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FORTBILDUNG
Grenzen und Gemeinsamkeiten der psychosomatischen Rehabilitation und der Psychiatrie
Iris Klausmann Klaus Rink
Iris Klausmann ist Chefärztin in der RehaClinic Braunwald und hat sich auf die psychosomatische Rehabilitation spezialisiert. Im folgenden Beitrag äussert sie gemeinsam mit dem Leitenden Psychologen der RehaClinic Braunwald, PD Dr. phil. Klaus Rink, einige Gedanken zu den Unterschieden der Akutpsychiatrie und der Psychosomatischen Rehabilitation und eine Vision zur Verbesserung der Patientenversorgung.
von Iris Klausmann und Klaus Rink1
Einleitung
D ie Situation wird vielen ambulant tätigen Ärzten vertraut sein: Ein Patient mit erstmalig aufgetretenen psychiatrischen Symptomen, wie etwa Angst, Depression oder Erschöpfung (Burn-out), benötigt eine intensivierte stationäre Behandlung, lehnt den Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik allerdings kategorisch ab. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass sich der Betroffene mit einer Behandlung in einer psychosomatischen Klinik noch am ehesten einverstanden erklären könnte. Sie beginnen mit der Organisation einer solchen Behandlung; und es beginnt der Kampf um eine Kostengutsprache. Sehr schnell wird offensichtlich, dass viele Krankenkassen aufgrund der Symptomatik auf einer psychiatrischen Hospitalisation bestehen, da sie die psychosomatische Behandlung für «nicht ausreichend» erachten, weil die Erkrankung «eindeutig psychiatrisch» ist. Nicht selten wird der Patient letztlich in keine Klinik überwiesen, und eine Chronifizierung der Erkrankung beziehungsweise eine Verschleppung der notwendigen Behandlung tritt ein. Der folgende Beitrag soll einige Gedanken und typische Missverständnisse zu diesem Thema darlegen, und eine Vision zur Verbesserung der Patientenversorgung soll entwickelt werden.
Problem der Stigmatisierung Die Stigmatisierung sowohl einer psychiatrischen Erkrankung als auch der psychiatrischen Behandlung in der Bevölkerung ist nach wie vor ein erheblicher Faktor, der zu Unterversorgung entsprechender Patientengruppen führen kann. Menschen machen aus unterschiedlichen Gründen negative Erfahrungen mit «der Psychiatrie» oder befürchten diese im Voraus, sodass teilweise erst sehr spät Hilfe gesucht wird oder etablierte Angebote schlichtweg abgelehnt werden. Allein der Besuch bei einem Psychiater oder Psychologen, das Einnehmen eines Psychopharmakons, geschweige denn der Eintritt in eine psychiatrische Klinik sind oft mit riesigen Vorurteilen und Ängsten behaftet. Nicht selten findet man Menschen, die jahrelang alternative Behand-
lungen aller Art versucht haben, bis «es gar nicht mehr ging» und sie mit erheblicher Chronifizierung im etablierten System erscheinen. Positiv wäre es, wenn Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen die richtige Hilfe zum richtigen Zeitpunkt annehmen könnten (1, 2). Was müsste sich jedoch für diese Entwicklung am System verändern? Die merkwürdige Zersplitterung und Vielfalt der Angebote ist zum Teil aus der Geschichte heraus verständlich. Während die grossen psychiatrischen Anstalten traditionellerweise die schwerwiegenderen Erkrankungen (Schizophrenien, schwere Depressionen) und akute Symptome (Suizidalität, aggressives Verhalten) behandelten und den Schwerpunkt auf die medizinische Behandlung und die medikamentöse Therapie legten – vielfach notwendigerweise gegen den Willen eines akut Betroffenen –, entwickelte sich die Psychosomatik aus den medizinischen Fachdisziplinen und fokussierte sich zu Beginn auf vorwiegend analytische, psychotherapeutische Konzepte (3, 4). Der teilweise sehr emotional geführte fachliche Diskurs zwischen Neurobiologen, Analytikern und Verhaltenstherapeuten trug keinesfalls zu einem integrierten Modell und einem Verständnis psychischer Störungsbilder und deren Behandlung bei. Die Auswirkungen sind in vielen Bereichen bis heute spürbar: Ein schulenübergreifendes Psychiatrieverständnis mit patientenzentrierter Sichtweise ist alles andere als durchgehend etabliert.
