Transkript
FORTBILDUNG
Integrative neuropsychologische Therapie in der geschützt-stationären neurologischen Rehabilitation
Frank Wilke
1/2016
Schwer kognitiv beeinträchtigte und dadurch orientierungsgestörte Patienten stellen in der neurologischen Rehabilitation eine besondere Herausforderung für das behandelnde Team dar. Mit einem kombiniert neuropsychologisch-verhaltenstherapeutischen Ansatz lässt sich das primäre Rehabilitationsziel von Orientierung und therapeutischer Führbarkeit erreichen. An alltagspraktischen Beispielen aus einer fakultativ geschlossenen neurologischen Rehabilitationsstation werden im Beitrag die Ansätze des spaced retrieval und des errorless learning sowie der Selbstmanagementtherapie dargestellt. Der Einsatz dieser Methodik stellt einen wichtigen Beitrag zur Verminderung des postrehabilitativen Pflege- und Beaufsichtigungsaufwandes für Patienten dar.
von Frank Wilke
Die Symptomatik
I m Rahmen schwerer Erkrankungen und Schädigungen des zentralen Nervensystems (ZNS) wie beispielsweise hypoxische Hirnschädigungen, schwere Schädel-Hirn-Traumata oder schwere Schlaganfallsleiden, treten Zustände der Desorientierung oftmals als dominierendes Merkmal auf. Solche Beeinträchtigungen zeichnen sich durch bisweilen stark ausgeprägte Störungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung (in erster Linie in Form illusionärer Verkennungen oder auch szenischer Halluzinationen), der Sprache (Wortfindungsstörungen, Fehlbenennungen) sowie der Exekutivfunktionen (Handlungsplanung und -überwachung) aus. Darüber hinaus treten häufig Disinhibitionssymptome wie Perseveration, Intrusionen und Konfabulationen auf (vgl. [1]). Den Betroffenen selbst ist die Symptomatik in der Regel nicht oder nur zum Teil bewusst. Sie sind daher in der Regel aus Gründen der Eigengefährdung rund um die Uhr beaufsichtigungspflichtig. Umfassende neuropsychologische Therapieansätze für desorientierte Patienten fehlen in der Literatur bis heute weitgehend. Im Folgenden wird ein kombiniert neuropsychologisch-verhaltenstherapeutisch konzipierter Therapieansatz für diese Patientengruppe dargestellt und an Beispielen illustriert, wie er seit vielen Jahren in unserem Haus im Einsatz ist und sich empirisch als hilfreich für die betreffende Patientengruppe erwiesen hat.
Das Stationssetting Der beschriebene Therapieansatz entstammt der Arbeit einer fakultativ geschützten Station mit 11 Behandlungsplätzen. Die Patienten sind in Einzelzimmern untergebracht. Neben den Einzelzimmern stehen den
Patienten ein Aufenthalts- und Gruppenraum, in dem auch die gemeinsamen Mahlzeiten eingenommen werden, sowie eine überdachte Aussenterrasse (Zugang vom Aufenthaltsraum) zur Verfügung. Den Gemüseund Ziergarten im Klinikbereich kann der Patient an bestimmten Zeiten in der Woche ebenfalls benutzen. Des Weiteren ist jedes Zimmer mit einer Wandtafel versehen, auf welcher wichtige Informationen zur Orientierung wie Ortsbezeichnung und Datum festgehalten sind. Auch im Gemeinschaftsraum gibt es eine Wandtafel zur Information sowie eine Wanduhr als ständig verfügbare Reorientierungsmöglichkeit.
Der integrativ neuropsychologischverhaltenstherapeutische Ansatz Eine Leithypothese des integrativ neuropsychologischverhaltenstherapeutischen Ansatzes für orientierungsgestörte Patienten ist die Überlegung, dass die in der Therapie und im Stationsalltag auftretenden Probleme der Patienten (und des Personals mit den Patienten) den zu erwartenden Problemen im normalen Lebensalltag der Patienten entsprechen. Die beobachtbaren Schwierigkeiten in den Therapien können daher als diagnostischer Leitfaden für eine alltagorientierte Therapiekonzeption verwendet werden (Kasten 1). Neben den oben beschriebenen defizitären Erscheinungsformen des Syndroms der Desorientierung darf nicht übersehen werden, und das ist für die nun folgende Beschreibung des therapeutischen Ansatzes von essenzieller Bedeutung, dass der desorientierte Patient weiterhin als Person existent gesehen werden muss. Wesentliche lebensgeschichtlich verankerte und im Lauf des Lebens stark überlernte kognitiv-emotionale Verarbeitungsschemata (2), die wir gern als «Persönlichkeit» bezeichnen, sind weiterhin wirksam. Bisweilen treten diese im Kontext des oben beschriebenen Disinhibitionssyndroms sogar akzentuiert auf.
