Transkript
FORTBILDUNG
Wie früh und wie intensiv? Evaluation intensiver Frühinterventionen bei Autismusspektrum-Störungen
Eine systematische Literaturübersicht
Autismusspektrum-Störungen (ASS) manifestieren sich bereits in der frühen Kindheit. Schon im Alter von zwei Jahren lässt sich bei Kindern, die später mit ASS diagnostiziert werden, ein anderes Entwicklungsprofil erkennen als bei typisch entwickelten Kindern (3). Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Genetik, Epigenetik, Umwelt- und Verhaltensfaktoren, welche die Entwicklung des Gehirns und somit den Verlauf einer ASS beeinflusst (4). Der Beitrag untersucht Studien zu intensiver Frühintervention bei ASS. Das Ergebnis zeigt, dass Kinder mit Autismus von einer intensiven Therapie im jungen Alter profitieren und dass grosse Fortschritte in allen Bereichen der Entwicklung möglich sind.
Julia Früh Klaus Schmeck
von Julia Früh, Klaus Schmeck, Kirstin Goth, Evelyn Herbrecht
Einleitung
D ie Hauptsymptome von Autismusspektrum-Störungen (ASS) sind Defizite in sozialer Interaktion und Kommunikation sowie repetitive und stereotype Verhaltensweisen und Interessen (1). ASS manifestieren sich bereits in der frühen Kindheit, bringen aber meist eine lebenslange Beeinträchtigung mit sich (2). Schon im Alter von zwei Jahren lässt sich bei Kindern, die später mit ASS diagnostiziert werden, ein anderes Entwicklungsprofil erkennen als bei typisch entwickelten Kindern (3). Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Genetik, Epigenetik, Umwelt- und Verhaltensfaktoren, welche die Entwicklung des Gehirns und somit den Verlauf einer ASS beeinflusst (4). Beeinträchtigungen in grundlegenden sozialen Fertigkeiten wie dem Erstellen von Augenkontakt oder gemeinsamer Aufmerksamkeit (engl. joint attention) erschweren die soziale Entwicklung zusätzlich (5). Die Förderung von sozialem Lernen durch intensive Frühinterventionen kann die Entwicklung des Gehirns günstig beeinflussen und so möglicherweise den Verlauf der Störung verbessern (6). Die Zahl der Therapieprogramme für intensive Frühintervention ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen, doch es besteht noch keine definitive Evidenz dafür, welche Therapie für welche Patienten am effektivsten ist. Aus diesem Grund wurden intensive Frühinterventionen für Kinder mit Autismus von der Invalidenversicherung (IV) bis anhin nicht als Goldstandard anerkannt und deren Kosten somit nicht gedeckt. In einer Arbeitsgruppe des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) haben Wissenschaftler und Ärzte aus Schweizer Universitätsspitälern die Wirksamkeit der zur-
zeit als Standard angesehenen Interventionen für Kinder mit ASS diskutiert. Das Ziel dieses Übersichtsartikels ist es, anhand aktueller wissenschaftlicher Studien zu diesem Thema einen Überblick über die Wirksamkeit intensiver Frühinterventionen für Kinder mit ASS zu geben. Die folgenden Fragen wurden untersucht: a. Welches ist das beste Alter für den Beginn einer
Frühintervention? b. Wie viele Therapiestunden pro Woche sind ideal? c. Welche Therapiemethode wirkt am besten?
Methoden Literatursuche und Einschlusskriterien Zwischen September und Oktober 2012 wurde eine Literatursuche in den medizinischen Datenbanken PubMed, PsychINFO und Cochrane Library durchgeführt. Zusätzlich wurde in Literaturverzeichnissen von älteren Reviews zu diesem Thema nach passenden Studien gesucht, die in den Datenbanken nicht auftauchten. Um in diese Übersichtsarbeit eingeschlossen zu werden, mussten die Studien folgende Einschlusskriterien erfüllen: (a) es wird die Wirksamkeit einer intensiven Frühintervention für Kinder mit ASS untersucht, (b) die Intensität der Intervention entspricht mindestens 15 Stunden pro Woche, (c) die Probanden waren zu Beginn der Studie maximal fünf Jahre alt, (d) die Probanden wurden mit ASS, Autismus oder einer tief greifenden Entwicklungsstörung diagnostiziert, (e) die Studie hat mindestens 10 Probanden, (f ) die in der Studie gegebenen Rohdaten sind ausreichend, um eigene Effektstärken zu berechnen. Pilotstudien, Fallstudien und Reviews wurden ausgeschlossen. Es konnten 23 Einzelstudien (26 insgesamt) in unsere Untersuchung eingeschlossen werden.
