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FORTBILDUNG
68th American Academy of Neurology (AAN) in Kanada
Die Liste der Differenzialdiagnosen bei MS ist lang
Die jährliche AAN-Tagung ist der grösste Neurologenkongress der Welt. Die Oberärztin Dr. Stefanie Müller, Klinik für Neurologie am Kantonsspital St. Gallen, fasst im Interview einige spannende Highlights der 68. American Academy of Neurology zusammen.
Stefanie Müller
3/2016
Psychiatrie & Neurologie: Was war speziell spannend am AAN? Dr. Stefanie Müller: Nebst den Teaching Courses gab es Präsentationen zu nahezu sämtlichen Teilbereichen der Neurologie, wobei die Multiple Sklerose (MS) auch dieses Jahr wieder einen grossen Anteil ausmachte, nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen. Bei der Fülle an Präsentationen und Postern ist es aber nicht möglich, einen kompletten Überblick zu geben. Auch ist die Wahl der hier hervorgehobenen Themen subjektiv geprägt. Interessant waren aus meiner Sicht zwei Poster zur Bedeutung der Adipositas als Risikofaktor der MS. So konnte das Team um Dr. J. Graves (P1.375) mittels Mendel-Randomisierung in einer Gruppe von fast 400 Kindern mit MS und einer grossen Kontrollgruppe einen kausalen Zusammenhang zwischen Body-Mass-Index und kindlicher MS zeigen. Eine kanadische Querschnittsstudie um Dr. K Krysko (P1.376) zeigte zwar, dass mehr als die Hälfte der 50 Kinder mit MS übergewichtig waren, sie fand aber keinen Zusammenhang mit der Krankheitsaktivität. Dies sind sicherlich relevante Aspekte auch für Europa, im Wissen, dass die Zahl der Menschen mit Übergewicht stetig zunimmt. In unmittelbarer Nähe befand sich das Poster zu einem ebenfalls wichtigen Thema in der Behandlung der MS, nämlich der Ernährung, respektive zu einem Hot Topic der letzten Zeit, dem Mikrobiom, also dem Darm mit seiner bakteriellen Besiedlung. Die Arbeitsgruppen von Ralf Gold und Ralf Linker untersuchten die Auswirkung von Propionsäure, einer kurzkettigen Fettsäure, auf das Immunsystem von MS-Erkrankten und Gesunden. Die Auswirkungen im Mausmodell der MS, die experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis (EAE), wurde 2015 in der Zeitschrift «Immunity» veröffentlicht. Es wurde gezeigt, dass es dabei zu einer signifikanten Erhöhung
der Anzahl regulatorischer T-Zellen und zu einer Reduktion von Th17-Zellen kam. Naheliegenderweise propagieren die Autoren die Zugabe von Propionsäure als mögliche Zusatztherapie zu den etablierten immunmodulatorischen MS-Medikamenten.
Hat es neue und spannende Ergebnisse zu MS-Medikamenten gegeben? Stefanie Müller: Wirkliche Neuerungen gab es nicht, aber es wurden Subgruppenanalysen abgeschlossener Studien gezeigt, deren Ergebnisse interessant waren. Nennenswert sind hier vor allem die von Dr. A. Traboulsee präsentierten NEDA-Daten aus den beiden PhaseIII-Ocrelizumab-Studien. NEDA – No Evident Disease Activity oder keine Evidenz für Krankheitsaktivität – stellt das Therapieziel dar und ist definiert als Schubfreiheit, fehlende Magnetresonanztomografie-(MRT)-Aktivität sowie fehlende Behinderungsprogression, gemessen am EDSS, einer Skala zur Messung des Behinderungsgrades bei MS. Insgesamt erreichten 48 Prozent der mit Ocrelizumab behandelten Patienten NEDA, wohingegen dies nur bei 29 respektive 25 Prozent (in OPERA I resp. OPERA II) der mit Interferon beta-1a behandelten Patienten der Fall war.
Und wie sieht es aus mit Erfahrungen zu bekannten MSMedikamenten? Stefanie Müller: Langzeitdaten aus den Zulassungsstudien zur Wirksamkeit, aber auch zur Sicherheit haben einen wichtigen Stellenwert, insbesondere bei den zahlreichen neueren Substanzen, die in den letzten Jahren ihre Zulassung zur Behandlung der schubförmigen MS erhalten haben. So wurden die 7-Jahres-Daten aus der LONGTERMS-Studie mit Fingolimod (Gilenya®) als Poster präsentiert (P03.057). Es zeigten sich, bei anhaltender Wirksamkeit und 50 Prozent schubfreien Patienten in diesem Zeitraum, keine neuen Nebenwir-
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kungen. Die 5-Jahres-Analyse der Zulassungsstudien von Alemtuzumab (CARE MS I und II) zeigte, dass die Schubrate und Behinderungsprogression stabil blieben, obwohl die Mehrzahl der Patienten keine weiteren Infusionen mehr erhalten hatten. Bemerkenswert ist auch, dass bei mehr als 40 Prozent der mit Alemtuzumab behandelten Patienten eine klinische Verbesserung, gemessen am EDSS, erzielt wurde (P3.022).
