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FORTBILDUNG
Praxisrelevante Denkwerkzeuge für die Migränebehandlung
Die Behandlung der Migräne basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass auch (noch) nicht evidenzbasierte Anteile therapeutisch relevant sind. Die Autoren Prof. Peter S. Sandor, Ärztlicher Direktor und Chefarzt RehaClinic, und PD Dr. Andreas R. Gantenbein, Chefarzt Neurologie RehaClinic Bad Zurzach, stellen die praxisrelevanten Aspekte vor.
Peter S. Sandor Andreas R. Gantenbein
von Peter S. Sandor und Andreas R. Gantenbein
Mitbehandlung von Komorbiditäten
K Komorbiditäten spielen bei Migränepatienten eine wesentliche Rolle, da sie die Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigen (1). Dazu gehören affektive Erkrankungen wie die Angststörung, aber auch chronische Schmerzerkrankungen und Störungen, die nicht immer sicher als pathologisch betrachtet werden können, die Befindlichkeit jedoch erheblich stören. Hierzu zählen leichtes Übergewicht, eine intermittierende Insomnie oder Obstipation. In der Pharmakotherapie sind die möglichst geringe Komplexität der Applikation sowie ein Auskommen mit einer möglichst geringen Anzahl an Substanzen ein wichtiges Ziel (3). Wenn ausser Migräne noch weitere Gesundheitsstörungen zu behandeln sind, erscheint es sinnvoll, die Substanzwahl so zu gestalten, dass möglichst mehrere nützliche Effekte derselben Substanz dem Patienten zugute kommen. Als Beispiele antimigränös wirkender Substanzen in diesem Kontext sind zu nennen: das Antidepressivum Topiramat bei Adipositas, das auch sedierend wirkt und bei einer Schlafstörung eingesetzt werden kann, oder Antidepressiva aus diversen Substanzklassen bei affektiven Störungen, Magnesium bei Obstipation und Betablocker für die Behandlung einer Angststörung. Der zusätzliche Nutzen sollte sich auch auf die Adhärenz positiv auswirken und den Patienten zur Einnahme motivieren.
«Start low, go slow» «Start low, go slow» ist eine allgemeine Behandlungsstrategie für prophylaktisch einzunehmende Substanzen, die nicht nur in der Migränebehandlung, sondern auch über die Neurologie hinaus weitgehend akzeptiert und angewandt wird und die Verträglichkeit auch hö-
herer Dosierungen immer wieder zu ermöglichen scheint. Das langsame Eindosieren («Einschleichen») von Substanzen hat nahezu axiomatischen Charakter in der Pharmakotherapie allgemein und wird in Beipackzetteln oftmals quantifiziert. Das ist in der Behandlung von Migränepatienten besonders wichtig, weil die Verträglichkeit von Prophylaktika nicht selten limitierend ist für die Therapie. Aus der neurophysiologischen Literatur ist bekannt, dass Migräniker eine verminderte Habituation in der Verarbeitung von Sinnesinformationen verschiedener Modalitäten haben (2). Deshalb scheint das betont langsame Einschleichen von Medikamenten hier besonders wichtig für die Verträglichkeit zu sein. Die Autoren können diese Erkenntnis aus der Erfahrung bestätigen und empfehlen, sich bei der Etablierung der Basistherapie betont viel Zeit zu lassen, obwohl diese Spekulation nicht evidenzbasiert, sondern rein behandlungsrelevant ist. Häufig kann trotzdem die gewünschte Zieldosis aufgrund von Nebenwirkungen nicht erreicht werden.
Die «Minestrone-Strategie» Prophylaktika in der Migränetherapie gehören verschiedenen Substanzklassen an – siehe auch oben (4). Das ist von Vorteil, da sie zwar die antimigränöse Wirkung gemein haben, aber aufgrund ihrer unterschiedlichen Substanzeigenschaften ein deutlich unterschiedliches Nebenwirkungsspektrum aufweisen. Die «Minestrone-Strategie» bezieht sich auf die berühmte Suppe, die eine grössere Anzahl von Gemüsesorten in kleiner Menge enthält. Das entspricht auch dem Vorgehen in der Behandlung der Migräne: Verschiedene Substanzen verschiedener Klassen werden in eher geringer Dosierung kombiniert. Alle wirken antimigränös, sind in ihrer Gesamtheit klinisch signifikant, haben aber gänzlich unterschiedliche Nebenwirkungen, die – jede für sich – optimalerweise nicht die
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Schwelle überschreiten, über der sie die Patienten beeinträchtigen. Beispielhaft können Topiramat, diverse Antidepressiva, Magnesium und Betablocker genannt werden.
