Transkript
FORTBILDUNG
«Wir müssen uns auf die Amerikanisierung einstellen»
Psychopharmaka sind häufig eingenommene Medikamente, umso wichtiger ist die Arzneimittelsicherheit. Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Chefarzt und Extraordinarius an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern und Leiter der Abteilung für Molekulare Psychiatrie an der Universität Bern, ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie. Im Interview geht er auf Weiterentwicklungen und Probleme in der Psychopharmakotherapie ein.
Psychiatrie & Neurologie: Wie bedeutsam ist die Arzneimittelsicherheit speziell in der Psychiatrie? Prof. Gregor Hasler: Die Arzneimittelsicherheit war in der Psychiatrie schon immer ein wichtiges Thema. Sie nimmt vielleicht noch an Bedeutung zu, weil die Polypharmazie zunimmt und die Bevölkerung älter geworden ist. Im Jahr 1994 haben psychiatrische Patienten beispielsweise 3 Medikamente eingenommen. Im Jahr 2008 waren es bereits 4,4. Bei den älteren Patienten liegt das Problem oft bei der Interaktion zwischen psychiatrischen und somatischen Medikamenten, beispielsweise von kardiovaskulär wirksamen Medikamenten und Psychopharmaka.
Das heisst, die Interaktionen haben zu- und die Arzneimittelsicherheit hat abgenommen? Gregor Hasler: Nein, statistisch gesehen haben die Interaktionen nicht zugenommen; schwere Nebenwirkungen sind sogar eher seltener geworden. Das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass wir wirksame Massnahmen ergriffen haben. Heute liegen bei vielen Krankheitsbildern Behandlungsempfehlungen vor. Diese sind nicht verpflichtend, aber sie entsprechen dem State of the Art in der Behandlung und werden dementsprechend auch in der Praxis umgesetzt. Interessanterweise gibt es laut amerikanischen Daten die meisten Nebenwirkungen bei einem altbekannten Medikament, dem Zolpidem. Ältere Menschen haben einen um 50 Prozent höheren Plasmaspiegel dieses Medikaments, ohne dass sich die Halbwertszeit verlängert. Das kann aufgrund der Überdosierung die Sturzgefahr erhöhen.
In einem Beitrag in dieser Ausgabe heisst es, dass es wahrscheinlich mehr Haftungsprozesse in der Psychiatrie, aber auch in der Neurologie geben wird. Warum könnte dieser Fall eintreten? Wie sind Ihre diesbezüglichen Erfahrungen in der Praxis?
Gregor Hasler
Gregor Hasler: Ich denke tatsächlich, dass wir uns auf die Amerikanisierung einstellen und auf mehr Prozesse vorbereiten müssen, obwohl bis jetzt noch keine Zunahme der Haftungsprozesse zu vermerken ist. Bei einem Verdacht wird aber heute sehr genau hingeschaut: Wenn in einer Klinik wiederholt etwas Auffälliges passiert, wollen Staatsanwälte genau wissen, was passiert ist, warum es passiert ist und vor allem wie Gefahren dokumentiert werden. Zudem sind Patienten in unserem heutigen Gesundheitssystem mündige «Partner». Die Aufklärung ist sehr wichtig. Und diese muss auch dokumentiert werden.
Dann ist die Auseinandersetzung mit den rechtlichen Grundlagen ein wichtiges Thema für die Psychiater geworden? Gregor Hasler: Ja, zudem werden viele Substanzen off label eingesetzt, deshalb ist die rechtliche Grundlage ein wichtiges und viel diskutiertes Thema. Bisher ist trotz Off-label-Gebrauch wenig passiert. Denn für die Pharmafirmen ist es oft recht aufwendig, neue Indikationen bei Swissmedic zu beantragen, weshalb dies unterlassen wird, obwohl die Substanzen auch in anderen Indikationen wirksam sind. Als Nebeneffekt schiebt diese Praxis Verantwortung von den Firmen auf die Ärzte.