Was ist für Sie möglicherweise relevant für die Praxis? Stefanie Müller: Die MS ist eine Erkrankung des jungen Erwachsenenalters, einem Lebensabschnitt, in dem Familienplanung eine wichtige Rolle spielt. Schwangerschaften sind nicht immer geplant, und entsprechend wichtig sind Daten aus den Registern von Schwangerschaften, welche unter Behandlung aufgetreten sind. Auch für die Beratung unserer Patientinnen. Dr. Sandra Thiel präsentierte Daten aus dem Deutschen Schwangerschaftsregister, wonach etwa 250 Neugeborene, deren Mütter im ersten Trimenon Interferon-betaInjektionen erhielten, mit knapp 200 Neugeborenen von Müttern mit MS verglichen wurden, die keine Therapie erhalten hatten. Die Neugeborenen unterschieden sich bezüglich Gewicht und Gestationsalter bei Geburt nicht. Auch gab es keinen Unterschied bezüglich Abort- oder Fehlgeburtsrate. Hingegen fand die Gruppe um Dr. Maria Pia Amato in ihrer Kohorte eine höhere Rate an Spontanaborten bei Frauen, welche unter Therapie mit dem monoklonalen Antikörper Natalizumab waren, als bei solchen, die keine immunmodulatorische Therapie erhielten (19% versus 7%). Schliesslich berichtete Dr. Jiwon Oh, dass die während der klinischen Studien mit Alemtuzumab aufgetretenen Schwangerschaften komplikationslos verliefen. Trotzdem wird eine zuverlässige Kontrazeption während und vier Monate nach der Behandlungsphase empfohlen.
Innerhalb eines Jahres hatten MS-Spezialisten aus vier
akademischen MS-Zentren bei 110 Patienten die an-
derswo gestellte Diagnose einer MS infrage gestellt. Als
häufigste alternative Diagnosen wurden Migräne (21%),
Fibromyalgie (15%), unspezifische respektive nicht MS-
spezifische Symptome mit abnormalem MRT (12%),
oder psychogene Störungen wie auch Konversions-
störungen (11%) sowie eine Neuromyelitis optica (6%)
genannt, wobei weitere 27 Diagnosen aufgeführt wur-
den. 70 Prozent der Patienten erhielten eine immunmo-
dulatorische Therapie, 13 Prozent davon Natalizumab,
2 Prozent wurden mit Mitoxantron und 1 Prozent mit
Cyclophosphamid behandelt, und 4 Prozent hatten
sogar an einer MS-Medikamentenstudie teilgenommen.
Im Wesentlichen wurden drei Faktoren genannt, die zur
Fehldiagnose beitrugen: So waren es in zwei Drittel der
Fälle die Fehldeutungen von Symptomen, die nicht ein-
deutig einer zentralen/demyelinisierenden Läsion zu-
geordnet werden konnten; der Verlass auf früher
berichtete Beschwerden ohne objektivierbare Läsion in
der Hälfte der Fälle sowie die Über- und Fehlbewertung
von MRT-Läsionen bei unspezifischen neurologischen
Beschwerden in 60 Prozent. Dr. Solomon fügte hinzu,
dass es vernünftig wäre, klinische und radiologische Ver-
laufskontrollen bei Patienten mit für eine MS atypischen
Beschwerden und/oder unspezifischen MRT-Befunden
durchzuführen, mit der Möglichkeit, die Diagnose der
MS im Verlauf zu bestätigen oder gänzlich zu verwerfen.
Ein abwartendes Vorgehen mag allerdings schwierig er-
scheinen, insbesondere vor dem Hintergrund der vor-
liegenden Daten, welche den frühen Beginn einer
immunmodulatorischen Therapie im Fall einer MS pro-
pagieren.
G
Sehr geehrte Frau Dr. Müller, vielen Dank für das Interview.
Was war für Sie das Highlight am AAN? Stefanie Müller: Die Liste der Differenzialdiagnosen bei MS ist lang, und die finanziellen und psychosozialen Folgen, die mit einer MS-Diagnose einhergehen, sind erheblich. Nachdenklich gestimmt, aber auch für rege Diskussion unter Kollegen gesorgt hat der Vortrag von Dr. Andrew Solomon an der Clinical Issues Plenary Session zum Thema Fehldiagnose MS «MS Misdiagnosis in the Era of McDonald Criteria».
Das schriftliche Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Stefanie Müller Oberärztin
Klinik für Neurologie Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen E-Mail: Stefanie.Mueller@kssg.ch
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