«Viel schadet viel» Die Unterscheidung zwischen Akutmedikamenten und Prophylaktika in der Migränetherapie ist auch heute noch sinnvoll. Traditionell gilt diese Unterscheidung für alle bisher als klinisch signifikant wirksam dokumentierten Substanzen. Relative Ausnahmen sind die Prophylaktika Valproat und Magnesium, die sich in der Akuttherapie zwar als statistisch signifikant wirksam erwiesen haben (5), die sich aber im klinischen Alltag wegen ihrer geringen Wirkstärke nicht durchsetzen konnten. Eine neue, zurzeit in Evaluation befindliche Substanzklasse, die CGRP-(Calcitonin-Gene-Related-Peptide)Antagonisten, könnten hier einen Paradigmenwechsel einleiten (6). Substanzen dieser Klasse wurden zunächst als Akutmedikamente entwickelt, danach als Prophylaktika getestet und hatten in beiden Indikationsarten eine Wirkung. Interessanterweise fand sich bei prophylaktischem Gebrauch kein Hinweis in den klinischen Daten, dass die tägliche Einnahme zu einer Chronifizierung führen könnte. Dies ist überraschend, da bei allen bisher zugelassenen akut wirksamen Migränemitteln ein Medikamentenübergebrauchskopfschmerz resultiert, wenn Patienten diese an mehr als 10 Tagen monatlich einnehmen.
Merkpunkte:
G Wenn ausser Migräne noch weitere Gesundheitsstörungen zu behandeln sind, erscheint es sinnvoll, die Substanzwahl so zu gestalten, dass möglichst mehrere nützliche Effekte derselben Substanz dem Patienten zugute kommen.
G Das langsame Eindosieren von Substanzen hat nahezu axiomatischen Charakter in der Pharmakotherapie der Migräne.
G In der Behandlung der Migräne kann eine Anzahl von Substanzen verschiedener Klassen in eher geringer Dosierung kombiniert werden.
G Nach wie vor gilt die Regel: keine Akutmedikamente an mehr als 10 Tagen monatlich.
G Wenn medikamentös behandelt wird, dann grosszügig und entschieden.
Derzeit gilt deshalb nach wie vor die Regel: keine Akutmedikamente an mehr als 10 Tagen monatlich – eine der wichtigsten Informationen für Migränepatienten.
«Hit hard or don’t hit at all» Die geradezu magische Zahl von 10 Behandlungstagen monatlich als Obergrenze in der Attackentherapie stellt bei häufigen Kopfschmerzen ein Problem dar. Wenn bei einem Patienten leichte bis mittelstarke Kopfschmerzen zusätzlich zu schweren Migräneattacken vorhanden sind, besteht die Gefahr, dass alle Kopfschmerzen medikamentös behandelt werden und die Therapie die Schwelle zum Medikamentenübergebrauchskopfschmerz überschreitet. Eine Strategie, um dem zuvorzukommen, ist, primär nur die schweren Attacken medikamentös zu behandeln. Ein Teil von zunächst nicht so schweren Kopfschmerzen klingt ganz von selbst wieder ab, oder eine Verschlimmerung kann durch den Einsatz nicht pharmakologischer Massnahmen abgewehrt werden. Bei Kopfschmerzen jedoch, die primär stark sind oder aufgrund ihrer Charakteristika für die betroffene Person als «sich ohne Medikamente verschlechternd» eingestuft werden, erscheint eine grosszügige Akuttherapie sinnvoll. Dies vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass nicht die Anzahl der Tabletten für die Entwicklung von Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen relevant ist, sondern die Anzahl der Einnahmetage, die gleiche Anzahl von Tabletten kann also, wenn an wenigen Tagen eingenommen, völlig unkritisch sein, aber zu einem Medikamentenübergebrauchskopfschmerz führen, wenn sie an vielen Tagen (in geringer Dosis pro Tag) genommen wird. Also: besser nicht medikamentös behandeln – aber falls notwendig, dann grosszügig und entschieden. G
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Peter S. Sandor Ärztlicher Direktor Neurologie
RehaClinic E-Mail: p.sandor@rehaclinic.ch
Referenzen: 1. Schoenen, DW. Dodick, PS Sándor. Wiley-Blackwell: Comorbidity in
Migraine. ISBN 978-1-4051-8555-4; 2011. Eds J. 2. Harriott AM, Schwedt TJ: Migraine is associated with altered proces-
sing of sensory stimuli. Curr Pain Headache Rep. 2014 Nov; 18(11): 458. doi: 10.1007/s11916-014-0458-8. Review. 3. Mulleners WM, Whitmarsh TE, Steiner TJ: Noncompliance may render migraine prophylaxis useless, but once-daily regimens are better. Cephalalgia. 1998 Jan; 18(1): 52–6. 4. Sándor PS, Dodick DW, Schoenen J: Optimal Management of Migraine Taking Into Account Comorbidities and «Positive Side Effects». In: Comorbidity in Migraine; 132–7, 2011. Eds J. 5. Silberstein SD: Preventive Migraine Treatment. Continuum (Minneap Minn). 2015 Aug; 21(4 Headache): 973–89. 6. Lipton RB, Sandor PS: Eager for better migraine therapies: keep your (telcage)PANTs on. Neurology. 2014; 83(11): 954–5.
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