
und schreibt für Rosenfluh Publikationen.
Referenzen:
1. Winblad B et al.: Defeating Alzheimer’s disease and other dementias: a priority for European science and society, Lancet Neurol 2016; 15: 455–532.
2. Frisoni G et al.: Roadmap to the biomarker-based diagnosis of Alzheimer’s disease. EAN 2016 Abstract O2201.
3. Altomare D et al.: The incremental diagnostic value of 18F-Florbetapir imaging in naturalistic patients with cognitive impairment: final results from the INDIA-FBP study. EAN 2016 Abstract P12011.
4. Eskelinen M et al.: Midlife coffee drinking and dementiarelated brain changes on MRI up to 28 years later. EAN 2016 Abstract P12007.
5. Nørgaard A et al.: Psychotropic polypharmacy in patients with dementia. EAN 2016 Abstract P 22011.
6. Zakarias JK et al.: Regional differences in antipsychotic drug use in elderly patients with dementia: a nationwide study. EAN 2016 Abstract P32011.
7. Rakusa M, et al.: Overlooked chronic pain in diabetic patients with cognitive impairment. EAN 2016 Abstract.
8. Subic A et al.: Treatment of atrial fibrillation in dementia patients. EAN 2016 Abstract P31037.
Quelle: Kongress der European Academy of Neurology, 28. bis 31. Mai 2016 in Kopenhagen. Pressekonferenz, Postersessions und Focused Workshop «Gut microbiota, immunology and neurological diseases».
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PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
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