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
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Kasten 1: Bereiche, die im Kontakt mit dem Klienten als schwierig erlebt werden: G mangelnde/übersteigerte Motivation/Antrieb G kein zeitlicher Bezug; fehlende Anknüpfungspunkte, um einen therapeuti-
schen Zusammenhang über einen längeren Zeitraum hinweg herzustellen G bestehende Gedächtnisprobleme sind derartig stark ausgeprägt, dass der Be-
troffene die möglicherweise gelernten Inhalte in der nächsten Behandlung schon wieder vergessen hat G keine gemeinsame Wirklichkeit von Therapeut und Klient/keine (soziale) Konsensbildung G fehlende Körperwahrnehmung (hinweisende Instruktionen können oft nicht verstanden werden) G hohe Empfindlichkeit und Verletzlichkeit der Patienten hinsichtlich des Gefühls von Würde und Integrität (dabei zu beachten: die Behaltensleistung wird umso besser, je unangenehmer/schwieriger die erlebten Situationen sind).
Kasten 2: Bereiche, auf welche sich die neuropsychologisch-therapeutische Zielsetzung besonders ausrichten muss: G Bereich der Selbststrukturierung der Klienten G Bereich der Konsensbildung/soziale Integration/Beziehungsaufnahme (bezügl.
Personal, anderer Patienten/Klienten, Angehörigen) G Bereich Kognition (Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, exekutive Leistung).
Fallbeispiele: Ein 53-jähriger Patient, der bis zur Erkrankung als Verwaltungsdirektor eines Grossklinikums gearbeitet hatte, sieht das stationäre Setting weiterhin durch die «Chefbrille» und verhält sich im Stationsalltag entsprechend. Oder die 35-jährige allein lebende, alkoholkranke Patientin ohne Berufsausbildung, die auch vor dem Hintergrund schwerer kognitiver Beeinträchtigungen weiterhin deutlich histrionische Interaktionsstile pflegt.
Die neuropsychologische Perspektive Exemplarisch soll hier im Folgenden das Vorgehen zur Therapie des Leitsymptoms der Gedächtnisstörungen beschrieben werden. Entgegen der landläufigen Meinung nützt es in der Regel nicht viel (mit Ausnahme eines unspezifischen kognitiv aktivierenden Effektes), Patienten etwa mit dem Legen von Memorykarten oder Ähnlichem zu beschäftigen, wenn das therapeutische Ziel darin besteht, im Alltag Unabhängigkeit von Beaufsichtigung und Selbstversorgung in den basalen Aspekten zu erreichen. Hilfreich und damit wichtig ist es viel mehr, kompensatorische Strategien einzuüben und anzuwenden (vgl. [3]). Angelika Thöne-Otto (3) hat dies in einer prägnanten Weise zusammengefasst; sie spricht von MEMO als Grundlage für eine erfolgreiche Therapie des schweren Gedächtnisdefizites. MEMO steht für: G «Multiple Repititions» G «Everyday Situations» G «Minimize Errors» G «One at a time».