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Abbildung 1: Cohen’s d für adaptives Verhalten für Typ-1- und -2-Studien mit Vergleich zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Die Balken zeigen das 95%-Konfidenzintervall. Kovshoff et al. (17) haben zwei Interventionsgruppen mit einer Kontrollgruppe verglichen. Howard et al. (13) haben eine Interventions- mit zwei Kontrollgruppen verglichen.
Abbildung 2: Cohen’s d für IQ für Typ-1- und -2-Studien mit Vergleich zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Die Balken zeigen das 95%-Konfidenzintervall. Kovshoff et al. (17) haben zwei Interventionsgruppen mit einer Kontrollgruppe verglichen. Howard et al. (13) haben eine Interventions- mit zwei Kontrollgruppen verglichen.
Methodische Beurteilung Die eingeschlossenen Studien wurden gemäss den Kriterien von Nathan und Gorman (7) in verschiedene Evidenzstufen eingeteilt:
Typ-1-Studien: Die Studien mit den rigorosesten Designs, darunter randomisiert-kontrollierte, prospektive klinische Studien. Weitere Kriterien: Kontrollgruppen mit randomisierter Zuteilung, verblindete Assessments, klar ersichtliche Ein- und Ausschlusskriterien, dem Goldstandard entsprechende Diagnostik, statistisch aussagekräftige Kohortengrösse und klare Beschreibung der statistischen Methoden. Typ-2-Studien: Klinische Studien, die nicht alle Kriterien der Typ-1-Studien erfüllen. Typ-3-Studien: Offene Therapiestudien ohne Kontrollgruppe oder Fallkontrollstudien, in denen Probanden identifiziert und deren Therapien retrospektiv evaluiert werden.
Berechnung von Effektstärken
Um die Daten der verschiedenen Studien besser ver-
gleichen zu können, wurden für diejenigen Endpunkte,
für die in der Studie ein signifikanter Effekt gefunden
wurde, Effektstärken (Cohen’s d) berechnet. Hierfür wur-
den die in der Studie gegebenen statistischen Daten
verwendet. Für jeden Endpunkt wurde die standardi-
sierte mittlere Differenz, Cohen’s d, anhand folgender
Formel berechnet:
d
=
x1- x2 s
,
wobei
x1
für
den
Mittelwert
von
Gruppe
1
steht und x2 für den Mittelwert von Gruppe 2. S steht
für die gepoolte Standardabweichung, die mit folgen-
der Formel berechnet wurde:
√s =
(n1-1)s21+ (n2-1)s22 n1+n2-2
,
wobei
s21
die
geschätzte Varianz
darstellt und n1 die Stichprobengrösse der Gruppe 1.
Sämtliche statistischen Analysen wurden mit dem Pro-
gramm R durchgeführt (8). Cohen’s d und die Konfi-
denzintervalle wurden mithilfe des R-Pakets compute.es
(9) berechnet.
Resultate 2 Studien wurden als Typ 1 klassifiziert: Dawson et al. (10) und Smith, Groen und Wynn (11). 9 Studien entsprachen Typ 2: Hayward et al. (12), Howard et al. (13), Magiati et al. (14) (mit Follow-up Studie [15]), Remington et al. (16) (mit Follow-up von Kovshoff et al. [17]), Sallows und Graupner (18), Strain und Bovey (19) und Zachor et al. (20). Die verbleibenden 15 Studien wurden als Typ 3 klassifiziert (21–35). Um den Therapieerfolg anschaulicher darzustellen, wurden die Effektstärken zwischen Interventions- und Kontrollgruppe (das heisst der Unterschied zwischen den beiden Gruppen nach der Intervention) in den Abbildungen 1 bis 3 grafisch dargestellt. Dies wurde für die Endpunkte «IQ», «Sprache» und «adaptives Verhalten» gemacht, sofern in der Studie ausreichend Daten vorhanden waren.
