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FORTBILDUNG
Äusserungsformen von Persönlichkeitsstörungen1
Daniel Sollberger
Persönlichkeitsstörungen äussern sich auf der Verhaltensebene durch bestimmte Muster, die von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichen und sich in einem breiten Spektrum sozialer und persönlicher Situationen bemerkbar machen. Neben diesen beobachtbaren behavioralen Verhaltensaspekten sind Personen mit der Störung ihrer Persönlichkeit ebenso sehr in ihrem subjektiven Erleben, in ihren Gefühlen und ihren Denkmustern beeinträchtigt. Daraus resultieren Verzerrungen in der Realitätswahrnehmung und -interpretation sowie in der Folge auch interpersonelle Schwierigkeiten mit instabilen, wenig befriedigenden Beziehungen und schliesslich sozialer Isolation. Der Artikel widmet sich den verschiedenen Äusserungsformen ausgewählter, klinisch häufiger Persönlichkeitsstörungen und fokussiert deren jeweilige Spezifität sowie die für die diagnostische Praxis relevanten Subtypen.
von Daniel Sollberger
Einleitung
A us struktureller Perspektive kann Persönlichkeit als dynamische Integration von Verhaltensweisen aufgefasst werden, die durch verschiedene Persönlichkeitsanteile wie Temperament, Kognition und Intelligenz, Charakter und Identität (als ihr subjektives Erlebenskorrelat), Affektivität und schliesslich durch ein internalisiertes Wertesystem geprägt sind (1). Diese dimensionale Sichtweise auf die Persönlichkeitsstörungen wird mit der Überarbeitung des DSM-5 in dessen Sektion III einer kategorialen Sichtweise, wie sie bisher in die Klassifikationsinstrumente der Störungen Eingang gefunden hatte, neu zur Seite gestellt. Sowohl objektiv beobachtbare Verhaltensmuster als auch subjektive Erlebensweisen können dabei als Reflex einer zugrunde liegenden Persönlichkeitsstruktur und psychologischen Organisation verstanden werden, die im Wesentlichen geprägt ist durch das integrierende Zusammenspiel eines Selbstkonzeptes (Identität und Zielorientierung) und eines interpersonellen Funktionsniveaus (Empathie und Intimität) (2, Sektion III). Deskriptiv werden in der ICD-10 und im DSM-5 spezifische Subtypen von Persönlichkeitsstörungen hinsichtlich ihrer Beeinträchtigung in den Bereichen Kognition, Affektivität, Beziehungsgestaltung und Impulskontrolle definiert (Kasten 1). Gemäss dem angesprochenen di-
1 Der Artikel basiert auf ausgewählten Abschnitten des Buches «Persönlichkeitsstörungen und Sucht» (2016), welches ich zusammen mit Marc Walter und Sebastian Euler geschrieben habe. Die Darstellung der verschiedenen Manifestationsformen von Persönlichkeitsstörungen lehnt sich dabei in Teilen jener von Sebastian Euler an, dem an dieser Stelle besonders gedankt sei.
mensionalen Konzept wird (im Gegensatz zu einer aus der reinen Symptombeschreibung resultierenden kategorialen Systematik von Persönlichkeitsstörungen) der Übergang von Persönlichkeitsstil zu Persönlichkeitsstörung kontinuierlich gesehen. Es bestimmt also der Grad der Ausprägung spezifischer Qualitäten einer Persönlichkeit darüber, ob bei Vorliegen von Extremvarianten eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren ist (3, 4) – nicht eine trennscharf vorgenommene kategoriale Abgrenzung (5). Die zumeist tief verwurzelten und anhaltenden maladaptiven Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster reichen im Fall der Persönlichkeitsstörungen in der Regel in die Kindheit und Adoleszenz zurück. Vor dem 14. Lebensjahr sollte eine entsprechende Diagnose nicht vergeben werden. Die Diagnose einer dissozialen (ICD-10) beziehungsweise antisozialen (DSM-5) Persönlichkeitsstörung darf definitionsgemäss vor dem Alter von 18 Jahren nicht gestellt werden. In klinischen Kontexten nehmen die Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen (vgl. DSM-IV) – insbesondere die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die antisoziale und narzisstische Persönlichkeitsstörung – aufgrund der engen Verknüpfung mit Impulsregulationsstörungen, Suizidalität, komorbiden Suchterkrankungen und Kriminalität eine Sonderstellung ein (6). Neben der Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört insbesondere auch die vermeidende (DSM-5) beziehungsweise die ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (ICD-10) in klinischen Populationen zu den häufigsten Persönlichkeitsstörungen (7, 8). Sie sollen hier deshalb etwas ausführlicher dargestellt werden (Kasten 2). Je nach Perspektive lassen sich die Manifestationen von Persönlichkeitsstörungen unterschiedlich fokussieren, symptomatologisch etwa als Affektdysregulation oder als Impulskontrollstörung (welche neurobiologisch mit den Zeichen einer fehlenden kortikalen Kontrolle des
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Kasten 1:
Persönlichkeitsstörungen nach Clustern des DSM-5 und ihre Entsprechung in der ICD-10 (F60.–)
aus: Walter, Sollberger, Euler. Persönlichkeitsstörungen und Sucht. Stuttgart: Kohlhammer 2016, 27.
