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Amyotrophe Lateralsklerose: Diagnose und Therapie der häufigsten Motoneuron-Erkrankung
FORTBILDUNG
Die Diagnose der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) stellt in der Frühphase der Erkrankung eine Herausforderung dar. Für die Betreuung von ALS-Patienten ist deshalb ein multidisziplinäres Zentrum von Vorteil. Dieses ist mit den vielfältigen und häufigen Problemen vertraut und kann die Kontinuität der Behandlung gewährleisten. Neben der progressionsverlangsamenden Therapie mit Riluzol liegt der Fokus auf der symptomatischen Behandlung von Schluckstörungen, Krämpfen, pathologisch gesteigertem Speichelfluss, Laryngospasmen und der respiratorischen Insuffizienz.
Isabel Drexler Markus Weber
von Isabel Drexler und Markus Weber*
« I have motoneuron disease», sagt Stephen Hawking im Film «The theory of everything» (2014). Aber was ist gemeint mit einer Motoneuron-Erkrankung? Ist dasselbe gemeint wie mit der amyotrophen Lateralsklerose? Könnte ein Patient nicht auch etwas anderes als gerade diese fatale Krankheit haben? Und wie kann man diese Diagnose möglich früh stellen und optimal behandeln? Diese Fragen stellen sich viele Ärzte, die bei ihrem Patienten den Verdacht auf eine ALS/Motoneuron-Erkrankung haben. Werden in der Anamnese Zuckungen, Krämpfe, eine einseitige Schwäche oder auch eine «näselnde» Sprache geschildert, und zeigen sich in der neurologischen Untersuchung diffuse Faszikulationen bei gleichzeitig lebhaftem Reflexniveau, denkt man an einen Befall des ersten und zweiten Motoneurons. Aber: Welche Diagnostik braucht es, zu welchem Spezialisten schicke ich meinen Patienten?
Klinik der ALS Klinisch beginnt die Erkrankung meist mit einer distal betonten, asymmetrischen Schwäche der Extremitäten. Sind die Arme als Erstes betroffen, imponiert das Phänomen der «Split hand» (Abbildung 1), das eine Atrophie des Thenars und des M. interosseus dorsalis I (IOD I) bei gleichzeitig erhaltener Hypothenarmuskulatur bezeichnet. Sind die unteren Extremitäten als Erstes betroffen, zeigt sich meist eine einseitige Schwäche für die Fusshebung (Fallfuss). Im Fall einer bulbären Erstmanifestation (ca. 20%) ist die Veränderung der Sprache («näselnd», «wie betrunken») kennzeichnend.
*Prof. Dr. med. Markus Weber, Fachbereichsleiter Muskelzentrum/ALS clinic, Kantonsspital St. Gallen
Auch Faszikulationen und/oder Krämpfe können als Erstsymptom auftreten. Pathognomonisch ist das Nebeneinander von Zeichen des ersten und zweiten Motoneurons. Besonders imponiert dies bei der Kombination atropher Muskulatur mit lebhaften Reflexen. Die Atrophien sind anfangs fokal, bei Extremitätenbefall distal und asymmetrisch, an der Zunge sind Fibrillationen zu sehen.
Epidemiologie Die ALS ist mit einer Inzidenz von 2:100 000 und einer Prävalenz von 5 bis 9:100 000 die häufigste Motoneuron-Erkrankung; man unterscheidet zwischen einer sporadischen und einer familiären (10–15%) Form (1). Männer haben ein höheres Risiko als Frauen, an einer ALS zu erkranken (Ratio männlich – weiblich: 1,2–1,5). Während die sporadische Form zwischen dem 58. und 63. Lebensjahr beginnt, kann die familiäre Form deutlich früher auftreten (zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr) und weist eine genetische Prädisposition auf: die häufigsten Mutationen sind SOD1 und C9orf72. Der Vererbungsmodus ist meist autosomal dominant, die Penetranz sehr variabel (1). Ging man früher noch von einer isolierten Beteiligung der Pyramidenbahn im zentralen Nervensystem aus, weiss man nun, dass 20 bis 50 Prozent der ALS-Patienten eine kognitive Dysfunktion aufweisen und 5 bis 15 Prozent eine frontotemporale Demenz entwickeln (1). Diese kann mit nur sehr diskreten Anzeichen beginnen und wird im Screeningverfahren mittels Uhren- und Mini-Mental-Test nicht detektiert. Stattdessen initial sind die Spontansprache (Redefluss) und die exekutiven Funktionen (Regelung der Finanzen, Entscheidungsfindung, Zukunftsplanung, Lernen neuer Aufgaben, Benutzen von Vorrichtungen) auffällig (1). Ein einfacher Screeningtest (ECAS) steht auch in Schweizerdeutscher Version zur Verfügung (2).