Studien vom Typ 1 Dawson et al. (10) haben in ihrer randomisiert-kontrollierten Studie die Wirksamkeit des Early Start Denver Modells (ESDM) mit einer Routinebehandlung (treatment as usual, TAU) verglichen. Die Probanden waren zu Beginn der Intervention zwischen 18 und 30 Monate alt und erhielten während zweier Jahre zirka 15 Therapiestunden pro Woche. ESDM ist eine Kombination aus verhaltenstherapeutischen und entwicklungstherapeutischen Methoden. Die Therapie findet bei den Patienten zu Hause statt und wird sowohl von Fachpersonen
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als auch von den Eltern durchgeführt. Die Probanden der Kontrollgruppe erhielten diverse Routinebehandlungsangebote. Am Ende der Intervention übertrafen die Kinder der Interventionsgruppe diejenigen der Kontrollgruppe in allen Endpunkten. Es fanden sich bedeutsame Effekte für adaptives Verhalten (ESDM > TAU; d = 0,73) und für den IQ (ESDM > TAU; d = 0,6). Der mittlere IQ-Anstieg in der ESDM-Gruppe betrug 17,6 Punkte, während der mittlere IQ der Kontrollgruppe nur um 7 Punkte anstieg. Ausserdem erhielten Kinder in der Interventionsgruppe im Anschluss häufiger eine weniger schwere Diagnose (z.B. Autismus vor der Intervention zu tief greifende Entwicklungsstörung – nicht weiter bezeichnet nach der Intervention). Smith, Groen und Wynn (11) haben in einer randomisiert-kontrollierten Studie Early Intensive Behavioural Intervention (EIBI, dt. frühe intensive Verhaltensintervention) mit nicht intensiver Applied Behaviour Analysis (ABA, dt. angewandte Verhaltensanalyse) verglichen. Die Intervention dauerte durchschnittlich 33 Monate. In der Interventionsgruppe erhielten die Probanden während eines Jahres 25 Stunden EIBI wöchentlich und wurden entweder von professionellen Therapiepersonen oder von den Eltern unterrichtet. Der Unterricht fand anfangs zu Hause statt und wurde später, falls die Fähigkeiten des Kindes es erlaubten, in ein Klassenzimmer verlegt. Nach einem Jahr wurde die Therapieintensität graduell verringert. In der Kontrollgruppe wurden die Eltern der Probanden durch Fachpersonen instruiert, wie sie die Prinzipien von ABA mit ihren Kindern anwenden können. Die Probanden erhielten 5 Stunden ABA pro Woche. 10 bis 15 Stunden pro Woche verbrachten sie in Sonderschulen. Nach der Intervention erzielten die Kinder der Interventionsgruppe signifikant höhere Werte für IQ, Sprache und räumlich-visuelle Fähigkeiten. Ausserdem zeigten sie bessere schulische Leistungen und wurden in weniger restriktiven Settings platziert. Der mittlere IQ der Interventionsgruppe stieg um 16 Punkte an, während der mittlere IQ der Kontrollgruppe leicht abnahm. Die Effektstärke für IQ betrug 0,76. Für adaptives Verhalten wurde kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen gefunden. In der EIBI-Gruppe hatten die beiden Probanden, die am meisten profitiert hatten, nach der Intervention einen IQ über 85, konnten selbstständig eine Regelschule besuchen und hatten in allen standardisierten Tests Resultate im Normbereich. Generell haben die Eltern der Probanden in der EIBI-Gruppe die Intervention als hilfreich und nicht als belastend empfunden.
Studien vom Typ 2 Howard et al. (13), Magiati et al. (14; 15), Remington et al. (16), Kovshoff et al. (17) und Zachor et al. (20) haben EIBI mit TAU oder gemischten Interventionen in nicht randomisierten, kontrollierten Studien verglichen. 2 Studien haben die Wirksamkeit von universitäts-basiertem EIBI und durch die Eltern organisiertem EIBI verglichen (Hayward et al. [12] und Sallows und Graupner [18]). Strain und Bovey (19) hingegen untersuchten die Wirksamkeit eines Integrationsprogrammes für Kinder mit ASS in Regelschulen: Learning Experiences and Alternative Program for Preschoolers and Their Parents (LEAP).
Abbildung 3: Cohen’s d für Sprache für Typ-1- und -2-Studien mit Vergleich zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Die Balken zeigen das 95%-Konfidenzintervall. Howard et al. (13) haben eine Interventions- mit zwei Kontrollgruppen verglichen.
