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Kopfschmerzrehabilitation – ambulant oder stationär?
FORTBILDUNG
Bei der Kopfschmerzbehandlung haben sich seit einigen Jahren integrierte Therapieprogramme etabliert. Insbesondere bei Patienten mit chronischen Kopfschmerzformen und Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch (MÜKS) zeigen sich sowohl im ambulanten als auch im stationären Therapiesetting signifikante Erfolge im Vergleich zu konventionellen, unimodalen Behandlungsmethoden.
Sylvia K. Romano, Achim Nüssle, Andreas R. Gantenbein und Peter S. Sandor
Einleitung
Z wischen 2 und 5 Prozent der Bevölkerung leiden unter chronischen Kopfschmerzen. Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (IHS) definiert diese als chronisch, wenn an mindestens 15 Tagen pro Monat und für mindestens 4 Stunden täglich über einen Zeitraum von mindestens 3 Monaten Kopfschmerzen auftreten. Klinisch am relevantesten und auch am häufigsten verbreitet sind die chronische Migräne und der Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜKS). Letzterer entsteht oft aus einer vorbestehenden, episodischen Migräne, welche durch äussere Einflüsse in der Frequenz zunimmt, vermehrt mit akut wirksamen Schmerzmedikamenten (Analgetika und/oder Triptane) behandelt wird und dann in einem nahezu täglichen, eher diffusen Kopfschmerz endet. Im amerikanischen Sprachraum existiert deshalb auch der Begriff «transformed migraine». In diesem Fall sind eine vollständige Pause und/oder der Entzug der Akutmittel für mindestens 2 bis 4 Wochen sowie der Beginn einer medikamentösen und nicht medikamentösen Prophylaxe angezeigt (1). In Analogie zu anderen chronischen Schmerzerkrankungen bietet sich die interdisziplinäre und multimodale Therapie im Sinne einer Kopfschmerzrehabilitation an (2), deren Konzepte ambulant wie auch stationär durchführbar sind. In komplexen Fällen, beispielsweise mit zusätzlicher psychiatrischer Komorbidität, starker sozialer Belastung oder Komedikation mit anderen Substanzen (z.B. Benzodiazepine), bietet die stationäre Rehabilitation mehr Vorteile. Dies gilt auch, wenn die ambulanten Massnahmen ausgeschöpft sind und/oder nicht zu einer wesentlichen Verbesserung geführt haben. Chronische Spannungstypkopfschmerzen können die Betroffenen verunsichern oder belasten, führen jedoch in der Regel und per Definition (3) nicht zu einer Einschränkung in der beruflichen oder privaten Tätigkeit und lassen sich ambulant behandeln. Zu den eher selteneren Formen zählen die Hemicrania continua, eine kontinuierliche halbseitige, Indomethacin-sensible
Kopfschmerzart, und die chronischen Clusterkopfschmerzen. Bei diesen Formen sind multimodale Schmerzprogramme nicht zielführend. Im Vordergrund steht die Suche nach einer effektiven medikamentösen oder sogar neuromodulativen Therapie.
Die transformierte Migräne Wenn sich die Migräne in einen eher diffusen Kopfschmerz transformiert, berichten die Patienten über tägliche Kopfschmerzen mit einem spannungstyp-artigen Charakter mit Verstärkung bei Anstrengung. Oft bestehen begleitende Überreizbarkeit, Konzentrationsund Schlafstörungen, während die typischen Begleitsymptome wie Nausea, Foto- und Phonophobie eher in den Hintergrund treten und unregelmässig bei Exazerbationen auftreten. Es bleibt der nahezu unwiderstehliche Drang, zum Kopfschmerzmittel zu greifen, oft sogar vorbeugend («einzig wirksame Massnahme»).
Multimodale Therapie Bei der Kopfschmerzbehandlung haben sich seit einigen Jahren integrierte Therapieprogramme etabliert (2). Insbesondere bei Patienten mit chronischen Kopfschmerzformen und Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch (MÜKS) zeigen sich sowohl im ambulanten als auch im stationären Therapiesetting signifikante Erfolge im Vergleich zu konventionellen, unimodalen Behandlungsmethoden. So konnte in Studien eine Abnahme der Kopfschmerzhäufigkeit und der Intensität der Schmerzen nachgewiesen werden (4). Auch die Therapieadhärenz hinsichtlich Medikation und Physiotherapie war besser. Zudem liess sich ein Rückgang bei den Gesamtbehandlungskosten belegen, beispielsweise aufgrund weniger notfallmässig erfolgter Krankenhausbehandlungen. Auch für Patienten mit chronischen und therapierefraktären Kopfschmerzerkrankungen wurden integrierte Therapieprogramme entwickelt. Diese umfassen ein Team aus Neurologen, Psychologen, Physiotherapeuten und speziell ausgebildeten Krankenpflegern. Die Therapie kann ambulant oder stationär erfolgen. Im ambulanten Setting ist die Intensität und Frequenz der angebotenen Therapien geringer. Die ambulante Therapie besteht aus regelmässigen neurologischen
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Verlaufsbeurteilungen inklusive Pharmakotherapie, psychologischen Coachings und Physiotherapie mit Entspannungsverfahren (progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, autogenes Training). Zentrale Elemente der multimodalen Therapie sind Informationen und Erläuterung der Chronifizierungseffekte, aber auch der Einsatz einer prophylaktischen Basismedikation (Topiramat, Valproat, Betablocker, Amitriptylin) und bei MÜKS in erster Linie eine Pause respektive ein Entzug der täglich eingenommenen Akutmittel mit einer überbrückenden Steroidgabe über wenige Tage (5). Damit lässt sich in bis zu 80 Prozent ein guter Effekt erzielen. Die Rückfallquote liegt allerdings bei bis zu 40 Prozent innerhalb von 5 Jahren.