Getrennt aufgrund der Historie Erkenntnisse aus dem Bereich der Neurowissenschaften beweisen, dass jedem Bereich der Lehre psychischer Gesundheit und Krankheit dasselbe menschliche Gehirn zugrunde liegt und Psychosomatik und Psychiatrie allenfalls aus historischer Sicht getrennte Fachdisziplinen darstellen. Ebenso ist evident, dass Symptome auf Körperebene bei allen psychischen Funktionsstörungen vorkommen und allenfalls deren Miteinbezug in die Behandlung unterschiedlich gehandhabt wird. Umgekehrt führen körperliche Erkrankungen, je nach vorhandener Bewältigungsstrategie, immer auch zu psychischen Reaktionen und möglichen Anpassungsstörungen. Medizin ist in diesem Sinne grundsätzlich
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psychosomatisch, da der Mensch zu jeder Zeit seines Lebens aus einem Körper und einer Psyche besteht und die Wechselwirkungen zwischen beiden ständig vorhanden sind (5–7). In der Betrachtung von Wirkfaktoren psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung nimmt neben der Wirksamkeit spezifischer Therapietechniken die «therapeutische Beziehung» eine überaus bedeutende Rolle ein. Erfolgreiche Behandlung findet sehr viel leichter statt, wenn eine stabile und vertrauensvolle therapeutische Umgebung vorhanden ist (8). Gegenwärtig konzentrieren sich verschiedene Forschungsarbeiten auf die bessere Beschreibung und die Abgrenzung dieses Phänomens, wobei dessen zentrale Wichtigkeit unbestritten ist. Entscheidend ist auch die Motivation des Patienten, Veränderungen aktiv zu wollen. Auch hier gibt es zahlreiche Evidenzen, die Motivation und Zielorientierung von Patienten als Schlüsselfaktoren erfolgreicher (Rehabilitations-)Behandlung identifizieren. Beide Elemente – der Aufbau einer guten therapeutischen Beziehung und die Förderung von Motivation – lassen sich therapeutisch aktiv nutzen (9, 10). Im Kontext der erwähnten Stigmatisierung klassischer psychiatrischer Behandlungsangebote finden sich in psychosomatischen Kliniken dafür günstigere Grundvoraussetzungen.
Akut, stationär oder in die Rehaklinik? Welche Bedeutung haben nun die günstigeren Voraussetzungen in den psychosomatischen Kliniken? Sicherlich gibt es eine klare Abgrenzung der Behandlung von akuten psychiatrischen (Notfall-)Situationen und gegenüber der weiterführenden Therapie im Sinne einer postakuten Therapie oder Rehabilitation für alle Störungsbilder, die im ICD im Kapitel F der psychischen Störungen beschrieben werden. Eine wissenschaftlich plausible Abgrenzung zwischen Psychosomatik und Psychiatrie ist im Grunde genommen nicht möglich (11). Sinnvoll erscheint deshalb ein unterschiedlicher Schwerpunkt der jeweiligen Behandlungsansätze: ein eher pharmakologischer Ansatz bei der Akutbehandlung und ein integriertes psychotherapeutisches Setting bei der Rehabilitation, das sich an vorhandenen Funktionsdefiziten und Ressourcen (ICF) (12) in einem Stufenmodell mit vorausschauender vernetzter Denkweise und Vorbereitung eines sinnvollen Anschlussprozederes orientiert. Vorstellbar wäre auch eine klare, möglicherweise räumliche Trennung von Akut- und Rehabilitationsbehandlungen, sodass Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen in unterschiedlichen Stadien der Akuität nicht
Merksätze:
G Die Stigmatisierung sowohl der psychiatrischen Erkrankungen als auch der psychiatrischen Behandlung in der Bevölkerung ist ein nach wie vor erheblicher Faktor, der zu Unterversorgung entsprechender Patientengruppen führen kann.
G Eine wissenschaftlich plausible Abgrenzung zwischen Psychosomatik und Psychiatrie ist im Grunde genommen nicht möglich.
G Sinnvoll erscheint ein unterschiedlicher Schwerpunkt der jeweiligen Behandlungsansätze: ein eher pharmakologischer Ansatz bei der Akutbehandlung und ein integriertes psychotherapeutisches Setting bei der Rehabilitation.
miteinander vermischt werden. Eine Rehabilitationsbe-
handlung könnte dann sowohl durchaus von psychia-
trischen Kliniken (so wie es bereits zum Teil geschieht)
als auch von psychosomatischen Einrichtungen ange-
boten werden. Notwendige Bedingungen dafür sind
allerdings jeweils ausreichend vorhandene Fachkompe-
tenzen und nötige Therapieangebote. Tatsache ist, dass
eine Definition der Qualitätskriterien für die psychoso-
matisch-psychiatrische Rehabilitation vom Fachverband
SwissReha für die Schweiz nicht vorliegt, für 2016 je-
doch in Vorbereitung ist.
Eine solche mögliche Neuaufteilung der Behandlungs-
angebote für psychische Störungen könnte helfen, un-
produktive Konkurrenzkämpfe zwischen Psychiatrie
und Psychosomatik zu entschärfen, sodass weitere pa-
tientenzentrierte, bedürfnisgerechte Angebote etabliert
werden könnten.
Patienten mit einer erstmalig aufgetretenen Angst-
erkrankung könnten dann beispielsweise ein entstig-
matisiertes, psychotherapeutisch orientiertes Angebot
in Anspruch nehmen – möglicherweise in einer psycho-
somatischen Klinik. Ein akut psychotischer Patient
könnte beispielsweise so lange wie notwendig fachge-
recht auf einer Akutstation behandelt werden und da-
nach in ein spezialisiertes Rehabilitationsprogramm
wechseln. Ein Patient mit chronischen Schmerzen oder
einer psychoonkologischen Fragestellung würde bei-
spielsweise in einem Rehabilitationsprogramm mit aus-
reichend vorhandenen medizinischen Kompetenzen
betreut.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Iris Klausmann
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Chefärztin RehaClinic Braunwald
Niederschlachtstrasse 12
8784 Braunwald
E-Mail: i.klausmann@rehaclinic.ch
www.rehaclinic.ch
1 PD Dr. phil. Klaus Rink, Leitender Psychologe,
RehaClinic Braunwald
Literatur:
1. Huber C.G. et al.: Empowerment – ein Weg zur Entstigmatisierung; Swiss Archives of Neurology and Psychiatry 7/2015, S. 224–231.
2. Gaebel W. et al.: The DGPPN research project on mental healthcare utilization in Germany: inpatient and outpatient treatment of persons with depression by different disciplines; Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2012, Suppl 2, S. 51–55.
3. Fava G.A., Sonino N.: The Clinical Domains of Psychosomatic Medicine; J Clin Psychiatry 7/2005, S. 849–858.
4. Fava G.A., Sonino N.: Psychosomatic Medicine: Emerging Trends and Perspectives; Psychother Psychosom 2000, 69, S. 184–197.
5. Schulte I.E., Petermann F.: Somatoform disorders: 30 years of debate about criteria! What about children and adolescents?; Journal of Psychosomatic Research 2011, 70, S. 218–228.
6. Groben S., Hausteiner C.: Somatoform disorders and causal attributions in patients with suspected allergies: Do somatic causal attributions matter?; Journal of Psychosomatic Research 2011, 70, S. 229– 239.
7. Porcelli P. et al.: Psychosocial Funcioning in Consultation-Liaison Psychiatry Patients: Influence of Psychosomatic Syndromes, Psychopathology and Somatization; Psychother Psychosom 2009, 78, S. 352–358.
8. The Working Alliance: Theory, Research, and Practice, Horvath AO, Greenberg LS. (Eds), Wiley, New York 1994.
9. Miller W.R., Rollnick S.: Motivational Interviewing, Guilford Press, New York 2012.
10. Peters M. et al.: Psychotherapiemotivation älterer Patienten in der Rehabilitationsklinik – eine empirische Studie, Zsch Psychosom Med 2000, 46, S. 259–272.
11. Büscher C. et al.: The Development of Guidelines for the Treatment of Patients with Mental Disorders under particular Consideration of Rehabilitative Aspects, Psycho-Social-Medizin 2004, 1, S. 1–11.
12. International Classification of Functioning, WHO, 2001.
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