Als therapeutische Techniken kommen dabei die Konzepte des spaced retrieval und des errorless learning (4) zur Anwendung. Die zu lernenden Informationen werden zunächst nach sehr kurzen Abständen (wenige Se-
kunden/Minuten) abgefragt und wiederholt. Konnte die richtige Antwort gegeben werden, wird der Abstand bei jedem neuen Abruf vergrössert. Dabei wird bezüglich der Abfrageschwierigkeit darauf geachtet, Fragen zu stellen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Patienten korrekt beantwortet werden können. Ein praktisches Beispiel: Mit dem Patienten wird als zunächst einziges Ziel vereinbart, dass er sein Zimmer auf der Station selbstständig auffindet. Neben der Zimmernummer als eher abstrakter und damit schwieriger Kodierung des eigenen Zimmers ist an der Tür von aussen ein prägnantes Bild angebracht (z.B. eine Sonnenblume). Nachdem das Bild mit dem Patienten gemeinsam angeschaut und eingeprägt worden ist, entfernt man sich mit ihm von der Zimmertür, und schon auf dem Weg zum Tagesraum erfolgt die erste Abfrage nach dem Bild an der Tür (nicht der Zimmernummer!). Antwortet der Patient wider Erwarten falsch, erfolgt sofort die Korrektur. In zunehmend grösseren Intervallen (bei Vorliegen richtiger Erinnerung) von einigen Minuten bis zu einigen Stunden wird das Abfrageprozedere wiederholt. Hierbei wird deutlich, dass dies über die neuropsychologische Therapiesitzung hinaus im Kontext des gesamten therapeutisch-pflegerischen Behandlungsteams erfolgen muss. Weitere Zielsetzungen erfolgen strikt erst dann, wenn das bisher verfolgte Ziel, hier das selbstständige Auffinden des Patientenzimmers, erreicht ist.
Die verhaltenstherapeutische Perspektive Kanfer, Reinecker und Schmelzer (5) und in der Kurzzusammenfassung Schmelzer (6) haben in ihrem verhaltenstherapeutischen Selbstmanagementansatz einen Rahmen geliefert, der auch in unserer Arbeit mit orientierungsgestörten Menschen hilfreich ist. Neben einer empathischen Grundhaltung sind es die Prinzipien der Selbstmanagementtherapie (6), die im Besonderen im Umgang mit dem desorientierten Patienten gemäss den zentralen Zielsetzungen zur Geltung kommen (Kasten 2). An dieser Stelle kann nicht der gesamte Selbstmanagementansatz in seiner Anwendung bei hirnorganisch schwer beeinträchtigten Patienten erschöpfend diskutiert werden. Hervorheben und diskutieren möchte ich in diesem Artikel im Besonderen den Punkt 5 der 11 Gesetze der Selbstmanagementtherapie (Kasten 3): Klienten haben immer recht. Wie kann dies im Kontext weitgehend desorientierter Patienten verstanden werden? Ein Beispiel aus der täglichen Praxis mag dies verdeutlichen. Wenn der Patient etwa am 16. Juni eines Jahres auf Befragen nach der Jahreszeit sagt, es sei Spätwinter, dann hat er ganz offensichtlich in keiner Weise recht. Fred Kanfer würde gemäss seines Selbstmanagementansatzes in einer solchen Situation sagen, dass es niemals nützt und geradezu einen therapeutischen Fehler darstellt, mit dem Patienten nun zu diskutieren, ihn zu belehren oder auch nur zu informieren, da der Patient immer (aus seiner subjektiven Sicht) recht hat. Reaktanz (7) ist in der Regel das, was bei einem solchen Vorgehen als Resultat zu erwarten wäre. Wie oben angesprochen, hat der Patient trotz seiner Desorientierung im Rahmen der Erkrankung wichtige Aspekte seiner Identität erhalten können und wird es daher nicht ohne Weiteres zulassen, einfach nur von ihm persönlich fremden und daher in der Regel nicht vertrauenswür-
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digen Personen belehrt oder korrigiert zu werden. Diese
Reaktanz auch in ihrer milden Form wieder aufzulösen,
kostet wertvolle therapeutische Zeit und Energie, die
sinnvoller eingesetzt werden kann. Unter dieser Per-
spektive ist es therapeutisch vielmehr indiziert, die ob-
jektiv falsche Ansicht des Patienten (Spätwinter) zur
Kenntnis zu nehmen, zu würdigen (… «das ist ja sehr
interessant, Herr …») und dann in der Folge aber wich-
tige Implikationen dieser Ansicht (hier: … «dann müss-
ten beim Blick aus dem Fenster die Bäume also kahl
sein») herauszuarbeiten und einem gemeinsamen Rea-
litätstest zu unterziehen. Im Resultat wird dann der Pa-
tient selbst erkennen, dass er zunächst falscher Ansicht
war und seine Erkenntnis über die gegenwärtige Jah-
reszeit korrigieren. Der wichtige Unterschied zwischen
einer kurzen korrigierenden Reorientierung von aussen
(«Es ist Sommer!») und dem hier beschriebenen thera-
peutischen Vorgehen besteht in neuropsychologischer
Perspektive wesentlich in dem Aspekt der Aktivierung
verbliebener mentaler Ressourcen des Patienten. Der
Patient wird mittels des Selbstmanagementansatzes an-
geregt, die Umwelt aktiv suchend wahrzunehmen, es
werden unter anderem Prozesse des schlussfolgernden
Denkens aktiviert, und es werden – durch häufige
Wiederholung – letztlich wichtige Heuristiken zur Selbst-
orientierung etabliert.
Gerade diese Heuristiken sind es, zusammen mit den
oben beschriebenen Techniken des Aufbaus von basa-
len Gedächtnisleistungen, die nachhaltig dazu beitra-
gen, die Desorientierung des Patienten zu mindern und
damit die Führbarkeit, zunächst im klinischen und spä-
ter im häuslichen Kontext zu verbessern sowie die
Intensität der Beaufsichtigungspflichtigkeit zu vermin-
dern.
G
Merksätze:
G Desorientierung infolge schwerer Hirnschädigung ist gekennzeichnet durch Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, der Mnestik, der exekutiven Funktionen und der Sprache.
G Die Persönlichkeit des Patienten ist bei schwerer Hirnschädigung oftmals erhalten und tritt akzentuiert zutage.
G Schwere Gedächtnisdefizite werden therapeutisch durch Konzepte des spaced retrieval und des errorless learning behandelt.
G Belehrungen rufen beim verwirrten Patienten oftmals Reaktanz hervor; dies gilt es zu vermeiden.
G Der Selbstmanagementtherapie-Ansatz unterstützt den Aufbau von Heuristiken zur Selbstorientierung des Patienten.
Kasten 3: Die 11 Gesetze der Selbstmanagementtherapie (6): G Verlange niemals von Klienten, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln. G Arbeite zukunftsorientiert, suche nach konkreten Lösungen, und richte die Auf-
merksamkeit auf die Stärken von Klienten. G Spiele nicht den «lieben Gott», indem du Verantwortung für das Leben von
Klienten übernimmst. G Säge nicht den Ast ab, auf dem die Klienten sitzen, bevor du ihnen geholfen
hast, eine Leiter zu bauen, auf der sie herabsteigen können. G Klienten haben immer recht. G Bevor du ein problematisches Verhalten nicht konkret vor Augen hast, weisst
du nicht, worum es eigentlich geht. G Du kannst nur mit Klienten arbeiten, die anwesend sind. G Peile kleine, machbare Fortschritte von Woche zu Woche an, und hüte dich vor
utopischen Fernzielen. G Bedenke, dass die Informationsverarbeitungskapazität von Menschen begrenzt
ist. G Wenn du in der Therapiestunde härter arbeitest als deine Klienten, machst du
etwas falsch. G Spare nicht mit Anerkennung für die Fortschritte von Klienten.
Korrespondenzadresse: Frank Wilke
Diplom-Psychologe Psychologischer Psychotherapeut
HELIOS Klinik Hagen-Ambrock Klinik für neurologische und neurochirurgische
Rehabilitation Ambrocker Weg 60
D-58091 Hagen
E-Mail: frank.wilke@helios-kiniken.de
Literatur: 1. Karnath, H-O, Thier, P (Hrsg.): Neuropsychologie, 2., aktualisierte und
erweiterte Auflage (2006) Springer Verlag Berlin. 2. Grawe, K: Neuropsychotherapie. (2004) Hogrefe Verlag Göttingen. 3. Thöne-Otto, A Markowitsch, HJ: (2004) Gedächtnisstörungen nach
Hirnschädigungen. Hogrefe Verlag Göttingen. 4. Haslam, C, Hodder, K, & Yates, P: Errorless learning and spaced retrie-
val: How do these methods fare in healthy and clinical populations? Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology, (2011) 33(4), 432–447. 5. Kanfer, FH, Reinecker, H & Schmelzer, D: Selbstmanagement-Therapie: Ein Lehrbuch für die klinische Praxis, 5., korrigierte und durchgesehene Auflage. (2012) Springer Verlag Berlin, New York. 6. Schmelzer, D: «Hilfe zur Selbsthilfe»: Der Selbstmanagement-Ansatz als Rahmenkonzept für Beratung und Therapie. Beratung Aktuell, (2000) 4/2000. 7. Brehm, J W: Theory of psychological reactance. (1966) New York, Academic Press.
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