Psychiatrische Komorbidität und Indikation für eine stationäre Rehabiliation Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch (MÜKS) sind häufig assoziiert mit Depressionen, Angststörungen und Abhängigkeitserkrankungen (6). Die psychiatrische Grunderkrankung scheint den Kopfschmerzen vorauszugehen, wobei vor allem die Substanzabhängigkeit einen Risikofaktor darstellt, eine MÜKS zu entwickeln. Radat et al. konnten zeigen, dass im Vergleich MÜKS-Patienten häufiger von psychischen Störungen betroffen sind als Migränepatienten. Dazu zählen insbesondere Episoden einer Major Depression, generalisierte Angststörung, Panikstörung mit und ohne Agoraphobie und soziale Phobie. Bei den Abhängigkeitserkrankungen stehen vor allem Nikotin, Benzodiazepine, Alkohol und illegale Substanzen im Vordergrund. Zudem fand sich häufiger eine positive Familienanamnese für psychiatrische Störungen als bei Migränepatienten. Vermutlich ist eine genetische Prädisposition für Substanzabhängigkeiten von besonderer Bedeutung. Man geht davon aus, dass Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung und/oder positiver Familienanamnese ein höheres Risiko haben, Migränemedikamente und Analgetika zu missbrauchen. Patienten mit Abhängigkeitsrisiko wiederum zeigen einen Kontrollverlust gegenüber der Einnahme von Medikamenten, obwohl sie sich der Gefahren der übermässigen Einnahme bewusst sind. In einer internationalen, multizentrischen Studie konnten durch eine Entzugsbehandlung sowie den Beginn einer medikamentösen Prophylaxe Angst- und Depressionssymptome wesentlich reduziert werden (7). Bei 94,1 Prozent der Patienten wurden Antiepileptika, trizyklische Antidepressiva, Betablocker oder Kalziumantagonisten eingesetzt. Dabei zeigten sich nicht nur eine signifikante Abnahme der Kopfschmerzhäufigkeit pro Monat und eine Reduktion der Analgetika-Einnahme, sondern auch eine geringere Rückfallquote. Die Patienten wurden angeleitet, in den ersten 6 Monaten nach der Entzugsbehandlung ein Kopfschmerztagebuch zu führen. Bei diesen Patienten scheint eine interdisziplinäre stationäre Rehabilitationstherapie von besonderer Bedeutung zu sein. Denn unter der engmaschigen ärztlichen und pflegerischen Betreuung kann der Medikamentenentzug durchgeführt und/oder fortgesetzt werden, zudem bietet eine stationäre Behandlung den Vorteil einer schnellen und effektiven Anpassung und Optimierung der pharmakologischen Einstellung.
Kasten:
Die evidenzbasierten Elemente einer multimodalen Kopfschmerzrehabilitation
Information Visite
Basisprophylaxe
Physiotherapie
Ausdauertraining
MÜKS
Schmerzcoaching (KVT)
Massage
Entspannungstherapie
Akupunktur
Kopfschmerzrehabilitation in der Schweiz Eine stationäre Kopfschmerzrehabilitation wird in der Schweiz an verschiedenen Orten angeboten (z.B. Zurzacher Kopfschmerzprogramm RehaClinic Bad Zurzach, Privat-Klinik im Park Bad Schinznach, Zürcher RehaZentrum Davos Clavadel). Sie richtet sich speziell an Patienten mit Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch (MÜKS) und/oder chronischer Migräne. Die multimodalen Konzepte umfassen die Disziplinen Neurologie, (Neuro-)Psychologie, Physiotherapie und physikalische Medizin. Bei Bedarf werden andere Fachrichtungen und komplementärmedizinische Angebote wie Akupunktur (TCM) hinzugezogen. Neben intensiver Physiotherapie und aerobem Ausdauertraining werden auch Entspannungsverfahren, physikalische Behandlungen, Massagen und Biofeedback angeboten. Der stationäre Rehabilitationsaufenthalt dauert in der Regel 2 bis 4 Wochen, idealerweise im Anschluss an eine Entzugsbehandlung über 5 Tage im Akutspital. Somit kann in der Rehabilitation die Abstinenz von Akutmitteln kontrolliert weitergeführt werden, insbesondere in der Zeit, bis sich auch die substanzspezifischen Effekte der Kopfschmerzbesserung und Frequenzminderung zeigen (8).