Cluster A Bizarr, exzentrisch Cluster B Dramatisch, emotional
Cluster C Ängstlich, vermeidend
DSM-5 Paranoide PS Schizoide PS Schizotype PS Borderline-PS
Histrionische PS Antisoziale PS Narzisstische PS Vermeidende PS Dependente PS Zwanghafte PS
PS = Persönlichkeitsstörung
ICD-10 Paranoide PS (F60.0) Schizoide PS (F60.1)
Emotional instabile PS (F60.3) G Borderline-Typ (F60.31) G Impulsiver Typ (F60.30) Histrionische PS (F60.4) Dissoziale PS (F60.2)
Ängstliche PS (F60.6) Abhängige PS (F60.7) Anankastische PS (F60.5) Passiv-aggressive PS (F60.8)
subkortikal limbischen Systems in Verbindung gebracht wird), psychodynamisch beziehungsweise persönlichkeitsstrukturell mit Zeichen einer Identitätsstörung oder eines Mentalisierungsdefizits.
Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) In Abgrenzung von anderen schweren Persönlichkeitsstörungen hebt sich die BPS hinsichtlich der Symptomatologie am trennschärfsten durch eine ausgeprägte Furcht, verlassen zu werden, und eine daraus resultierende Instabilität der Beziehungen (9) ab (Kasten 1). Zusammen mit den affektiven Symptomen des Ärgers und der Leeregefühle bilden sie denn auch die höchste Prävalenz und Stabilität (10) – etwa im Gegensatz zum im-
pulsiven Verhalten in Form von Selbstverletzungen oder Suizidversuchen. Selbstverletzungen und Suiziddrohungen oder auch -handlungen gelten diagnostisch zwar als richtungsweisend (11), typische Symptome der Störung sind allerdings die Hypersensitivität gegenüber Zurückweisung und die Angst vor dem Verlassenwerden (12). Die BPS ist verbunden mit ausgeprägten psychosozialen Beeinträchtigungen und einem erhöhten Suizidrisiko (13) bei einer tatsächlichen Suizidrate von 8 bis 10 Prozent (12). Aus strukturbezogener und psychodynamischer Perspektive hat O. F. Kernberg seit den späten 1960erJahren das Konzept der Borderline-Persönlichkeitsorganisation konzipiert und weiterentwickelt (14–17), in welchem kategoriale und dimensionale Kriterien miteinander verbunden sind. Kategorial lassen sich die gemäss DSM klassifizierten Störungen in ein Tableau einordnen, welches sich in zwei Achsen nach der Dimension der Intraversion und der Extraversion und jener des relativen Ausmasses des Schweregrads einer Störung aufspannt. Diese bemisst sich an der psychischen Funktionsweise der jeweiligen Persönlichkeit. Kernberg unterscheidet vier Niveaus in der Beeinträchtigung der Persönlichkeitsorganisation: ein neurotisches, ein «hohes» und ein «niedriges» sowie ein psychotisches Borderline-Niveau. Gemäss dieser Systematik der psychischen Struktur gelingt es, den für die Indikationsstellung, die Therapie und die prognostische Einschätzung ausschlaggebenden Schweregrad der spezifischen Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren (2). Entsprechend dieser strukturellen Sichtweise äussern sich schwere Persönlichkeitsstörungen, insbesondere die BPS, durch eine Identitätsdiffusion, unreife Abwehrmechanismen bei allerdings erhaltener oder nur transient verlustiger Realitätsprüfung. Klinisch manifestiert sich die Identitätsdiffusion in mehrfacher Hinsicht: Patienten sind nicht in der Lage, Beziehungen aufrechtzuerhalten, weder zu sich selbst noch zu anderen. Oftmals fällt ihnen die Differenzierung von Selbst und anderen schwer, sodass eigene affektive Zustände anderen zu-
neurotische Persönlichkeitsorganisation
Zwanghafte
Depressiv-masochistische
Hysterische
leichter Schweregrad
«hohes» Niveau der BorderlinePersönlichkeitsorganisation
Sadomasochistische
Abhängige
Zyklothyme
Histrionische
Narzisstische
«niedriges» Niveau der BorderlinePersönlichkeitsorganisation
Paranoide Hypochondrische
Schizotypische
schizoid
Hypomanische Borderline
maligner Narzissmus
Antisoziale
psychotische Persönlichkeitsorganisation
Introversion
atypische Psychosen
schwerster Schweregrad
Extraversion
Abbildung: Psychodynamische Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen im Spektrum der BorderlinePersönlichkeitsorganisation (Kernberg et al., 2000, 51)
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geschrieben werden und umgekehrt. Rasche Wechsel in der Selbst- und der Objektwahrnehmung sind Folge der diffusen, fragmentierten und verarmten Identität, sodass ein mehr oder weniger bewusstes Selbstgefühl einer Bedürftigkeit und Hilflosigkeit unvermittelt kippen kann in ein Gefühl der Omnipotenz und in eine wütende, tyrannische Aggression gegenüber anderen oder auch sich selbst. Das ist insbesondere für die therapeutische Bearbeitung der Identitätsdiffusion von grosser Bedeutung und bildet einen zentralen Ansatzpunkt für die Therapie. Als weitere Verhaltenskorrelate der Borderline-Struktur zeigen sich denn auch eine emotionale Instabilität mit intensiven negativen Affektdurchbrüchen der Wut und des Hasses (Distanznahme in Beziehungen) sowie raschen Wechseln zu positiven Affekten mit dysregulierten Nähe-Wünschen zu idealisierten Objekten (Verschmelzungsfantasien). Unter den unreifen Abwehrmechanismen dominieren die Spaltung, die (häufig paranoid gefärbten) Projektionen und die projektive Identifikation, wonach unbewusst auf das Gegenüber projizierte Affektzustände in diesem so induziert werden, dass dieses sich damit
identifiziert. Im Rahmen einer Therapie verhält sich dann der Therapeut beziehungsweise die Therapeutin erwartungsgemäss unter Dominanz des projizierten Selbstaspekts des Patienten, sodass er beziehungsweise sie in dieser Weise vom Patienten kontrolliert werden kann. Weitere unreife Abwehrmechanismen sind Idealisierung und Entwertung, Omnipotenz und omnipotente Kontrolle, Verleugnung sowie Dissoziation und Somatisierung.
Narzisstische und antisoziale beziehungsweise dissoziale Persönlichkeitsstörung Auch bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) liegt ein Schwerpunkt der Schwierigkeiten, mit welchen diese Patienten belastet sind, im zwischenmenschlichen Bereich. Die NPS ist gekennzeichnet durch ein tief greifendes Muster von selbst empfundener Grossartigkeit, einem Bedürfnis nach Bewunderung und einem Mangel an Einfühlungsvermögen. Die Patienten können lange Zeit im psychosozialen Funktionsniveau kompensiert und angepasst sein, wenn sie
Kasten 2:
Aspekte der Borderline-Persönlichkeitsorganisation (BPO)
(modifiziert nach Clarkin et al. 2008)
Identität
Abwehrmechanismen Realitätsprüfung
Aggression
Internalisierte Werte
Objektbeziehungen
BorderlinePersönlichkeitsorganisation Inkohärentes Selbst- und Fremdempfinden; grosse Defizite in den Bereichen Arbeit und Freizeit
Einsatz primitiver Abwehrmechanismen
Unbeständig-instabile Einfühlung in Kriterien der sozialen Realität; Mangel an subtilem Taktgefühl
Gegen das eigene Selbst gerichtete Aggression; teilweise Fremdaggression; in schweren Fällen Hass Widersprüchliches Wertesystem; Unfähigkeit, gemäss den eigenen Werten zu leben; signifikanter Mangel an Werten Gestörte interpersonelle Beziehungen; fehlende oder chaotische sexuelle Beziehungen; verwirrende innere Arbeitsmodelle von Beziehungen; schwere Beeinträchtigungen in den Liebesbeziehungen
Neurotische Persönlichkeitsorganisation Kohärentes Selbst- und Fremdempfinden; Funktionieren in den Bereichen Arbeit und Freizeit Einsatz höher entwickelter Abwehrmechanismen; Rigidität Genaue Selbst- und Fremdwahrnehmung beziehungsweise Innen vs. Aussen; Einfühlung in Kriterien der sozialen Realität Gehemmte Aggression; Wutausbrüche gefolgt von Schuldgefühlen
Normale Persönlichkeitsorganisation Integriertes Selbst- und Fremdempfinden; Funktionieren in den Bereichen Arbeit und Freizeit Einsatz reifer Abwehrmechanismen; Flexibilität Genaue Selbst- und Fremdwahrnehmung beziehungsweise Innen vs. Aussen; Einfühlung in Kriterien der sozialen Realität Modulierter Ärger, angemessene Selbstbehauptung
Übersteigerte Schuldgefühle; Stabil, unabhängig
teilweise unflexibler
und individuell
Umgang mit der eigenen
Person
Partielle sexuelle Hemmung beziehungsweise Schwierigkeiten, Sexualität und Liebe zu integrieren; tiefe Beziehungen zu anderen, teilweise konflikthaft eingeschränkt
Lang anhaltende und tiefe Beziehungen zu anderen; Fähigkeit, sexuelle Intimität und Zärtlichkeit zu verbinden; kohärente Arbeitsmodelle von Beziehungen
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ausreichend Bestätigung und Bewunderung erhalten. Auch wenn die Diskussionen über die empirische Fundierung dieser Diagnose anhalten, hat sie aus klinischer Sicht einen hohen Stellenwert und zeichnet sich insbesondere aus (18) durch: G eine zwischenmenschliche Vulnerabilität (fragiles
Selbstwerterleben, Kränkbarkeit und Sensitivität bzgl. sozialer Zurückweisung, Gefühle, missverstanden, ungerecht behandelt oder schikaniert zu werden) G negative Emotionen der Unzufriedenheit, Mutlosigkeit, Deprimiertheit, Wut, Neid und Feindseligkeit G Schwierigkeiten in der Regulation dieser Affekte (Konkurrenzverhalten, Machtkämpfe, Schuldzuschreibungen). In der Interaktion sind insbesondere eine erhöhte Schamneigung (19) beziehungsweise deren – zumeist externalisierende – Abwehr sowie ein Defizit in der emotionalen Empathie (20) zu erkennen. Neben einem grandios-malignen Narzissmus wird ein fragiler, hypervigilanter Typus (thin-skinned) (21, 22) unterschieden, der selbstunsicher, schüchtern und empfindsam imponiert und zu raschen Fehlinterpretationen in der vermuteten Ablehnung durch andere neigt, letztlich aber auch die typisch narzisstischen Merkmale wie Grössenfantasien, Egozentrik, Kränkbarkeit und mangelnde Empathie aufweist (20).
Die antisoziale beziehungsweise dissoziale Persönlichkeitsstörung (APS) stellt in struktureller Hinsicht die schwerste Form einer Persönlichkeitsstörung dar (16). Während beim Syndrom eines malignen Narzissmus zumindest in begrenztem Mass Idealisierungen etwa des Wertesystems von Mächtigen zu erkennen sind und damit verbunden eine Internalisierung zu begrenzten Loyalitäten (etwa zum Anführer eines «Clans») gegeben ist, ist für Menschen mit einer APS nur die Macht selbst verlässlich; die Lust an der sadistischen Kontrolle bildet bei ihnen denn auch den motivationalen Hintergrund des Handelns (23). Personen mit einer APS fallen neben ihren antisozialen Verhaltensweisen vor allem durch interpersonale und emotionale Charakteristika auf: Impulsivität, mangelhafte Verhaltenskontrolle, Suche nach Stimulation, Neigung zu Langeweile und Verantwortungslosigkeit stehen neben fehlenden Gefühlen von Reue und Schuld, dem mangelnden Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, der fehlenden Zuneigung und Verantwortung sowie typischen kognitiven Mustern mit impulsivem Denkstil, eingeschränkter Reflexionsfähig-
keit, Defiziten im Erkennen von Problemsituationen und der Unfähigkeit, die Konsequenzen des eigenen Verhaltens zu antizipieren (24, 25). Aus Sicht der Mentalisierungstheorie gelten Menschen mit einer APS gewissermassen als «Experten» für das (kognitive) Erkennen der mentalen Zustände anderer (kognitive Hypermentalisierung), was es ihnen ermöglicht, dieses Wissen für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen (26). Gleichzeitig sind antisoziale Persönlichkeiten nicht in der Lage, sich affektiv in das innere Erleben anderer einzufühlen (27), sodass das Ausnutzen anderer oder auch die Gewalt gegen andere in ihnen keine hemmenden Gefühle auslöst. Weiterhin besteht auch eine mangelnde Fähigkeit, eigene affektive innere Zustände zu mentalisieren (28). Die zumeist aufgrund grausamer Gewalterfahrungen nicht entwickelten guten inneren Objektrepräsentanten führen dazu, dass die innere Welt antisozialer Persönlichkeiten von Hassgefühlen und einer paranoiden Weltsicht geprägt ist. Diese paart sich mit Unehrlichkeit, Verrat und Aggression beziehungsweise vorsichtiger Unterwerfung und Manipulation des Aggressors. Kernberg spricht von psychopathischer Abwehr und unterscheidet einen passiv-parasitären und einen aggressiv-psychopathischen Typus. Während der passiv-parasitäre Typus durch Lügen, Betrügen, Stehlen und Ausbeutung gekennzeichnet ist, zeigt sich der aggressive Typus in Form von gewalttätigem Verhalten.
Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung Ganz anders als die bisher dargestellten Formen von Persönlichkeitsstörungen lässt sich die vermeidende Persönlichkeitsstörung auf deutlich höherem strukturellem Integrationsniveau einordnen (neurotisches bzw. höheres Borderline-Organisationsniveau, s. Abbildung und Kasten 3). Leitsymptome sind Schüchternheit und fehlende soziale Kompetenz (29). Im Weiteren imponieren Menschen mit einer solchen Persönlichkeitsstörung durch Gefühle der Anspannung, der Besorgnis, der Unsicherheit und der Minderwertigkeit. Wünsche nach Zuneigung und Akzeptanz sind gepaart mit einer Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und Kritik, woraus interaktionelle Schwierigkeiten mit dem Meiden sozialer Situationen bis zur Isolation resultieren (30). Es kann aber auch durchaus die Abwehr der eigenen Unsicherheit durch ein kaschierendes sicheres und perfektes Auftreten im Vordergrund stehen, sodass Begegnungen kühl bis distanziert-arrogant ausgehen können.
Kasten 3:
Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung nach ICD-10
F60.6
Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung
G Gefühle von Anspannung und Besorgtheit, Unsicherheit und Minderwertigkeit
G Andauernde Sehnsucht nach Zuneigung und Akzeptiertwerden; Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und Kritik
G Eingeschränkte Beziehungsfähigkeit G Neigung zur Überbetonung potenzieller Gefahren oder Risiken
alltäglicher Situationen
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So lassen sich zwei Subtypen unterschieden (31): G kühl-distanzierter Subtyp mit Misstrauen und der
Unfähigkeit zu warmen Gefühlen und engen Beziehungen G nachgiebig-ausnutzbarer Subtyp mit Neigung, sich ausgenutzt zu fühlen, und mangelnder Fähigkeit, anderen Freude zu bereiten. Diagnostisch schwierig und empirisch nicht ausreichend validiert ist die Abgrenzung gegenüber der sozialen Phobie: Beide Störungsbilder zeigen grosse Überschneidungen (32), wobei Patienten mit einer ängstlichen Persönlichkeitsstörung häufig generalisierte und weniger situationsspezifische phobische Ängste aufweisen, als dies Patienten mit einer sozialen Phobie tun. G
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Dr. phil. Daniel Sollberger
Chefarzt ZPP/ZPS Erwachsenenpsychiatrie Baselland
Bienentalstrasse 7 4410 Liestal
E-Mail: daniel.sollberger@pbl.ch
Merksätze:
G Persönlichkeitsstörungen äussern sich sowohl auf Verhaltensebene als auch in der subjektiven Erlebensweise der Betroffenen.
G Die Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört zu den im klinischen Kontext häufigsten Persönlichkeitsstörungen. Diagnostisch richtungsweisend sind selbstverletzendes und suizidales Verhalten. Strukturell betrachtet, imponiert die BPS durch eine Identitätsdiffusion, eine eingeschränkte Fähigkeit zur Mentalisierung sowie durch unreife Abwehrmechanismen bei erhaltener Realitätskontrolle.
G Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist durch ein tief greifendes Muster empfundener Grossartigkeit, ein Bedürfnis nach Bewunderung und einen Mangel an Einfühlungsvermögen geprägt.
G Die ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung zählt hinsichtlich des Integrationsniveaus der Persönlichkeit zu den höher strukturierten Persönlichkeitsstörungen. Sie zeichnet sich durch ausgeprägte Schüchternheit, Besorgnis, Anspannung und Minderwertigkeitsfühle aus. Diagnostisch schwierig und empirisch nicht ausreichend validiert ist die Abgrenzung gegenüber der sozialen Phobie.
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