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Abbildung 1: Split-hand-Phänomen: Das Split-hand-Phänomen ist eine Atrophie des Interosseus dorsalis I, des Thenars, bei eutrophem Hypothenar. Das Phänomen zeigt den vergleichsweise frühen Befall der Thenarmuskulatur im Vergleich zur Hypothenarmuskulatur an. Die ulnare Handkante ist nicht atroph, aber die dem Daumen zugewandte schon. Daher ist die Hand geteilt («Split»).
Quelle: Alle Bilder von Prof. Dr. med. Markus Weber, Fachbereichsleiter Muskelzentrum/ALS clinic, Kantonsspital St. Gallen
Diagnostik Vorrangig stützt sich die Diagnosestellung bei der ALS auf die Klinik und die Elektroneuromyografie (ENMG) als
Abbildung 2: EMG-Jiggle: Das Bild aus der elektromyografischen Untersuchung zeigt die Aufnahme des Muskels bei Willküraktivität: Die Amplitude ist erhöht, das Potenzial verbreitert und polyphysisch (mehrere Phasen/ Nulldurchgänge). Das spricht für eine chronische Denervierung. Zudem ist das Potenzial instabil, d.h. es wandert. Dies spricht für eine stattfinde Re-Innervierung, d.h. das Aussprossen von Axonen zum Muskel.
supportive Diagnostik. Ziel ist es, eine Schädigung des
zentralen und gleichzeitig des peripheren Motoneurons
in den Regionen bulbär, zervikal, thorakal und lumbal zu kennzeichnet. Dies änderte sich in den Awaji-Kriterien
detektieren. Bei der Auswahl der elektromyografisch zu von 2008 ([4], Kasten), welche die frühe Diagnose-
untersuchenden Muskeln sollte der Fokus auf der stellung erleichtern sollten.
Prüfung klinisch noch nicht betroffener Muskeln in den Hier wurde zum einen die Gleichwertigkeit der in der
Regionen spinal und bulbär liegen. Für die Diagnosestel- Elektromyografie (EMG) nachgewiesenen chronisch
lung (1) müssen folgende Punkte erfüllt sein:
neurogenen Veränderungen mit den klinischen Befun-
1. Zeichen der Schädigung des 2. Motoneurons: kli- den in der Erkennung betroffener Muskeln festgelegt (4).
nisch, elektrophysiologisch;
Als Zweites wurden Faszikulationspotenziale als Zei-
2. Zeichen der Schädigung des 1. Motoneurons: kli- chen bestehender Denervierung – analog zu Fibrillatio-
nisch;
nen und positiv scharfen Wellen – in der Muskulatur
3. Progression der Symptome und Zeichen.
anerkannt.