In denjenigen Studien, in denen EIBI mit einem anderen Ansatz verglichen wurde, hat EIBI deutlich bessere Resultate erzielt. Die einzigen Ausnahmen bildeten die Studie von Magiati et al. (14, 15), bei der kein signifikanter Unterschied zwischen EIBI und eklektischer Intervention gefunden wurde, und die Studie von Kovshoff et al. (17), in der nur das durch die Eltern organisierte EIBI der Kontrollintervention überlegen war, nicht aber dasjenige, das durch eine Universität organisiert wurde. Durch EIBI erzielten einige Probanden bemerkenswerte Verbesserungen bezüglich IQ, adaptivem Verhalten und Sprache, während die Fortschritte in den Kontrollgruppen eher bescheiden waren. Ausser in der Studie von Kovshoff et al. (17) gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen privat organisiertem oder universitätsgebundenem EIBI. Beide Wege führten zu grossen Fortschritten in allen Endpunkten. Sallows und Graupner (18) berichten sogar, dass 48 Prozent der Probanden nach der Intervention mit EIBI «best outcome» waren: Ihr durchschnittlicher IQ-Gewinn betrug 48 Punkte, sie hatten in bestimmten Endpunkten Werte im Normbereich, und sie besuchten eine Regelschule. Generell wurden Probanden, die EIBI erhielten, eher in Regelschulen platziert als Probanden aus Kontrollgruppen. Wie die Studie von Strain und Bovey (19) zeigt, kann auch eine manualisierte integrative Förderung zu signifikanten Fortschritten in kognitiven, sprachlichen und sozialen Bereichen führen und die autistischen Symptome verringern.
Studien vom Typ 3 9 Studien haben die Wirksamkeit von verhaltenstherapeutischen Methoden (EIBI, Pivotal Response Training, ABA) mit nicht kontrollierten Designs untersucht (22–24, 26–27, 30–34). In 3 Studien wurden intensive
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Abbildung 4: Y-Achse: Prä-/Posttest-Effektstärken für VABS. X-Achse: Anzahl Therapiestunden pro Woche. Schwarze Quadrate: primär eingeschlossene Studien. Graue Dreiecke: zusätzlich eingeschlossene Studien.
Interventionen durchgeführt, bei denen verschiedene Ansätze nebeneinander verwendet wurden («eklektisch»), 1 Studie (29) hat das Colorado Health Sciences Program untersucht, welches auf entwicklungspsychologischen Theorien basiert, und eine (35) die Wirksamkeit von Mifne. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass jede Intervention zu gewissen Fortschritten geführt hat. Probanden, die EIBI erhielten, haben generell grössere Fortschritte in Bezug auf Sprache und IQ erzielt. Der Effekt von EIBI auf adaptives Verhalten war dagegen eher variabel. Auch entwicklungstherapeutische und gemischte Interventionen konnten positive Resultate verzeichnen, der Fortschritt war allerdings nicht so deutlich wie in den Studien über EIBI. Von 4 Studien über EIBI, die den Schweregrad des Autismus als Endpunkt untersucht hatten, war in 3 eine signifikante Reduktion zu verzeichnen, während dies nur in 1 von 4 Studien über gemischte Ansätze der Fall war. Bei den entwicklungstherapeutischen Therapien führte Mifne zu einer Reduktion der Autismusstärke, nicht aber die im Colorado Health Sciences Program verwendete Behandlung. In einigen Studien zeigte sich, dass der IQ vor der Intervention der beste Prädiktor für Fortschritte in der Therapie war. Allerdings fand sich in 1 Studie (26), in der der durchschnittliche IQ schon vor der Intervention ziemlich hoch war, ein genau umgekehrtes Resultat: diejenigen Probanden mit tieferem IQ erzielten die grösseren Fortschritte.
Der Einfluss von Intensität und Alter auf den Therapieerfolg Um eine bessere Vorstellung davon zu erhalten, wie die Therapieintensität die Resultate beeinflusst, wurde ein Diagramm erstellt, in dem die Effektstärken für adaptives Verhalten (entsprechend den Vineland Adaptive Behavior Scales, VABS) in Bezug auf die Anzahl Therapiestunden pro Woche aufgetragen sind, falls dieser Endpunkt in der Studie untersucht wurde. Die Effektstärken beziehen sich auf die Verbesserung von Prä- zu Posttest.