Daten aus der Forschung In einer kürzlich publizierten Studie wurden 29 Patienten mit MÜKS und Migräne mittels morphometrischer Magnetresonanz-Bildgebung mit 29 gesunden Probanden verglichen (9). Es fand sich eine Zunahme der grauen Substanz im Hirnstamm, eine zentrale Stelle für die deszendierende Schmerzhemmung, im Thalamus und im Striatum. Während das ventrale Striatum einen Teil des Belohnungssystems darstellt, wird es auch mit der Schmerzverarbeitung in Zusammenhang gebracht. In einer Verlaufsstudie zeigte sich, dass die graue Substanz im Hirnstamm nach Schmerzmittelentzug nur bei jenen Patienten signifikant abnimmt, die auf eine Behandlung ansprechen (10). Die «Responder» hatten bereits vor dem Entzug im orbitofrontalen Kortex mehr graue Substanz, was möglicherweise auf einen prädik-
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tiven Wert dieses Hirnareals bezüglich des Therapieerfolgs hinweist.
Zusammenfassung MÜKS sind ein ernsthaftes Gesundheitsproblem, das, je nach Schweregrad und Komorbiditäten, stratifiziert behandelt werden kann. Das Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten reicht von einer einfachen Aufklärung bis hin zu einer Kombination von stationärem Entzug und danach stationärer multimodaler Rehabilitation. Die Triageempfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft (SKG) sind auf deren Website publiziert (11). G
Korrespondenzadresse: Sylvia K. Romano
Neurorehabilitation & Kopfschmerzprogramme, RehaClinic Bad Zurzach Quellenstrasse 34 5330 Bad Zurzach
E-Mail: S. Romano@rehaclinic.ch
Merksätze:
G Zwischen 2 und 5 Prozent der Bevölkerung leiden unter chronischen Kopfschmerzen.
G Eine interdisziplinäre und multimodale Therapie im Sinne einer Kopfschmerzrehabilitation ist ambulant wie auch stationär durchführbar.
G Die stationäre Kopfschmerzrehabilitation wird in der Schweiz an verschiedenen Orten angeboten. Sie richtet sich speziell an Patienten mit Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch (MÜKS) und/oder chronischer Migräne.
Referenzen:
1. Gantenbein AR, Sándor PS.: Evidenzbasierte Migränetherapie. Ars Medici 2013; 9: 480–4.
2. Gaul C, Visscher CM, Bhola R, Sorbi MJ, Galli F, Rasmussen AV, Jensen R: Team players against headache: multidisciplinary treatment of primary headaches and medication overuse headache. J Headache Pain. 2011; 12(5): 511–9.
3. Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS). The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition (beta version). Cephalalgia. 2013; 33(9): 629–808.
4. Diener HC, Gaul C, Jensen R, Göbel H, Heinze A, Silberstein SD: Integrated headache care. Cephalalgia 2011; 31: 1039–47.
5. Rabe K, Pageler L, Gaul C, Lampl C, Kraya T, Foerderreuther S, Diener HC, Katsarava Z: Prednisone for the treatment of withdrawal headache in patients with medication overuse headache: a randomized, double-blind, placebo-controlled study. Cephalalgia. 2013; 33(3): 202–7.
6. Radat F, Creac’h C, Swendsen JD, Lafittau M, Irachabal S, Dousset V, Henry P: Psychiatric comorbidity in the evolution from migraine to medication overuse headache. Cephalalgia. 2005; 25(7): 519–22.
7. Bendtsen L, Munksgaard S, Tassorelli C, Nappi G, Katsarava Z, Lainez M, Leston J, Fadic R, Spadafora S, Stoppini A, Jensen R: COMOESTAS Consortium. Disability, anxiety and depression associated with medication-overuse headache can be considerably reduced by detoxification and prophylactic treatment. Results from a multicentre, multinational study (COMOESTAS project). Cephalalgia. 2014; 34(6): 426–33.
8. Katsarava Z, Fritsche G, Muessig M, Diener HC, Limmroth V: Clinical features of withdrawal headache following overuse of triptans and other headache drugs. Neurology. 2001; 57(9): 1694–8.
9. Riederer F, Marti M, Luechinger R, Lanzenberger R, von Meyenburg J, Gantenbein AR, Pirrotta R, Gaul C, Kollias S, Sandor PS: Grey matter changes associated with medication-overuse headache: correlations with disease related disability and anxiety. The world journal of biological psychiatry : the official journal of the World Federation of Societies of Biological Psychiatry 2012; 13(7): 517–25.
10. Riederer F, Gantenbein AR, Marti M, Luechinger R, Kollias S, Sandor PS: Decrease of Gray Matter Volume in the Midbrain is Associated with Treatment Response in Medication-Overuse Headache: Possible Influence of Orbitofrontal Cortex. J Neurosci 2013; 33(39): 15343–9.
11. Therapieempfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft (SKG) zum Management von Patienten mit chronischem Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch und multimodale Kopfschmerztherapie (http://www.headache.ch/untitled17).
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