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FORTBILDUNG
Orphan diseases – seltene Krankheiten
Mehr als eine halbe Million Menschen leiden in der Schweiz an einer seltenen Krankheit (Orphan disease). Die «gut betreuten» seltenen Krankheiten sind gut im Gesundheitssystem eingebettet. Problematisch ist das Leben für Menschen mit seltenen «vernachlässigten» Krankheiten. Die Betroffenen erhalten in vielen Fällen keine oder noch keine eindeutige Diagnose und auch keine spezifische Therapie. Aus diesem Grund sollte die wissenschaftliche und politische Diskussion gefördert werden.
von Andreas R. Huber
Einleitung
G emäss internationaler Übereinkunft wird eine seltene Krankheit definiert als eine Krankheit, die in weniger als 5 Fällen pro 10 000 EinwohnerInnen auftritt sowie lebensbedrohlich oder chronisch invalidisierend ist. Subtypen von insgesamt häufigen Erkrankungen sind in dieser Definition nicht eingeschlossen. Weltweit sind etwa 6000 bis 8000 verschiedene seltene Krankheiten beschrieben. Sie können infektiöser, autoimmuner oder maligner Natur sein. Die meisten aber, nämlich 4 von 5 seltenen Krankheiten, basieren auf einer genetischen Aberration. Epidemiologische Abklärungen zeigen, dass in der Schweiz die Prävalenz von seltenen Krankheiten auf durchschnittlich 7,2 Prozent geschätzt wird. Das entspricht etwa 580 000 Personen. Das heisst, dass einzelne Fälle natürlich selten sind, je-
Kasten:
Kriterien zur Differenzierung von «gut betreuten» gegenüber «vernachlässigten» seltenen Krankheiten
Ja 1. Die Krankheit wird in der Regel im Frühstadium erkannt. 2. Es gibt ein klar definiertes und einfach zugängliches
diagnostisches Prozedere. 3. Es existiert eine etablierte, spezifische Therapie, die von der
Krankenversicherung vergütet wird. 4. Die Expertise zur Behandlung der Krankheit ist weit-
verbreitet oder in einem Referenzzentrum beziehungsweise in mehreren Referenzzentren verfügbar. 5. Der Bedarf an supportiver Therapie, Rehabilitation und psychosozialer Therapie ist gedeckt. 6. «Burden of Disease» bei behandelter Krankheit ist klein.
Nein
Andreas R. Huber
doch zusammengezählt eine doch eindrückliche Bevölkerungsgruppe umfassen.
«Gut betreute» seltene Krankheiten versus «vernachlässigte» seltene Krankheiten Es gibt eine Gruppe von gut betreuten seltenen Krankheiten, was bedeutet, dass sie zwar seltener als 5:10 000 sind – aber das Gesundheitssystem ist gut auf diese Krankheiten eingestellt. Als Beispiel möge die Hämophilie A gelten (Prävalenz 1:10 000 pro männliche Geburten). Bei dieser hämorrhagischen Diatheseerkrankung kann festgehalten werden, dass sie rasch und einfach diagnostiziert werden kann, dass es gute spezifische Medikamente gibt und dass die Krankheit in etablierten Referenzzentren betreut werden kann. Auch bestehen Patientenorganisationen, welche die Patienten mit dieser Blutkrankheit gut unterstützen. Des Weiteren werden die teuren Medikamente und die aufwändige Diagnostik von den Kassen meist ausnahmslos bezahlt. Anders sieht es bei den sogenannten vernachlässigten seltenen Krankheiten aus. Hier wird die Diagnose oft spät und nach mehreren Irrläufen und erfolglosen Therapieversuchen gestellt. In vielen Fällen gibt es keine
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oder noch keine eindeutige Diagnosemöglichkeit und auch keine spezifische Therapie. Solche Patienten werden gerne marginalisiert, und die Kassen lehnen die Übernahme von Diagnostik und/oder Therapiekosten ab. Es ist die Thematik dieser seltenen vernachlässigten Krankheiten, die es zu fördern gilt. Und zwar sowohl medizinisch wie auch in der Forschung, aber vor allem auch gesellschaftlich und politisch. Für die Diagnostikindustrie und die pharmazeutische Industrie ist es ausgesprochen teuer und aufwendig, Studien zu führen, um neue Methoden und Therapien zu erforschen und zu entwickeln. Deshalb braucht es aus dem Service public eine entsprechende Unterstützung.
Kriterien zur Differenzierung von «gut betreuten» gegenüber «vernachlässigten» seltenen Krankheiten Wie man zwischen gut betreuten und vernachlässigten seltenen Krankheiten unterscheidet, zeigt der Kasten. Wenn alle Aussagen mit Ja beantwortet werden können, ist davon auszugehen, dass es sich um eine gut betreute seltene Krankheit handelt, bei der zurzeit keine zusätzlichen Fördermassnahmen im Sinne eines nationalen Programms notwendig sind. Je mehr Nein-Antworten vorliegen, desto eher handelt es sich um eine vernachlässigte seltene Krankheit und umso mehr sind die davon betroffenen Patientinnen und Patienten auf Unterstützung angewiesen.
Fazit und Zukunft
Dank neuen Diagnostikmethoden, insbesondere Next
Generation Sequencing (NGS), wird es künftig möglich
sein, auch seltene Krankheiten rasch und kosteneffizient
zu diagnostizieren und eine eindeutige Diagnose zu
stellen. So lassen sich auch seltene Fälle bündeln und
die Entwicklung neuer Medikamente/Diagnostik opti-
mieren. Zum Glück hat sich der Bund dieses Themas
angenommen und entsprechende erste Schritte einge-
leitet. Durch Schaffung von Referenzzentren, nationaler
und internationaler Vernetzung der Berufspersonen
(Ärzte, Pflegepersonal, Labor, Pathologie, Genetik) und
mit Unterstützung der verschiedenen Patientenorgani-
sationen, die sich um solche seltene Krankheiten küm-
mern – zusammengefasst in «pro raris» –, wird sich in
der Schweiz die Situation bessern. Auch müssen Spiel-
regeln definiert werden, wann und unter welchen Be-
dingungen die Krankenkassen die Übernahme von
Kosten zu tätigen haben.
G
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. A. R. Huber Chefarzt und Institutsleiter Institut für Labormedizin
Kantonsspital Aarau 5001 Aarau
E-Mail: andreas.huber@ksa.ch
Die Erstveröffentlichung des Beitrags erfolgte im doXmedical 2 2015.
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