Um die Effektstärken der intensiven Interventionen besser einordnen zu können, wurden für dieses Diagramm auch die Werte aus 4 Studien (36–39) verwendet, die ursprünglich aus dem Review ausgeschlossen wurden, weil die Intensität der untersuchten Therapie unter 15 Stunden pro Woche betrug. Diese Studien untersuchten nicht intensive verhaltenstherapeutische, entwicklungstherapeutische sowie gemischte Therapieansätze. Wie man in Abbildung 4 sehen kann, wurden die grössten Effekte in den Therapien mit der höchsten Stundenzahl pro Woche erzielt, während weniger intensive Interventionen eher moderate Effektstärken hervorbrachten. Es gab nur zwei Studien, in denen explizit eine intensivere und eine weniger intensive Version derselben Therapieform untersucht wurden (12, 32). Bei beiden erzielte die Gruppe mit der intensiven Intervention bessere Resultate. Eine weitere Studie (24) untersuchte zwar auch dieselbe Intervention mit unterschiedlichen Intensitäten, aber da die Intensitäten zwischen den Gruppen teilweise überlappten, lassen sich hier keine klaren Schlüsse ziehen. Ein Faktor, der noch nicht eingehend behandelt wurde, ist die Dauer der Intervention. Es wäre denkbar, dass die Gesamtzahl der Therapiestunden wichtiger ist als die wöchentliche Intensität. Wenn man die Resultate der verschiedenen Studien für adaptives Verhalten entsprechend des Alters der Probanden betrachtet, sieht man, dass die höchsten Effektstärken erzielt wurden, wenn die Probanden zu Beginn der Therapie ungefähr drei Jahre alt waren. Waren die Probanden im Durchschnitt jünger als 30 Monate, wurden keine hohen Effektstärken erzielt. Studien, deren Probanden bis sieben Jahre alt, also etwas älter waren (40–43), haben gezeigt dass auch in diesem Alter noch signifikante Fortschritte möglich sind, allerdings mit nicht ganz so hohen Effektstärken wie bei frühem Therapiebeginn im Alter von drei Jahren.
Diskussion Welches ist das beste Alter für den Beginn einer Frühintervention? Interessanterweise kann man aus den untersuchten Studien nicht ableiten, dass die Resultate besser werden, wenn die Therapie bereits vor dem Alter von drei Jahren beginnt. Es ist möglich, dass die kleineren Effektstärken bei sehr jungen Kindern ein methodisches Artefakt dieser rein deskriptiven Analyse sind und sich durch ausgedehntere statistische Berechnungen relativieren würden. Es gibt aber auch andere Erklärungsansätze: Erstens ist bekannt, dass die Fortschritte in intensiven Frühinterventionen zwischen den einzelnen Kindern stark variieren können (4). Es könnte sich hier also eher um individuelle Unterschiede als um einen systematischen Trend handeln. Zweitens sind ASS Entwicklungsstörungen. Das heisst, dass der Entwicklungsrückstand der betroffenen Kinder zu den typisch entwickelten Kindern mit zunehmendem Alter grösser wird. Der wichtigste Zeitpunkt für die Beurteilung des Schweregrades von autistischen Symptomen ist im Alter von 4 bis 5 Jahren. Daher beziehen sich beispielsweise die Diagnosealgorithmen des Autism Diagnostic Interview – Revised (ADI-R) auf diese Periode. Das heisst, ein etwas älteres Kind hat mehr Raum für Verbesserun-
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gen als ein sehr junges. Die Effekte in Studien mit Kindern unter drei Jahren könnten also unterschätzt werden. Es gilt jedenfalls zu bedenken, dass Therapie bei sehr jungen Kindern helfen kann, Risikofaktoren zu mildern und die volle Ausprägung eines autistischen Syndroms zu verhindern (6). Bisher ist die grösste Symptomreduktion bei einem Therapiebeginn im Alter zwischen 35 und 42 Monaten zu verzeichnen.
Wie viele Therapiestunden pro Woche sind ideal? Die positiven Ergebnisse der untersuchten Studien unterstützen die Ansicht, dass Personen mit ASS von intensiven Interventionen profitieren. Generell führt eine höhere Therapieintensität zu grösseren Fortschritten.