Da Faszikulationen auch in gesunden Muskeln zu be-
In den El-Escorial-Kriterien von 1994 ([3], revidiert 2000) obachten sind sowie in der Regel bei fokaler und gene-
wurden die Kriterien für die Differenzierung zwischen ralisierter Neuropathie (5) auftreten können, sollte das
«definitiver», «wahrscheinlicher» und «klinisch mögli- Augenmerk auf den klinischen Kontext gerichtet wer-
cher» ALS bestimmt. Damals kam der klinischen Unter- den: Sind Faszikulationspotenziale beispielsweise nur
suchung die grösste Bedeutung zu; die elektrophysio- vereinzelt in der Wadenmuskulatur präsent und fehlen
logische Diagnostik wurde als laborunterstützend ge- Zeichen der chronischen De- und Renervierung, so
Kasten:
Definition der ALS (4)
Kategorien Klinisch «definitive» ALS Klinisch «wahrscheinliche» ALS Klinisch «mögliche» ALS
1. Motoneuron klinisch oder elektrophysiologisch Bulbär + mind. 2 spinale Regionen 3 spinale Regionen In mind. 2 Regionen + rostral zu Zeichen des 2. Motoneurons 1 Region ≥ 2 Regionen
2. Motoneuron klinisch oder elektrophysiologisch Bulbär + mind. 2 spinale Regionen 3 spinale Regionen In mind. 2 Regionen (distal) 1 Region
rostral zu Zeichen des 1. MN
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deutet dies auf einen gesunden Muskel hin. Lassen sich allerdings auch in anderen Regionen (bulbär/zervikal/ thorakolumbal) Faszikulationen nachweisen und gleichzeitig Zeichen der chronischen Denervierung abgrenzen, so liegt der Verdacht auf einen generalisierten Prozess mit Schädigung des peripheren Motoneurons nahe.
Ablauf der Diagnostik und Therapie Unter Berücksichtigung oben genannter Kriterien sollte bei Verdacht auf eine ALS umgehend eine fachärztliche neurologische Vorstellung erfolgen. Der Fokus liegt dabei auf der klinischen Untersuchung und der elektrophysiologischen Testung. Zum Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen sollten eine Magnetresonanz-(MR)Untersuchung des Kopfes und der Halswirbelsäule (HWS) sowie eine laborchemische Untersuchung erfolgen.
Differenzialdiagnostik: Differenzialdiagnosen sollten sorgfältig berücksichtigt und ausgeschlossen werden. Von zentraler Bedeutung ist das Erkennen behandelbarer Ursachen. Bei der klinisch oft ähnlich beginnenden multifokalen motorischen Neuropathie (MMN) spielt die Elektroneurografie eine wichtige Rolle. Hier können die für die MMN typischen Leitungsblöcke detektiert werden. Bildmorphologisch sollte mittels MRI des Kopfes und der HWS eine zerebrale Raumforderung, Malformation oder zervikale Spinalkanalstenose ausgeschlossen werden. Untenstehend eine Übersicht zu häufigen Erkrankungen, die sich klinisch ähnlich wie die ALS (ALS-Mimics 4, 6) präsentieren können: G Zervikale (und lumbale) Spinalkanalstenose; G Multifokale motorische Neuropathie (MMN); G Kennedy-Syndrom (spinobulbäre Muskelatrophie); G Motorische Neuropathie; G Multiple Sklerose; G Benignes Faszikulations-Crampus-Syndrom.
Bei der Evaluation möglicher Differenzialdiagnosen sollte auf die Präsenz von Störungen der Okulomotorik und einer Sphinkterdysfunktion geachtet werden. Weil sie für die ALS atypisch und nur selten präsent sind, stellen sie sogenannte Red flags (1) dar. Sollte sich zusätzlich keine Progression der Symptomatik zeigen, ist die Diagnose nochmals zu überdenken. Da die Elektromyografie (insbes. bulbär) für den Patienten sehr unangenehm ist, stellt die Muskelsonografie (7) ein ergänzendes diagnostisches Tool für den Nachweis von Faszikulationen und Zungenfibrillationen dar. Durch die Messung der Echo-Intensität kann zusätzlich eine Aussage über den Grad der Schädigung klinisch betroffener Muskeln gemacht werden. Sprechen die klinisch erhobenen Befunde und die Resultate der Diagnostik nun für eine amyotrophe Lateralsklerose, sollte sowohl der Verdacht auf diese Erkrankung als auch die Diagnose dem Patienten und seinen Angehörigen frühzeitig mitgeteilt werden. Wichtig ist das Setting, in dem der Betroffene die Möglichkeit hat, Fragen zu stellen. Obwohl die Erkrankung nicht heilbar ist, sollten frühzeitig das Konzept der krankheitsverlangsamenden medikamentösen Behandlung und der symptomorientierten Therapie angesprochen werden.
Therapie Die Behandlung von ALS-Patienten stützt sich auf zwei Pfeiler: G die medikamentöse Behandlung mit Riluzol zur Ver-
zögerung der Krankheitsprogression; G die symptomatische Behandlung der bei der ALS
häufigen Problemstellungen.
Neuroprotektive Therapie: Bis dato ist nur eine die Krankheitsprogression verzögernde Substanz bekannt: Riluzol. Für die tägliche Dosis von 100 mg konnte gezeigt werden, dass das 1-JahresÜberleben um 15 Prozent verbessert und nach 18 Monaten Behandlung die Überlebensrate um 3 Monate verlängert wird (1). Riluzol ist ein Glutamatantagonist und beeinflusst die Aufnahme und Freisetzung des exzitatorischen Transmitters Glutamat, weshalb sich dessen Konzentration im extrazellulären Raum reduziert. Der genaue Wirkmechanismus ist jedoch noch nicht bekannt (8).
Symptomatische Behandlung: Trotz oder gerade wegen der (oftmals) infausten Prognose sollten die Lebensqualität und die Autonomie des Betroffenen im Vordergrund stehen. Um dies zu ermöglichen, ist die Versorgung in einem multidisziplinären Zentrum wichtig. In diesem wird eine kontinuierliche Betreuung durch auf diese Erkrankung spezialisierte und erfahrene, nicht wechselnde Fachkräfte (Ärzte, Pflegefachpersonen, Physio-, Ergotherapie und Logopädie) erreicht, und es kann individuell auf die bei der ALS häufigen Problemstellungen eingegangen werden. Dabei handelt es sich um folgende: G Respiratorische Insuffizienz: Die häufigste Todesur-
sache bei der ALS stellt die durch die Parese des Diaphragmas bedingte Aspiration und Pneumonie dar. Die Lungenfunktion muss daher in regelmässigen Abständen überprüft werden. Als objektive Parameter eignen sich die forcierte Vitalkapazität (FVC) sowie bei Lippenschwäche die Messung der SNIP (Sniff Nasal Inspiratory Pressure). Bei der Indikationsstellung für eine nicht invasive Beatmung sind ausserdem die nächtliche Pulsoxymetrie sowie die Bestimmung des Kohlendioxid-Partialdrucks (pCO2) in der morgens durchgeführten Blutgasanalyse hilfreich. In der Anamnese sollten folgende Symptome aktiv erfragt werden: Ruhe- und Sprechdyspnoe, Orthopnoe, Tagesmüdigkeit, morgendliche Kopfschmerzen, häufiges nächtliches Erwachen sowie Konzentrationsstörungen, Apathie und Mundtrockenheit. Wird die Indikation für eine nicht invasive (NIV) Heimventilation gestellt, so wird hiermit nachts begonnen. Für die nicht invasive Beatmung konnte nachgewiesen werden, dass sie das Überleben verlängert und die Lebensqualität verbessert (9). Eine bessere Toleranz der NIV-Therapie wird durch das Lösen der bronchialen Sekrete erreicht. Als Hilfsmittel eignet sich der Cough Assist, mit dem das Abhusten von Sekreten erleichtert wird (mechanische Insufflation-Exsufflation). G Anorexie und Dysphagie: Wird in der Anamnese eine Gewichtsabnahme angegeben, sollte frühzeitig eine professionelle Ernährungsberatung erfolgen. Denn
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der Gewichtsverlust stellt einen wichtigen prognostischen Faktor für das Langzeitüberleben dar (10). Im Falle einer Schluckstörung (zu Beginn oft beim Trinken von Leitungswasser auffällig) sollte eine logopädische Beurteilung mit gegebenenfalls Anpassung der Konsistenz der Nahrung forciert werden. Früh sollte die Möglichkeit einer enteralen Nutrition via perkutaner Sonde (PEG) angesprochen werden. Dabei sollte betont werden, dass diese Art der Nahrungsaufnahme dazu dient, das Gewicht zu halten, und dass eine orale Nahrungsaufnahme nach wie vor möglich ist. G Sialorrhö: Ein häufiges Problem ist der gesteigerte Speichelfluss. Hier stellt die Gabe von Amitryptilin oder Atropintropfen (0,5–1%; gut steuerbar, da kurze HWZ) eine therapeutische Option dar. Auch die Applikation von Scopalamin (Antagonist an muskarinergen ACh-Rezeptoren) in einer Dosierung von 1,5 mg jeden 2. Tag ist möglich. Bei therapierefraktärer Sialorrhö kann die Applikation von Botulinumtoxin in die Speicheldrüsen versucht werden. Bei bulbärer Manifestation ist jedoch Vorsicht geboten, da eine Dysphagie getriggert und ausgelöst werden kann. Alternativ ist eine Bestrahlung der Speicheldrüsen möglich. G Bronchiale Sekretion: Die Kombination von zähflüssigem Schleim mit Schwierigkeiten beim Abhusten ist – insbesondere bei Patienten, die bereits eine Heimventilation erhalten – häufig. Hier helfen Mukolytika (N-Acetylcysterin, Guaifenesin, Beta-Rezeptor-Antagonisten, Bronchodilatatoren: Ipratropium, Theophyllin) sowie ein Raumbefeuchter. Hilfreich ist auch der oben beschriebene Cough Assist. G Emotionale Labilität: Damit wird ein Zwangslachen/ -weinen sowie -gähnen bezeichnet. Diese pseudobulbäre Symptomatik tritt bei mindestens 50 Prozent der ALS-Patienten auf und ist häufig sozial stigmatisierend (1). Interessanterweise korreliert dies nicht mit der Kognition. Therapeutisch helfen Antidepressiva, welche die Serotoninwiederaufnahme hemmen (SSRI: Amitryptilin, Escitalopram, Fluvoxamin). G Krämpfe: Diese sind vor allem zu Beginn der Erkrankung vorhanden und führen aufgrund der nächtlichen Akzentuierung zu Schlafstörungen. Dagegen helfen Chininsulfat sowie Tetrahydrocannabinoid (THC). G Laryngospasmen: Gegen Laryngospasmen hilft die Applikation von Lorazepam sublingual in einer Dosis von 0,5 bis 2,5 mg. Sollten diese länger andauern, kann Morphin in 2,5-mg-Dosen subkutan appliziert werden. G Insomnie und Fatigue: Zur Behandlung der Schlafstörung eignen sich Amitryptilin und Zolpidem. Als Wachmacher bei extremer Tagesmüdigkeit kann Modafinil versucht werden. G Spastik: Stehen klinisch die Zeichen des zentralen Motoneurons im Vordergrund, ist oft eine Spastik vorhanden. Diese kann medikamentös (Gabapentin, Tizanidin, Memantin, Dantrolen, Tetra- und Diazepam, Cannabis), physikalisch und invasiv mittels einer intrathekalen Baclofenpumpe oder fokal mit Botulinumtoxin behandelt werden. G Depression und Angst: Eine reaktive Depression ist oft zum Zeitpunkt der Diagnosestellung und im terminalen Stadium präsent. Hier sollte dem Betroffe-
nen eine medikamentöse Therapie mit einem SSRI
(z.B. Escitalopram), Amitryptilin oder Mirtazapin an-
geboten werden. Für eine rasche anxiolytische Wir-
kung eignen sich Benzodiazepine (Lorazepam,
Diazepam).
Um die symptomatische Behandlung zu gewährleisten
und neu auftretende Probleme anzusprechen und zu
behandeln, sind dreimonatliche Kontrollen in einem
multidisziplinären Zentrum notwendig. Dieser Zeitab-
stand kann sich zum Zeitpunkt der Diagnosestellung
und im terminalen Stadium verkürzen. Wichtig sind be-
reits zu Beginn der Einbezug des sozialen Umfelds (Fa-
milie, Freunde) und das Klären von Fragen und
Befürchtungen («Ersticke ich irgendwann?») des Betrof-
fenen. Der Erhalt der Autonomie sowie der Fähigkeit zur
Kommunikation stellen – besonders bei bulbärem Be-
ginn – zentrale Ziele dar. Mittels Sprachcomputer sowie
E-Mail-Verkehr und dem Verwenden von Applikationen
auf einem Tablet («ALS help») kann trotz fortgeschritte-
ner bulbärer Sprache die Kommunikation gesichert
werden.
Frühzeitig sollte auch die Möglichkeit einer Patienten-
verfügung angeboten werden, in der die Wünsche des
Betroffenen festgehalten werden können.
Abschliessend ist zu betonen, dass – trotz der (fatalen)
Diagnose «Motoneuron-Erkrankung»/ALS (Ice-bucket-
Krankheit) – eine Krankheitsverzögerung möglich ist
und die Lebensqualität des Betroffenen an vorderster
Stelle steht.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. univ. Isabel Drexler
Assistenzärztin Muskelzentrum/ALS clinic
Kantonsspital St. Gallen
Greithstrasse
9001 St. Gallen
E-Mail: Isabel.Drexler@kssg.ch
Merkpunkte:
G Ziel ist die frühe Diagnosestellung. G Klinik und Elektrophysiologie sind massge-
bend für die Diagnose. G Die Awaji- und El-Escorial-Kriterien dienen der
Differenzierung zwischen «definitiver», «wahrscheinlicher» und «klinisch möglicher» ALS. G Differenzialdiagnosen, sogenannte «ALS-Mimics», sollten sorgfältig erwogen und ausgeschlossen werden. G Therapeutisch liegt der Fokus auf der neuroprotektiven Behandlung mit Riluzol und der symptomatischen Behandlung von bei ALS häufigen Problemen. G Die respiratorische Insuffizienz stellt die häufigste Todesursache da und muss daher detektiert und behandelt werden. G Essenziell sind das Screening von Dysphagie und das Vermeiden von Gewichtsverlust.
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Literatur:
1. Andersen et al.: EFNS guidelines on the Clinical Management of Amyotrophic Lateral Sclerosis (MALS) – revised report of an EFNS task force, Eur J Neurol. 2012 Mar; 19(3): 360–75.
2. Burkhardt C.: The Edinburgh Cognitive and Behavioural Amyotrophic Lateral Sclerosis Screen: A cross-sectional comparison of established screening tools in a German-Swiss population. Amyotrophic Lateral Sclerosis and Frontotemporal Degeneration 2014; Early Online: 1–8.
3. Brooks BR.: El Escorial World Federation of Neurology Criteria for the diagnosis of amyotrophic lateral sclerosis. J Neurol Sci 1994; 124(Suppl): 96–107.
4. De Carvalho et al.: Electrodiagnostic criteria for diagnosis of ALS. Clinical Neurophysiology 119 (2008) 497–50.
5. Kimura J.: Electrodiagnosis in diseases of nerve and muscle. Oxford: Oxford University Press; 2001, pp. 79.
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7. Arts et al. Muscle ultrasonography: a diagnostic tool for amyotrophic lateral sclerosis. Clin Neurophysiol. 2012 Aug; 123(8): 1662–7.
8. Oscar et al.: Riluzole increases glutamate uptake by cultured C6 astroglial cells. International Journal of Developmental Neuroscience Volume 31/7, November 2013, Pages 482–486.
9. Lo Cocco et al.: The amyotrophic lateral sclerosis functional rating scale predicts survival time in amyotrophic lateral sclerosis patients on invasive mechanical ventilation. Chest 2007; 132: 64–69.
10. Marin et al.: Alteration of nutritional status at diagnosis is a prognostic factor for survival of amyotrophic lateral sclerosis patients. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2011; 82: 628–634.
11. Caroline et al.: Risk factors for amyotrophic lateral sclerosis. Clin Epidemiol. 2015; 7: 181–193.
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