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PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
Gehören Arzneimittelverordnung und somatische Abklärung zusammen, und wird das in der Praxis umgesetzt? Gregor Hasler: Bei der Verordnung sind insbesondere die individuellen Faktoren wie die genetische Disposition zu beachten. Ferner somatische Krankheiten. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit den Somatikern wichtig. Insgesamt passiert wohl auch in diesem Bereich wenig, weil komplexe Psychopharmakotherapien meistens in grossen Kliniken verordnet und überprüft werden. Erst wenn der Patient eingestellt ist, kommt dann die Überweisung in die Peripherie. Reaktionen und Nebenwirkungen des Betroffenen sind dann bereits bekannt, und der Patient ist entsprechend medikamentös eingestellt.
Gibt es Weiterentwicklungen in der Dokumentation und Bearbeitung von Medikamenten? Gregor Hasler: Wir sind gerade dabei, ein neues Informationssystem zu entwickeln. Unser Ziel ist es, dass bei der Verordnung von Medikamenten direkt die Interaktionen angezeigt werden. Verordnet ein Psychiater beispielsweise Lithium, und der Patient nimmt ein Diuretikum ein, sollte direkt auf die Bedeutung des Natriumspiegels hingewiesen werden. Unser Traum wäre eine individuelle Auswertung, bei der direkt nach Eingabe der Medikamente im Computer eine individuell zugeschnittene Warnung kommt. Wir arbeiten daran, die Daten des Klinikinformationssystems auszuwerten. Das wird die Grundlage für weitere Schritte sein. Diese systematische Qualitätssicherung ist meiner Meinung nach wichtiger, als auf Nebenwirkungen hinzuweisen und diese zu bearbeiten, wenn sie bereits eingetreten sind, wie das beim CIRS-System der Fall ist.
Wie liesse sich die Arzneimittelsicherheit noch weiter
verbessern?
Gregor Hasler: Mit der Schweizer Gesellschaft für Arz-
neimittelsicherheit in der Psychiatrie liegt ein wichtiges
Instrument vor, um die Arzneimittelsicherheit weiter zu
erhöhen. Unser Jahreskongress ist immer gut besucht.
Zusätzlich bieten wir Workshops am SGPP-Kongress
und an internationalen Fortbildungen an. Ich bemerke
an den Fort- und Weiterbildungen ein sehr grosses In-
teresse und eine aktive Mitarbeit. Unser SGAMSP-Vor-
stand hält Vorträge, auch gemeinsam mit anderen
Fachbereichen. Und nicht zu vergessen: Auch Weiter-
bildungszeitschriften sind wichtige Plattformen, um auf
das Thema aufmerksam machen zu können!
G
Sehr geehrter Herr Prof. Hasler, wir danken Ihnen für das Interview.
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Prof. Gregor Hasler ist fachlicher Beirat für den psychiatrischen Schwerpunkt dieser Ausgabe.
Kasten:
Geschichte der SGAMSP
Seit Ende der Siebzigerjahre werden die Verordnungen der Arzneimittel und deren Nebenwirkungen in der Psychiatrie systematisch erfasst. Ausgangspunkt waren die Nebenwirkungen des Neuroleptikums Clozapin. In der Folge gründete die deutsche Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Psychopharmakatherapie 1979 die Arbeitsgruppe Arzneimittelüberwachung in der Psychiatrie (AMÜP) mit dem Ziel, unerwünschte Wirkungen von Psychopharmaka gezielt zu erfassen und damit die Arzneimittelsicherheit bei der Behandlung zu erhöhen. Von 1979 bis 1989 wurde das Projekt vom Bundesgesundheitsamt in Deutschland unterstützt. Im Herbst 1993 wurde das Projekt Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (ASMP) auf 9 Kliniken in Deutschland ausgedehnt, und ein Jahr später hat sich das Sanatorium Kilchberg als erste Schweizer Klinik angeschlossen. 2003 wurde im Sanatorium Kilchberg die Schweizerische Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (SGAMSP) gegründet: Heute sind über 60 Kliniken aus der Schweiz, aus Deutschland, Österreich und Belgien am Projekt ASMP beteiligt.
Internet: www.amsp.de
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