Welche Therapiemethode wirkt am besten? EIBI ist die Intervention, die über die untersuchten Studien hinweg die grössten und stabilsten Verbesserungen zu erbringen vermag. Dies wird durch frühere systematische Rewiews zu diesem Thema (z.B. Rogers und Vismara [44]) bestätigt. Aber auch entwicklungstherapeutische und gemischte Ansätze waren erfolgreich. Bis anhin ist EIBI die einzige Therapiemethode für Kinder mit Autismus, die die Kriterien für eine «gut etablierte» Behandlung von Chambless et al. (45) erfüllt. Wenn es für die Wirksamkeit einer Therapiemethode noch keinen Nachweis gibt, heisst das aber nicht zwingend, dass sie nicht wirksam ist. Es ist wichtig, dass andere Therapiemethoden Belege für ihre Wirksamkeit erbringen.
Merkpunkte:
G Dank intensiven Frühinterventionen sind für Kinder mit Autismus grosse Fortschritte in allen Bereichen der Entwicklung möglich.
G Die Therapie sollte so intensiv wie möglich sein (mindestens 15 Stunden pro Woche).
G Der ideale Zeitpunkt für den Therapiebeginn liegt bei ungefähr 3 Jahren. Ein noch früherer Beginn kann von Vorteil sein.
G Applied Behavior Analysis (ABA) ist die Therapiemethode mit der am besten belegten Wirksamkeit. Aber auch einige entwicklungstherapeutische und gemischte Ansätze haben zu positiven Resultaten geführt.
G Eine frühzeitige Diagnose ist daher für den weiteren Entwicklungsverlauf des Kindes zentral.
Schlussfolgerungen
In diesem Artikel wurden Studien zu intensiver Frühin-
tervention bei Autismusspektrum-Störungen unter-
sucht. Das Ergebnis war, dass Kinder mit Autismus von
einer intensiven Therapie im jungen Alter profitieren
und dass grosse Fortschritte in allen Bereichen der Ent-
wicklung möglich sind.
ABA-basierte Therapiemethoden zeigen bisher die so-
lideste Evidenz für ihre Wirksamkeit. Aber auch einige
entwicklungstherapeutische oder gemischte Metho-
den haben zu positiven Resultaten geführt. Es ist wich-
tig, weiterhin zu untersuchen, auf welche Weise
verschiedene Therapien für verschiedene Kinder hilf-
reich sind.
Intensive Therapien zeigen bessere Resultate in Bezug
auf das Verhalten als weniger intensive Therapien. Es
gibt Hinweise, dass der ideale Zeitpunkt für den Beginn
einer Therapie beim Alter von ungefähr drei Jahren liegt.
Hierbei muss man aber den Entwicklungsverlauf im frü-
hen Kindesalter und dessen Einfluss auf den Schwere-
grad beobachtbarer Symptome in Betracht ziehen. Um
definitive Schlüsse bezüglich des idealen Alters für den
Beginn einer Therapie zu ziehen, sind Langzeitdaten
nötig.
Während die Fortschritte von Kind zu Kind sehr unter-
schiedlich sind, erreichten doch viele Kinder durch in-
tensive Frühinterventionen IQ-Werte über 80, konnten
im Anschluss an die Therapie eine Regelschule besu-
chen und entsprachen nicht mehr den Diagnosekrite-
rien für frühkindlichen Autismus. Wenn man bedenkt,
dass Autismus eine lebenslange Beeinträchtigung dar-
stellt (4), ist das doch ein sehr grosser Erfolg.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Evelyn Herbrecht
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Kinder- und jugendpsychiatrische Klinik
Schaffhauserrheinweg 55
4058 Basel
E-Mail: evelyn.herbrecht@upkbs.ch
Konkurrierende Interessen: Dr. Evelyn Herbrecht ist Ko-Leiterin des FIAS-Therapiezentrums Basel, in dem eine an die Mifne-Methode angelehnte Behandlungsform durchgeführt wird. Prof. Klaus Schmeck ist Mitglied des FIAS-Stiftungsrats. Beide sind an der wissenschaftlichen Überprüfung der Methode beteiligt.
Danksagung: Die Autoren danken Frau Dr. Deborah Vogt von der Clinical Trial Unit der Universität Basel für die statistischen Analysen und Grafiken.
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE